16- Boten der Kälte

16- Boten der Kälte

Endres konnte immer noch nicht glauben, was er da gerade gesehen hatte. Die Wölfe hatten ein Rudelmitglied umgebracht und ein anderes schwer verwundet, weil es sich nicht an die Regeln gehalten hatte. Er konnte die Handlung einfach nicht nachvollziehen. So viele Wölfe gegen einen. Waren sie froh, dass nicht sie die Opfer waren und diejenigen, die um ihr Leben fürchten mussten? Waren sie wirklich so grausam, wenn es um ihre Regeln ging? Anscheinend ja. Endres wurde das flaue Gefühl im Magen nicht los, dass sie hier in Gefahr waren und so schnell wie möglich wegmussten. In Gedanken versunken legte er sich hin.

Sein Blick fiel auf Jonata, die ihn aus dunklen Augen anstarrte. Sofort war Endres wieder im Hier und Jetzt. „Du bist aufgewacht!", rief er aufgeregt und stand wieder auf. Jonata hob den Kopf. „Wo bin ich? Was ist passiert?", fragte sie. Sonnensplitter kam angeflogen, er hatte Endres Aufruf gehört.

„Das lässt sich alles erklären", sagte er und landete vor ihr. „Wer bist du denn?", wollte Jonata wissen. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Pfoten waren noch schwach und wollten sie nicht tragen. „Wie gesagt, es lässt sich alles erklären", wiederholte Sonnensplitter. Endres bewunderte die Eule, wie sie in aller Kürze erzählen konnte, was passiert war, ohne dabei etwas Wichtiges auszulassen oder zu viel und durcheinander zu erzählen.

Er war sich sicher, dass Jonata ihm hätte nicht folgen können, wenn er es ihr erklären sollte. Die Wölfin sah die Eule ungläubig an. Es fiel ihr anscheinend schwer, die Informationen zu verarbeiten. „Ich soll dem Anführer der Wölfe eine Prophezeiung ausgesprochen haben?", fragte Jonata erstaunt. „Warum das? Ich kann mich an nichts erinnern." „Du warst schwer verletzt, als ich dich gefunden habe", antwortete Sonnensplitter.

„Wenn dein Körper versucht, gegen eine Krankheit anzukämpfen und Wunden zu heilen, wird er heiß, was man Fieber nennt. In diesem Zustand kann es auch sein, dass der Kopf nicht mehr in der Lage ist, klar zu denken und einen wirres Zeug träumen oder ganz und gar sagen lässt. So hast du Nachtschatten vorhergesagt, dass er all seine Ziele erreichen wird." „Das... das kann doch gar nicht sein", murmelte Jonata. Sie schaffte es, sich aufzusetzen und blickte unruhig in der Höhle hin und her. „Deswegen halten mich die Wölfe für eine Wahrsagerin? Weil ich im Fieber etwas zu ihrem Anführer gesprochen habe?"

„Daran bin wohl ich schuld", gab Sonnensplitter zu. „Endres und Alba waren noch auf der Suche nach dir und mir war von Anfang an nicht wohl bei den Bergwölfen. Also habe ich ihnen diese Lüge erzählt, denn sonst hätten sie einem kranken Wolf bestimmt nicht geholfen."

„Wie soll es jetzt weitergehen?", fragte Jonata. „Wenn wir schon einige Nächte hier sind, hätten wir doch schon längst wieder zu Hause sein sollen. Stattdessen befinden wir uns irgendwo weit abseits von unserem Weg."

„So weit abseits befinden wir uns gar nicht", erwiderte Endres. „So wie es aussieht, ist das hier die Gegend, wo früher das Rudel der Berge gelebt hat. Wir sind also immer noch auf dem Weg der Großen Riese, nur ist diese bei weitem nicht so verlaufen, wie sie sollte." Da fiel ihnen auch wieder der Streit ein, der sie getrennt hatte. Er lag jetzt schon wieder so lange zurück, dass Endres nicht wusste, ob es sich lohne, ihn noch einmal zu erwähnen. Doch anscheinend erinnerte sich Jonata daran.

„Es... es tut mir leid, was ich gesagt habe", meinte Endres leise. „Wenn ich mich recht erinnere, war ich ja diejenige, die so reagiert hat. Eigentlich müsste ich mich entschuldigen", erwiderte sie. „Wäre ich nicht so wütend geworden, wäre es nicht so weit gekommen. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen."

„Ich bin jedenfalls froh, dass es dir wieder besser geht", stimmte Endres ihr zu. „Ich auch", pflichtete ihm Alba schnell bei. „Anscheinend haben wir jetzt weitaus größere Probleme", vermutete Jonata. „Wie soll es weitergehen?"

„Wir müssen von hier so schnell wie möglich weg", erklärte Sonnensplitter. „Diese Wölfe bedeuten eine große Gefahr für alle. Wir müssen die anderen warnen, so schnell es geht." „Meinst du unser Rudel?", fragte Alba. „Genau das meine ich", antwortete die Eule. „Hier hat früher das Rudel der Berge gelebt, die nach dem Waldbrand von den anderen Wölfen ausgebeutet wurden, welche wiederum durch einen Steinschlag alle ihr Leben verloren. Aber anscheinend ist es eben nicht so, dass alle dabei umgekommen sind.

Einige müssen überlebt haben, denn sonst würde hier kein so großes Rudel existieren. Sicher gibt es auch anderswo noch Wolfsrudel, aber nachdem, was ich über die Lebensweise der früheren Wölfe der Großen Ebene erfahren habe, scheinen das hier ihre direkten Nachfahren zu sein."

„Nach ihren Plänen wollen sie womöglich die alte Ordnung auf der Großen Ebene wiederherstellen", überlegte Alba. „Was sollten sie sonst planen?" „Das ist ja schrecklich", murmelte Jonata. Endres malte sich schon aus, wie die Bergwölfe ihre Pläne durchsetzen. So gesehen waren es gar keine Bergwölfe, sondern die Vorfahren der Wölfe, die Endres kannte. Sie stellten somit auch einen Teil seiner Vergangenheit dar. Das machte ihm noch mehr Angst.

Die Waldwölfe würden sich nicht einfach so ergeben und ihr Leben komplett verändern, nur, weil ein paar Nachfahren von seit Monden totgeglaubten Wölfen wieder auftauchten. Leider waren es nicht nur ein paar, sondern ein Rudel, das mehr als doppelt so viele Wölfe zählte wie das Rudel im Wald. Wie sollten sie da eine Aussicht auf einen Sieg haben, wenn es zum Kampf kam? Die Bergwölfe waren grausam und kannten keine Gnade. Was sich vorhin am Beutehaufen abgespielt hatte, war das beste Beispiel.

„Wir müssen so schnell wie möglich weg, um die anderen zu warnen", stieß er hervor. „Wir brauchen die Zeit, um einen Plan zu schmieden, wie wir gegen die Bergwölfe ankommen können." „In Anbetracht der Anzahl an Wölfen braucht man da sehr viel Zeit", stimmte ihm Sonnensplitter zu. „Dann sollten wir so schnell wie möglich aufbrechen", meinte Jonata. „Nein, meine Kleine. Das geht leider nicht", erwiderte die Eule.

Die Wölfin wollte etwas sagen, aber Sonnensplitter hielt ihr den Flügel vor die Nase. „Überlegt doch mal: wenn wir jetzt so vollkommen überstürzt aufbrechen, denken die Bergwölfe, dass der Mord von vorhin uns dazu bewegt haben könnte. Außerdem brauchen wir eine Erklärung, warum die Weise Wölfin wieder bei Bewusstsein ist. Ich bin mir sicher, dass Nachtschatten uns nicht ohne eine weitere Prophezeiung gehen lässt. Du musst weiterhin so tun, als wärst du... na sagen wir mal, etwas verrückt."

„Das dürfte nicht so schwer sein", sagte Jonata. „Wir brauchen noch mindestens zwei Tage. Du musst deine Kräfte sammeln, auf dem Weg zurück dürfen wir keine Zeit verlieren", führte die Eule ihre Ausführungen fort. „Außerdem müssen sich Alba und Endres noch so vielen Patrouillen wie möglich anschließen, um die Umgebung zu erkunden. Wir können nicht denselben Weg zurücknehmen. Ich habe den Fehler begangen und den Bergwölfen gesagt, dass wir eh durch die Berge reisen wollten. Um eben das zu tun, müssten wir aber in genau die entgegengesetzte Richtung gehen, in die wir eigentlich wollen. Wir brauchen also einen Weg, der uns zuerst in die Berge führt, aber dann zurück zur Großen Ebene."

„Wir sollen also den Patrouillen folgen, um einen möglichen Weg zu finden?", schlussfolgerte Endres. Sonnensplitter nickte zufrieden. „Ich werde mit Nachtschatten reden, dass wir ihn bald verlassen. Wir müssen uns für seine Gastfreundschaft bedanken. Immerhin konnte Jonata nur durch seine Kräuter gesundwerden und von der Betue haben wir auch immer etwas abbekommen."

„Die dann nicht mehr für andere gereicht hat", meinte Endres niedergeschlagen. „Das können wir nicht ändern. Vielleicht war es ein Zeichen, das uns bestärkt hat, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden", versuchte Sonnensplitter eine Erklärung. „Wer weiß, wie lange wir womöglich sonst noch hiergeblieben wären."

Endres seufzte. Jede seiner Pfoten brannte förmlich darauf, diese Höhle zu verlassen und nie wiederzukehren. Sie würden ihn wieder nach Hause tragen, dort, wo er hingehörte und wo er das drohende Unheil verhindern konnte. Was sollte er hier tun? Anscheinend hatte Alba ähnliche Gedanken. „Und wenn Jonata ihm die Prophezeiung ausspricht, dass er seinen Plan nicht umsetzen soll, sondern alles so bleiben muss?", schlug er vor. „Das könnte ich machen", pflichtete Jonata ihrem Bruder sofort bei. „Die Worte würden mir da bestimmt auch leichter über die Lippen kommen als Nachtschatten sagen zu müssen, wie toll er ist und wie mächtig er sein wird. So wie ihr erzählt, muss er ein ekliges Exemplar von Wolf sein."

„Die Idee ist gut", stimmte die Eule zu, aber anhand des Tonfalls wussten die Wölfe, dass noch ein aber hinterherkommen würde. „Aber Nachtschatten ist schon so von seinem Plan überzeugt, dass er an nichts Anderes mehr denken kann, außer eben diesen Plan endlich umzusetzen und sein Ziel zu erreichen. Es ist unmöglich, dass ihn jemand umstimmen kann. Nicht einmal die Weise Wölfin wird das schaffen."

„Man könnte es schließlich probieren", hoffte Jonata. „Dann würde er Verdacht schöpfen. Es würde sich mit deiner ersten Prophezeiung widersprechen. Das macht dich nicht weise, sondern unglaubwürdig. Verstehst du? Wir müssen das Spiel jetzt wohl oder übel noch zu Ende spielen, bevor wir hier wegkommen. Manchmal muss man eben lügen, um voran zu kommen. Anders geht es nicht. Ich würde auch liebend gerne etwas Anderes sagen, da ich auch die Große Ebene kenne und sie schon seit Monden so ist.

Was die Bergwölfe daraus machen wollen, wäre ein Rückschritt", erzählte Sonnensplitter. Auch wenn Endres sich innerlich dagegen sträubte, hatten die Worte der Eule doch etwas Wahres an sich. Sie mussten von hier weg, um die Wölfe im Wald überhaupt warnen zu können. Wenn sie dafür aber die Rolle der Weisen Wölfin und ihrer Begleiter weiterspielen mussten, dann konnten sie nicht anders.

„Wie wollen wir jetzt weiter vorgehen?", fragte Alba. „Jonata wird sich, wenn sie sich hier in der Höhle befindet, erholen. Sonst muss sie weiter die Weise Wölfin mimen. Ihr, Alba und Endres, versucht durch die Jagdpatrouillen herauszufinden, wo sich Wege befinden könnten. Schließt euch so vielen Patrouillen an, wie nur möglich. Aber passt trotzdem auf, dass ihr euch nicht zu sehr verausgabt. Wenn ihr den Weg kennt, aber keine Kraft habt, ihn zu laufen, dann bringt es uns nichts."

Die drei Wölfe stimmten ihm zu. „Ich werde jetzt gleich mit Nachtschatten reden. Endres, du kommst mit mir, Alba, du passt auf Jonata auf", bestimmte die Eule. Endres folgte ihr aus der Höhle, als plötzlich ein Bergwolf davorstand. Sonnensplitter plusterte vor Schreck sein Gefieder auf. „Was machst du hier?", fragte er unwirsch. Der Wolf schien verwirrt. „Ich wollte nur fragen, ob ihr Beute haben möchtet. Es ist nicht mehr viel da, die Jagdpatrouillen brechen bald auf", erklärte er schüchtern.

„Wir nehmen das, was da ist. Wir haben keine besonderen Wünsche", antwortete Sonnensplitter kurz und knapp. „Wie lange stehst du schon hier?" „Ich... ich habe nichts gehört... ehrlich", antwortete der Wolf. „Ich bin gerade eben erst gekommen." „Das will ich dir glauben", meinte die Eule, „aber lass dir gesagt sein. Wer die Weise Wölfin belauscht, wird bis an das Ende seines Lebens großes Unglück haben. Das kannst du nicht gebrauchen." Der Wolf nickte und machte auf dem Absatz kehrt, um zurückzustürzen.

„Ich hoffe wirklich, dass er uns nicht belauscht hat", wisperte Sonnensplitter Endres zu. „Wenn er das den anderen erzählt, sieht es schlecht für uns aus. Wir müssen unsere Rollen um jeden Preis weiterspielen." Er breitete die Flügel aus und stieß sich ab. „Ich warte am Großen Stein auf dich", erklärte er. Endres machte sich auf den Weg nach unten. Als er dort ankam, bemerkte er die kühle Luft, die von draußen hereinzog. Sie war kälter als sonst. Endres blieb stehen und starrte nach draußen. Kleine, weiße Körner rieselten zu Boden. Boten der Kälte.



Die kleinen, weißen Körner machten auch Jylge sorgen. Gedankenverloren starrte der Leitwolf von seinem Höhleneingang aus in den Himmel. Wolkenverhangen, aus denen die Flocken herabrieselten. Der Mond kam zwischen ihnen hervor und ließ den Schnee leuchten. Pfotenschritte näherten sich. „Was gibt es, Geras?", fragte Jylge. „Ich mache mir Sorgen. Ein so früher Schneeschauer ist ungewöhnlich. Hoffen wir, dass es dabeibleibt. Einen Wintereinbruch können wir noch nicht gebrauchen.", antwortete Geras. Der Leitwolf sah ihn eindringlich an. „Du bist nicht hier, um über das Wetter zu sprechen."

„Es geht um Endres, Alba und Jonata", antwortete Geras. „Du weißt, dass sie schon längst wieder hier sein könnten." „Das weiß ich", stimmte ihm Jylge zu. „Es muss etwas passiert sein", vermutete Geras. „Das spüre ich. Etwas stimmt nicht. Die drei Wölfe gehören nicht zu denen, die sich Zeit lassen. Sie möchten ihre Aufgaben so schnell und so gut wie möglich erledigen. Meines Erachtens nach hätten sie schon vor zwei Nächten wieder hier ankommen müssen." „Zwei Nächte Verspätung sind nicht viel", meinte der Leitwolf. „Es gibt keine Regel, die besagt, wie lange die Große Reise dauert. Jeder Wolf braucht so lange, wie er es für nötig hält. Vielleicht haben sie Schwierigkeiten, einen der Gegenstände zu finden. Der Pfad der Großen Reise verändert sich. Wer weiß, was aus den alten Lagern geworden ist, ob es sie überhaupt noch gibt. Sie werden ihre Aufgabe schon gut machen."

„Das redest du dir doch ein", widersprach Geras. „Jylge, ich kenne dich schon zu lange und ich weiß, dass du dir das vormachst, um nach außen hin stark zu erscheinen. Dabei denkst du doch genau in die andere Richtung." „Ich hätte wissen müssen, dass du mich durchschaust", gab Jylge zu. „Du hast recht. Ich hoffe, nein, ich bete zum Rudel der Sterne, dass Alba, Endres und Jonata bald wiederkommen und ihre Große Reise hinter sich haben. Insgeheim weiß ich aber, dass sie etwas aufhält. Ich denke nicht einmal, dass sich einer von ihnen verletzt hat und sie deswegen länger brauchen. Das wäre kein Hindernis für sie. Es muss etwas Anderes sein. Etwas, das noch kein Wolf von uns gesehen hat. Das bereitet mir Kopfzerbrechen. Ich habe bei der letzten Versammlung am Mondteich einen Traum erhalten, der mir Angst macht, der mich geradezu einschüchtert. Das Rudel der Sterne hat nicht genau gesagt, was kommen wird, aber etwas bahnt sich an. Weißt du noch, was ich damals zu euch gesagt habe?"

„Ich kann es nicht wortgenau wiedergeben, aber du sagtest, dass eine Kälte kommt, die wir so noch nicht erlebt haben, dass sie uns ganz und gar vernichten könnte", antwortete Geras. Jylge nickte nachdenklich. „Und das ist es, was mir Sorgen macht", erklärte er. „Inzwischen bin ich mir sicher, dass damit kein strenger Winter gemeint ist. Der Schnee wird kommen, wie jedes Jahr und es wird auch kalt sein, aber das kennen wir bereits. Wir sind es gewohnt, mit wenig Beute auszukommen und uns warm zu halten. Aber gegen die Kälte, von der das Rudel der Sterne gesprochen hat, wird es nicht ausreichen, sich dichter aneinander zu drängen. Wir werden stark sein müssen und lange wird es nicht mehr dauern, bis es soweit ist. Mit Alba, Endres und Jonata werden wir erfahren, was uns bevorsteht. Aber wir werden es nicht aufhalten können."

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