21- Licht und Schatten
21- Licht und Schatten
Sie schafften es doch nicht, bei Sonnenuntergang im Lager zu sein. Als es dunkel war, beschlossen sie, noch einmal zu schlafen, anstatt die Nacht durch zu laufen. Endres konnte vor Aufregung kaum Schlaf finden. Unruhig wälzte er sich umher. Zu viele Gedanken jagten ihm durch den Kopf, was wohl nach ihrer Rückkehr passieren würde. Am liebsten wäre er jetzt gleich weitergelaufen, aber er musste Sonnensplitter Recht geben. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie wieder zu Hause waren, da konnten sie auch noch ein paar Stunden schlafen. Zumindest wollten sie es versuchen, doch im Gegensatz zu Endres waren Jonata, Alba und Sonnensplitter schnell eingeschlafen.
Er bewunderte die Eule. Normalerweise waren diese Tiere nachtaktiv und mieden es, bei Tageslicht etwas zu unternehmen. Auch die Wölfe verbrachten die meiste Zeit am Tag mit Schlafen und wurden erst gegen Abend aktiv. Die Große Reise hatten sie jedoch zum größten Teil am Tag hinter sich gebracht. Selbst, wenn sowohl Eulen als auch Wölfe nachts gut sehen konnten, waren sie irgendwann dazu übergegangen, am Tag zu wandern. So konnten sie den Weg, den sie nur aus den Erzählungen der anderen kannten, besser bewältigen.
Für Sonnensplitter war es bestimmt besonders schwer gewesen, wenn das viele Licht nicht sogar schädlich für ihn war. Seine Augen waren es gewöhnt, bei Nacht zu sehen, wenn sie sich anstrengen mussten, weil es nur wenig Licht gab. Doch Sonnensplitter hatte sich nie beschwert, Endres konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine Klage von der Eule vernommen zu haben. Sie hatte ihnen immer Mut zugesprochen und sie aufgeheitert. Auch war die Eule dafür verantwortlich, dass sie den Bergwölfen heil entkommen waren, weil Sonnensplitter die Idee mit der Weisen Wölfin gehabt hätte.
Endres hatte sich schon bei der ersten Begegnung bei den Bergwölfen darüber gewundert, wie Sonnensplitter auf die Idee gekommen war. Warum er sich überhaupt für die drei Wölfe verantwortlich fühlte und seit seiner Begegnung auf der Wiese mit dem hohen Gras nicht mehr von ihrer Seite gewichen war. Hatte Sonnensplitter gespürt, dass da etwas im Argen war? Endres wusste, dass Eulen ein besonderes Gespür für bestimmte Dinge hatten, warum sollte Sonnensplitter dann nicht auch gespürt haben, dass diese Wölfe Hilfe brauchten? Endres wusste nicht, was ihnen passiert wäre, wenn Sonnensplitter nie ihren Weg gekreuzt hätte. Säßen sie jetzt immer noch bei den Bergwölfen fest?
Oder hätten sie Jonata nie wiedergefunden und würden jetzt noch auf der Großen Ebene umherirren, sich gegenseitig suchend? Endres vermutete, dass die Bergwölfe sie nur so lange geduldet und versorgt hatten, wie sie der Lüge mit der Weisen Wölfin geglaubt hatten, was bis zum Schluss der Fall war. Glaubten die Wölfe wirklich an so etwas wie Magie oder Zauberei, dass es Wesen gab, die in die Zukunft sehen konnten?
Man konnte schließlich nicht wirklich sagen, ob es etwas wie Magie gab oder nicht. Dass aber Wölfe, die an die Vorhersagen einer verwirrten Wölfin glaubten, einen Krieg anzettelten, wollte Endres nicht begreifen. Auf der einen Seite waren sie so leichthörig und gefügig, geradezu dümmlich und auf der anderen Seite konnten sie, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Rudelkameraden töten, weil er sich nicht an die Regeln gehalten hatte.
Endres überlegte schon einmal, wie sie Jylge die Geschichte verständlich schilderten. Es war so viel passiert und alles war möglicherweise wichtig für das, was ihnen, wohl oder übel, in naher oder ferner Zukunft, bevorstand. Die Bergwölfe würden kommen, da war sich Endres ganz sicher. Nur, wann? Warteten sie noch, um ihren Plan bis in den letzten Winkel auszufeilen? Daran glaube Endres nicht wirklich, dafür stürzten sich die meisten Wölfe zu blindlings in den Kampf, sobald nur der Befehl eines höheren Wolfes erfolgte.
Oder waren die Bergwölfe sogar schon unterwegs und folgten ihnen? Dann würde es keine zwei Tage mehr dauern, bis sie im Wald angekommen waren. An das, was ihnen dann drohte, wollte Endres noch nicht denken. Irgendwann würde er es tun müssen und dann gab es kein Zurück mehr. Er hoffte nur, dass die anderen Wölfe ihre Geschichte nicht infrage stellten. Alles, was sie erzählten, hatten sie zwar mit eigenen Augen gesehen, aber sie konnten es nicht beweisen. Die Gegenstände, die die Wölfe auf der Großen Reise sammeln sollten, dienten als solche Beweise, weil es sie in ihrer besonderen Art nur an den Orten gab, an die die Wölfe reisen mussten.
Es gab schon immer Wölfe im Rudel, die Endres feindselig gesinnt waren. Garantiert würden die Wölfe dann richtig Stunk machen, wenn sie erfuhren, dass er, Alba und Jonata die Große Reise nicht aufgabengemäß erfüllt hatten. Sie mussten einfach darauf vertrauen, dass Jylge, Geras und Duretta ihnen Glauben schenkten.
Die ersten Sonnenstrahlen drangen über den Rand des Horizonts. Ein zartes Rosa breitete sich am Himmel aus und verdrängte die Dunkelheit der Nacht. Endres war sofort wach, er hatte doch etwas geschlafen. Er weckte Jonata und Alba, Sonnensplitter wurde von selbst munter. Sie liefen sofort weiter. Mit einer Jagd hätten sie sich jetzt nur unnötig aufgehalten.
Als sie schon etwas Weg hinter sich gebracht hatten, sagte Jonata: "Ich kenne diesen Teil des Waldes. Er kommt mir bekannt vor. Anthoni ist mal mit Alba und mir zum Jagen hergegangen. Damals war es für uns unbekanntes Gebiet, aber jetzt erkenne ich es wieder." "Das ist doch ein gutes Zeichen", stimmte Sonnensplitter zu. "Das heißt, dass wir bald da sind."
Diese Worte beschleunigten ihre Schritte noch einmal zusätzlich. Sonnensplitter flog dicht über ihnen. Der Sonnenaufgang breitete sich immer weiter aus und als die Sonne über den Horizont stieg, tauchte sie den Wald in ein warmes Licht. Sie liefen dem Sonnenaufgang entgegen, bis schließlich auch Alba und Endres den Wald wiedererkannten. "Es würde mich wundern, wenn wir jetzt noch auf eine Patrouille treffen", sagte Alba.
Endres sah sich um. Er sah die Bäume, zwischen denen er am Anfang mit Geras immer Jagen geübt hatte. Damals hatte er sich unglaublich dumm und ungeschickt angestellt und die anderen Wolfe hatten sich schon über ihn lustig gemacht. Inzwischen war er zwar immer noch etwas tollpatschig und plump, aber damals nahm er sich vor, das Jagen zu lernen und erbittert zu üben. Die Große Reise stellte nun den Abschluss der Ausbildung dar. Oder war es wirklich das Ende? Standen sie nicht erst am Anfang einem viel größeren Ereignis, das weitaus bedeutender war als die Große Reise?
Die letzten Schritte rannten sie. Der Geruch der anderen Wölfe stieg ihnen in die Nase und das Lager wurde sichtbar. Die drei Wölfe preschten auf ihr Zuhause zu. Als sie im Lager zum Stehen kamen, schauten sie die anderen Wölfe, die sich gerade zum Schlafen bereitmachten, erstaunt an. Dann realisierten sie erst, wer gerade ins Lager geprescht war. Freudig begrüßten die anderen Wölfe Endres, Jonata und Alba.
Sie wurden mit Fragen bestürmt, doch sie wussten, dass sie zuerst Jylge Bericht erstatten mussten, bevor sie den anderen etwas erzählen durften. In ihrem Fall war es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sie davon erfuhren. Alarmiert von dem Tumelt, kam Jylge aus seiner Höhle. Erst wollte er wütend knurren, was los war, als er sah, dass die Jungwölfe wieder da waren. Freudig sprang er zu ihnen herunter, die anderen Wölfe machten ihrem Anführer Platz. "Ihr seid wieder da", begrüßte er die drei. "Ich heiße euch herzlich willkommen zurück."
"Wir freuen uns auch wieder zurück zu sein", erwiderte Jonata den Gruß. Inzwischen hatte sich das gesamte Rudel draußen versammelt, Peternella war aus ihrer Höhle getreten und Duretta und die Welpen waren Jylge gefolgt. "Wo habt ihr denn meinen Beutel?", fragte Peternella nach. Endres wusste, dass jetzt der unangenehme Teil kam.
"Den haben wir unterwegs verloren", erklärte er. Die Wölfe rundherum sogen erschrocken die Luft ein. "Wir können euch leider keinen einzigen Gegenstand vorlegen", ergänzte Alba. "Das...das ist noch nie vorgekommen", stotterte Jylge. Er hatte von keinem Fall gehört, dass die Wölfe ihre Aufgabe auf der Großen Reise nicht erfüllen konnten. Dementsprechend wusste er nicht, wie er jetzt handeln sollte.
"Diese drei Wölfe haben einen guten Grund dafür", schaltete sich in diesem Moment Sonnensplitter ein. Bis eben hatte sich die Eule im Hintergrund gehalten. "Wenn ich mich vorstellen darf: Sonnensplitter, der Dritte. Gelehrter und Wandernder von der Fernen Küste." "Sei gegrüßt, Sonnensplitter", antwortete Jylge verwirrt. Er war mit der Situation überfordert. Vor ihm standen die drei Wölfe, von denen er ausgegangen war, dass sie die Große Reise ohne Probleme bewältigen konnten. Anscheinend war etwas grundlegend schiefgelaufen. "Den Grund würden wir gerne hören", sagte Peternella. "Es kam noch nie vor, dass ein Wolf ohne einen einzigen Gegenstand von der Großen Reise wieder heimkehrte."
"Folgt mir bitte", sprach Jylge zu den drei Wölfen und Sonnensplitter. Sie gingen in die Höhle des Anführers, die Mentoren und die Heilerwölfin folgten ihnen. Die Sonne war inzwischen ganz aufgegangen und leuchtete das Lager aus, das zu diesem Zeitpunkt eigentlich schlafen sollte. Stattdessen wartete das gesamte Rudel, dass Jylge wieder aus seiner Höhle trat und die Dinge erklären würde. Aufgeregt tuschelten die Wölfe, stellten Vermutungen an, was geschehen sein könnte. Es musste einen guten Grund dafür geben, sonst grenzte das, was sich Jonata, Alba und Endres leisteten, an einen großen Skandal.
Doch sie glaubten nicht, dass die Wölfe schlichtweg nicht in der Lage gewesen waren, die Große Reise zu bewältigen. Es verging viel Zeit, bis Jylge wieder aus der Höhle trat. Keiner der Wölfe war schlafen gegangen. Der Anführer sprach mit fester Stimme zu seinem Rudel: "Ich weiß, ihr möchtet so schnell wie möglich Antworten auf eure Fragen. Die werdet ihr auch bekommen, aber im Moment möchte ich nur noch eine Sache bekannt geben, die mir sehr am Herzen liegt. Wir werden die Zeremonie um Mitternacht am Mondsee durchführen!"
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