Zimtsterne zum Verlieben (6/10)

Unglücklicherweise begann es mitten auf der Fahrt zu schneien. David hatte den Scheibenwischer angeschaltet, doch Vienne klammerte sich trotzdem nervös an den Griff, weil sie ihre Umgebung nur unscharf sah. Sie kannte die Gegend nicht. Sie hatten die Stadt verlassen und in einen Wald gesteuert, wo sie vorher noch nie gewesen war. Das Weiß umhüllte sie wie ein Schleier aus Ungewissheit.

"Sicher, dass wir richtig sind?", fragte sie, während ein Saxofon-Solo aus der Musikanlage spielte.

"Ich fahre den Weg seit Jahren und würde ihn mit geschlossenen Augen erkennen", beruhigte David sie. Doch die Art, wie er mit zusammengekniffenen Augen aus der Scheibe starrte, bewirkte das Gegenteil.

Vienne fragte sich zum wiederholten Mal, warum sie sich darauf eingelassen hatte. Dass es sich lohnen würde, zeigte sich erst zehn Minuten später, als sie ankamen.

Das Auto ruckelte, als es im Schnee zum Stehen kam. David schaltete den Motor aus. Ohne Musik wurde es plötzlich ruhig, fast zu ruhig. Als Stadtmensch war Vienne das stetige Rauschen der Straßen und Menschen gewohnt. Doch hier herrschte Stille. Sie konnte sogar ihren Herzschlag hören.

David sah sie erwartungsvoll an. Vorfreude funkelte in seinen Augen, wie Vienne es von Kindern an Weihnachten kannte, wenn sie ihre Geschenke auspacken durften.

Sie wischte ein Guckloch in die beschlagene Scheibe und offenbarte mehr Schnee. "Wo sind wir?", fragte sie neugierig.

"Komm mit."

Der Schnee knirschte leise unter ihren Schuhen. Es klang fast so, als würde sie über Luftpolsterfolie laufen. Vienne konnte nicht anders, als zu grinsen.

In ihrer Ablenkung bemerkte sie nicht, dass David verschwunden war. Erst als sie stehen blieb und keine Schritte neben sich hörte, blickte sie auf. Sie war allein.

"David?" Viennes Stimme klang einsam im Wald. Sie drehte sich verwirrt im Kreis.

Ein Klicken ertönte. Viennes Kopf schoss herum.

Funkelndes Licht einer Lichterkette ließ den Baum neben ihr erstrahlen, als wäre ein Regenbogen in den Winterwald gefallen. Die Kette bildete eine Silhouette - ein Baumhaus!

"Gefällt es dir?"

Vienne entdeckte David neben einem kleinen Kasten am Stamm. Er lächelte zufrieden.

"Wow!" Vienne trat mit großen Augen zurück, um das magische Bild in seiner vollen Wirkung wahrzunehmen.

Doch David war noch nicht fertig. Er grinste und lief ein Stück weiter in den Wald, wo er wieder vor einem Baum stehen blieb. Dieses Mal erkannte Vienne das Baumhaus sofort.

"Das ist der Wahnsinn!", rief sie, als weitere Lichter aufleuchteten und bunte Funken auf den Schnee leuchteten, sodass die beiden Baumhäuser wie funkelnde Paläste schimmerten. "Hast du sie selbst gebaut?"

"Ja." David trat neben sie, sein Blick ruhte stolz auf den Bäumen. Stolz und ... ruhig. Ausgeglichen. "Wann immer ich Zeit habe, komme ich hierher und baue weiter. Im Winter kann ich wenig machen, nur die Häuser innen einrichten. Willst du sie von innen sehen?"

Vienne war viel zu fasziniert, um sich Gedanken über die vereiste Leiter zu machen. Sie nahm Davids Hand und er half ihr nach oben. Sie fühlte sich, als wäre sie selbst ein Kleinkind zu Weihnachten, das mit staunenden Augen die Welt neu betrachtete.

"Es ist wunderschön." Der Raum innen war klein. Einige Stühle und ein kleiner Tisch zierten die eine Seite, auf der anderen war eine Sitzbank mit einem kuscheligen Lammfell und Kissen. Daneben stand ein Regal mit Figuren und Spielzeug und ... "Hey, sind das deine Eltern?"

David drehte den Kopf abrupt um. Er langte nach dem Bilderrahmen und kippte ihn mit dem Foto nach unten auf den Tisch. "Ja."

"Oh." Vienne wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Hätte sie lieber nichts gesagt. Die Magie war nämlich genauso umgekippt.

David merkte es ebenfalls. Er versuchte, die verschwundene Wärme wieder aufzubauen. "Bisher sind es zwei fertige Baumhäuser, das dritte habe ich angefangen. Es soll eine ganze Anlage werden, wie ein Ferienlager", begann er zu erzählen. Er ging einige Schritte durch den Raum und breitete die Arme aus. "Stell dir vor, wie es hier ist, wenn der Sommer kommt. Kinder verbringen hier Zeit, spielen gemeinsam und abends gibt es ein Lagerfeuer, wo alle zusammen Lieder singen und einfach ... eine zeitlose Zeit haben."

Vienne nickte langsam. "Das klingt wirklich schön", sagte sie. "Du magst Kinder sehr, oder? Lehrer, Ferienlager, ..."

Davids Lippen zuckten zu einem Lächeln. "Wie gesagt, ich will einen positiven Einfluss in ihrer Kindheit geben. Nicht alle kommen aus glücklichen Verhältnissen und manchmal sind es solche Momente - wie sie hier entstehen sollen - die alles verändern."

"Bei dir auch?" Es war nicht beabsichtigt gewesen, die Worte waren einfach aus Viennes Mund gekommen. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. Aber Vienne hatte die Puzzleteile verbunden - das umgedrehte Foto, seine Vision und sein Verhalten - und einfach Rückschlüsse gezogen. "Tut mir leid", murmelte sie.

"Schon okay." David zuckte mit den Schultern. Er holte Luft. "Ja. Ein Lehrer hat mich inspiriert. Und die Idee mit den Baumhäusern kam aus einem Film. Aber wir sind nicht hier, um irgendwelche Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen. Willst du etwas anderes sehen? Ein paar Bäume weiter hängt eine Seilbahn und auch wenn es kalt ist, glaube ich, dass es lustig wird."

"Auf jeden Fall", stimmte Vienne mit einem Lächeln zu.

Sie ließen die Vergangenheit hinter sich. Während sie den jetzigen Moment genossen und auf der Seilbahn lachten, kam Vienne die Zeit tatsächlich zeitlos vor.

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