8- Sonnensplitter

8- Sonnensplitter

Der Mond schien hell auf die Große Ebene herab. In wenigen Nächten würde wieder Vollmond sein. Die Versammlung des Rudels würde allerdings ohne sie stattfinden. Inzwischen hatten sie einen Teil der Großen Ebene erreicht, die die Wölfe nicht einmal bei einer großen Jagd erreichten. Sechs Nächte waren Endres, Jonata und Alba nun schon unterwegs und jetzt führte Alba die drei Wölfe an. Sie hatten die alten Lager des Rudels der Dunkelheit und des Rudels des Lichts aufgespürt und auch die Gegenstände gefunden, die sie für Jylge suchen sollten.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass selbst in diesem Winkel der Großen Ebene früher einmal Wölfe gelebt haben", bemerkte Jonata. Die drei Wölfe liefen hintereinander, um sich einen einigermaßen leichten Weg durch das Gras zu bahnen, das selbst Endres überragte. „Wie viele Wölfe gab es? Wo sind die alle hin?", fuhr Jonata fort. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Feuer so viel vernichten konnte."

Endres erinnerte sich an die Geschichte, die er gehört hatte, als er noch neu im Rudel war. Sie handelte von der Entstehung des Rudels, das jetzt in der Nähe des Klosters lebte. Früher gab es, auf und um die Große Ebene, mehrere Rudel von Wölfen. Bei einem Waldbrand waren große Teile des Lebensraums vernichtet worden, die Beute blieb aus und die Kriege, die die Wölfe führten, brachten nur noch mehr Unheil.

Schließlich zogen einige Wölfe in die Berge, wo das dort lebende Rudel den Brand ohne Schäden überstanden hatte. Doch die Berge konnten so viele Wölfe nicht nähren. Laut der Überlieferung starben die Wölfe bei einem Steinschlag. Nur die Wölfe, die auf der Großen Ebene ausharrten, konnten bis heute überleben. Seitdem gab es nur noch ein einziges Rudel, das jedoch das gesamte Gebiet für sich beanspruchte.

Während der Großen Reise mussten die Wölfe das riesige Revier durchqueren, um nach ihrer Rückkehr zu vollwertigen Mitgliedern des Rudels ernannt zu werden. Eine besondere Aufgabe der Großen Reise bestand jedoch nicht nur darin, sich den Weg zu merken, sondern auch aus jedem Gebiet, in dem früher eines der Rudel gelebt hatte, einen Gegenstand mitzubringen. Zwei Gegenstände hatten sie schon gefunden.

Einen Zapfen mit Samen in Form von Pfoten und ein Stück Rinde, das ebenfalls einem Pfotenabdruck ähnelte. „Wäre es nur ein kleines Feuer gewesen, wäre es doch nicht so weit gekommen", antwortete Alba. „Es hatte seit Nächten nicht geregnet, bei so großer Trockenheit breitet sich ein Feuer schnell aus."

„Die Zeit muss für die Wölfe echt schlimm gewesen sein", überlegte Jonata. „Hätten sie sonst so gehandelt, dass es sie im Nachhinein alle vernichtet?" „Vielleicht hatte das alles seinen Grund", sagte Endres. Jonata, die vor ihm lief, warf ihm über die Schulter einen Blick zu. „Wie meinst du das?" „Im Leben geschieht nichts ohne Grund", erklärte Endres. „Wo hast du das denn her?", fragte Alba von der Spitze.

„Ich habe es mal Georig sagen hören", meinte Endres. Das entsprach jedoch nicht der Wahrheit. Eigentlich hatte ihm das Bruder Paulus erklärt, doch Endres wusste, dass er das auf keinen Fall verraten konnte. „Ich denke, er hat Recht", ergänzte er. „Das Rudel der Sterne hatte bestimmt einen Grund. Sonst hätten sie den Wölfen doch geholfen." „Welcher Grund sollte das denn gewesen sein?", wollte Jonata wissen. Endres überlegte. „Jylge hat mir einmal erzählt, dass die Rudel früher sehr strenge Regeln hatten", begann er seine Erklärung. „Wer diese nicht befolgte, musste mit schweren Strafen rechnen."

„Warum hat er uns das nie erzählt?", wollte Jonata wissen und schien fast eine wenig beleidigt. „Weil...", Endres zögerte mit seiner Antwort. „Eine der Regeln besagte zum Beispiel, dass nur das Leitwolfpaar Welpen bekommen durfte. Warf eine andere Wölfin Junge, wurden diese entweder vertrieben oder..." „...umgebracht?", ergänzte Alba fassungslos und sog die Luft ein.

„Ich hoffe, ich bin euch damit nicht zu nahe getreten", sagte Endres. Plötzlich knurrte Jonata und blieb stehen. Mit einem Satz wirbelte sie zu Endres herum. „Willst du also damit sagen, dass wir keine richtigen Wölfe sind?" „Nein, das habe ich doch nicht behauptet", verteidigte sich Endres. Er kannte Joantas und Albas Vergangenheit. Allerdings dachte er, dass die beiden diese inzwischen verkraftet haben.

„Wir wurden von unseren Eltern getrennt", knurrte Jonata leise. „Eben weil sie nicht die Leitwölfe unseres Rudels waren. Hast du einmal darüber nachgedacht, was das für uns bedeutet hat? Wir waren kaum so alt, dass wir Beute fangen konnten. Gerade so konnten wir überleben, bis wir zum Rudel gekommen sind. Da hat man uns aufgenommen." „Das ist doch auch gut so", sagte Endres.

„Eigentlich dachten wir, dass man uns endlich akzeptiert", meinte Jonata wütend. „Doch das ist anscheinend nicht so! Jetzt müssen wir uns noch vom großen Helden verurteilen lassen." Sie machte kehrt und raste blindlings davon. „Jonata, warte, Endres hat es doch nicht so gemeint", rief Alba und eilte seiner Schwester hinterher. Endres blieb alleine zurück. Traurig senkte er den Kopf und sah zu Boden. Was hatte er Falsches gesagt?

Hätte er diese Regel lieber nicht erwähnen sollen? Doch warum schweigen, wenn sie der Wahrheit offen ins Gesicht sehen mussten? So wie Jylge es beurteilt hatte, war es gut, dass die grausamen Zeiten vorbei waren. Diese Grausamkeit kannte keine Grenzen und das Leben war vor allem für rangniedrige Wölfe schwer. Jylge war stolz darauf, dass jeder so leben konnte wie er es wollte. Warum reagierte Jonata nur so?

Es verletzte Endres, dass sie ihn wieder als den großen Helden bezeichnet hatte, der er nicht war und nicht sein wollte. Eigentlich dachte er, sie hätten das geklärt. Doch anscheinend nahm ihm Jonata das immer noch übel. Endres sah zum Sternenhimmel hinauf. „Warum?", fragte er leise. „Warum muss ausgerechnet mir das passieren?"

Aber die Sterne funkelten weiter vor sich und hin und schienen ihm keine Antwort geben zu wollen. Endres wand den Kopf in alle Richtungen. Kein Wind wehte, das hohe Gras stand starr und reglos da. Endres beschlich das Gefühl, von allen verlassen zu sein. Kein Laut war zu vernehmen, nicht einmal eine Maus, die am Boden entlang trippelte. Endres musste sich beeilen, wenn er Alba und Jonata noch einholen wollte.


Er legte sich hin. Das Gewicht drückte das Gras platt und ergab so einen weichen Untergrund. Darauf achtete Endres nicht. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Noch immer war es Nacht und er hatte sie nicht gefunden. Allmählich kam er sich vor wie gefangen, als einziges Lebewesen in einem zeitlosen Raum. Endres war ihren Spuren gefolgt, doch schon bald hatte er sie verloren. Er musste nachdenken.

Es brachte ihm nichts, wenn er weitere Stunden durch das Gras irrte und sich verlief. Jegliche Orientierung war ihm abhandengekommen. Er konnte nur den Sternenhimmel über sich sehen, sonst war er nur von diesen dünnen, hohen Stängeln umgeben, die ihm jede Sicht nahmen. Er wusste nicht, aus welcher Richtung er kam und in welche Richtung er gehen sollte. Müdigkeit überkam ihn, aber er sagte sich, dass er jetzt nicht schlafen konnte. Er musste Jonata und Alba finden.

Was, wenn ihnen etwas zugestoßen war? Er musste sie einfach finden. Eine Bewegung am Himmel erregte seine Aufmerksamkeit. Endres richtete den Blick zum Himmel. Ein heller Streifen zog über den Himmel und schien auf die Erde zu fallen. Ihm folgten weitere. Alle dieser hellen Streifen fielen in eine Richtung. War das ein Zeichen des Rudels der Sterne? Wiesen ihm die herabfallenden Sterne die Richtung, in die er gehen sollte? Endres stand auf. Er musste es versuchen. Wenn er hier herumlag und sich den Kopf zerbrach, brachte ihn das auch nicht weiter. Warum nicht also dieser kleinen Hoffnung nachgehen?

Schnell lief er los und preschte durch das Gras. Die Stängel peitschten ihm ins Gesicht, doch er ignorierte sie. Immer wieder sah er hinauf. Gerade eben fiel wieder ein Stern vom Himmel. Er war auf dem richtigen Weg. Waren diese hellen Streifen wirklich herabfallende Sterne? Konnten Sterne wirklich vom Himmel fallen? Schon oft hatte er sich gefragt, was es mit den Sternen auf sich hatte. Was waren sie? Sonnensplitter, die auch in der Nacht da waren, um ein bisschen Licht in die Dunkelheit zu bringen?

Er hoffte einfach, dass sie ihm den Weg weisen würden. Ein Weg, der unendlich lang schien. Endres fühlte sich, als würde er auf der Stelle laufen. Er kam nicht voran, das hohe Gras wollte einfach kein Ende nehmen. Vor Verzweiflung hätte er aufheulen können. Immer wieder sah er hinauf zum Himmel. Schon länger hatte er keine herabfallenden Sterne mehr gesehen. War das ein Zeichen, dass er vom richtigen Weg abgekommen war? Oder dass er seinem Ziel nahe war? Ohne darüber nachzudenken, lief Endres einfach weiter.

Er beschleunigte seine Schritte und wurde schneller, als würde er von etwas angezogen. Bald preschte er durch das Gras. Plötzlich wurde es niedriger und Endres fühlte sich nicht mehr so eingeengt. Als das Gras auf einmal endete, bremste er ab und blieb stehen. Wie eine Wand standen die dunklen, dünnen Gewächse hinter ihm. Er war dem Irrgarten entkommen. Erleichtert schickte er einen Dank gen Himmel, bevor er den Blick wieder nach vorne richtete. Vor seinen Pfoten lag eine kleine Wiese, nicht weit von ihm plätscherte ein Fluss vor sich hin. An den Ufern standen kleine Bäume und Büsche.

Endres war froh, endlich etwas Anderes zu sehen als das ewig dünne, hohe und dichte Gras. Langsam trottete er zum Fluss. Seine Kehle war staubtrocken und er musste unbedingt etwas trinken. Vorsichtig näherte er sich dem Ufer und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Das Wasser war glasklar. Der Himmel spiegelte sich in der glatten Oberfläche, auf der sich nicht mehr als ein paar winzige Wellen kräuselten.

Endres erinnerte sich an den kleinen Teich auf der Großen Ebene. Als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte, war das Wasser genauso glasklar gewesen. Trotzdem war er in eine endlose Tiefe gefallen, als er das Gleichgewicht verloren hatte und in den Teich hineingefallen war. Misstrauisch beäugte er den Fluss. „Nimm dich in Acht", raunte plötzlich eine Stimme neben ihm. Endres fuhr zähnefletschend herum.

„Wer ist da?", fragte er. Aber es antwortete ihm niemand. Langsam ließ Endres den Blick über seine Umgebung schweifen. Es war alles genau wie vorher. Hatte er sich die Stimme nur eingebildet. „Kleiner Wolf, du brauchst nicht zu knurren", meldete sich diese Stimme erneut. „Ich sehe dich, aber du siehst mich nicht."

„Wo bist du?", fragte Endres. „Ich will dich auch sehen." Ein Windhauch strich seinen Pelz, als sich eine Eule auf den kleinen Stein neben ihm setzte. Sie legte die Flügel an den Körper. „Fürchte dich nicht", sagte sie. „Wer bist du?", wollte Endres wissen. „Man nennt mich Sonnensplitter, weil in meinem Federkleid lauter kleine, helle Sprenkel sind", erklärte die Eule. Ein Stich durchfuhr Endres. Sonnensplitter. War dieses Wort nicht in seinen Gedanken gewesen? Hatte es eine Bedeutung oder war es schlicht Zufall?

„Nun kleiner Wolf, wer bist du? Warum bist du alleine hier draußen? Es kommt nicht oft vor, dass sich ein Wolf an diesen Ort verirrt", sprach Sonnensplitter. „Ich... ich bin Endres", stellte sich der Wolf vor. „Bist du auf der Großen Reise?", fragte die Eule und sah ihn mit schiefgelegten Kopf an, als würde sie nachdenken. „Ja, aber ich bin nicht alleine. Zwei andere Wölfe sind mit mir unterwegs. Allerdings habe ich sie verloren", erklärte Endres. „Nun lass nicht die Route hängen", versuchte ihn Sonnensplitter aufzumuntern. „Du findest sie wieder. Wenn euch der Leitwolf diese Aufgabe nicht zutrauen würde, hätte er euch nicht losgeschickt."

„Woher weißt du das?", fragte Endres misstrauisch. „Ich weiß viel", erklärte die Eule. „Das Volk der Eulen ist ein sehr schlaues Volk." Stolz plusterte sie ihr Gefieder auf. „Das Volk der Eulen?", wiederholte Endres. „Mein lieber Endres", begann Sonnensplitter. „Auf dieser Welt kann man doch alles einteilen. Es gibt verschiedene Tageszeiten. Es gibt Bäume mit Nadeln und Bäume mit Blättern. Es gibt Menschen, die zusammen in Dörfern leben. Es gibt Wölfe, die in Rudeln zusammenleben. So gibt es auch Eulen-Völker. Eine riesige Eulengemeinschaft, die gemeinsam das Wissen dieser Welt sammelt, damit es nicht in Vergessenheit gerät."

„Ihr lebt also genauso zusammen, wie wir es im Rudel tun?", schlussfolgerte Endres. „Du hast es erfasst", stimme ihm Sonnensplitter zu. „Alleine könnten wir gar nicht überleben. Wir schließen uns zusammen und passen uns an. So ist es für jeden einfacher." „Gab es deswegen so viele verschiedene Rudel auf der Großen Ebene?", fragte Endres. „Genau. In jedem Rudel lebten Wölfe, die jedoch unterschiedlich an ihren Lebensraum angepasst waren. Auch wir Eulen unterscheiden uns. Auch wenn wir alle Flügel haben und fliegen können, gibt es doch Eulen, die das Leben auf dem Boden bevorzugen", sprach Sonnensplitter. „Ihr seid auf den Spuren der vergangenen Zeiten, richtig?"

„Die vergangenen Zeiten", wiederholte Endres leise. „Das ist alles schon so lange her. Dennoch wissen wir genauestens darüber Bescheid." „Du irrst, Endres", erwiderte Sonnensplitter. „Was ihr über die vergangenen Zeiten zu wissen scheint, ist letztendlich nur Schall und Rauch. Es ist gut, dass diese Zeiten vorbei sind."

„Diese Wölfe waren grausam, nicht wahr?" „Genau das waren sie." Der Wolf und die Eule schwiegen sich an. „Was soll ich tun?", fragte Endres schließlich. „Wenn ich Jonata und Alba nicht wiederfinde, können wir unsere Aufgabe nicht erfüllen."

„Ich habe flussaufwärts einen Wolf gesehen", gab Sonnensplitter bekannt. „Vielleicht ist es einer deiner Gefährten?" „Warum sagst du mir das nicht?", fragte Endres. „Ich habe dir die ganze Zeit den Weg gewiesen. Du hast mich nur nicht bemerkt", erklärte Sonnensplitter. „Ich wünsche dir viel Glück auf deiner weiteren Reise, junger Endres."

Sie breitete ihre Flügel aus, stieß sich ab und erhob sich in die Lüfte. Kurz darauf hatte Endres sie aus den Augen verloren. Flussaufwärts hatte Sonnensplitter gesagt. Langsam, eine Pfote vor die andere setzend, ging er los. Das Gespräch mit Sonnensplitter hatte ihn verwirrt. Was wollte die Eule damit erreichen? Warum hatte sie ihm all das erzählt?

Endres schüttelte sich. Sonnensplitter wusste, wo er Jonata und Alba finden konnte. Nur das zählte. Er begann zu rennen, entgegen dem Fluss. Vielleicht würde er die beiden bald finden. Dann konnten sie endlich die Große Reise fortsetzen. Doch Sonnensplitters Worte, es waren so viele gewesen, wollten ihm trotzdem nicht aus dem Kopf gehen.



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top