Die letzte Magie des Sommers
"... wenn der Sommer zerfällt zu Staub,
verschwindet unterm bunten Laub,
schwindet auch des Sommers Kraft,
hüte dich vor der Winternacht!"
Evelyn wurde von einem lauten Klingeln aus den Gedanken gerissen. Sie sprang zur Seite, als ein Fahrrad quietschend über das nasse Laub an ihr vorbeiraste. "Rechts laufen!", tönte es noch aus der Ferne zu ihr, die Worte verklangen im ersten kühlen Wind des anbrechenden Herbstes.
Evelyn starrte dem Fahrradfahrer erschrocken hinterher, bevor sie nach unten sah. Durch das viele Laub sah sie den Boden kaum. Als sie mit ihrem Stiefel einige Blätter zur Seite schob, erkannte sie, dass sie tatsächlich zu weit links gelaufen war.
"Kein Grund sich aufzuregen", murmelte sie und trat zurück auf den Fußweg. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Musik verstummt war. Die leisen Klänge, die sie geleitet hatten, waren verschwunden.
Das Mädchen fasste sich ans Ohr. "Mein Kopfhörer!"
So viel dazu, dass Bluetooth Kopfhörer praktisch seien, wie ihre Freundin vorgeschwärmt hatte. Sie hatte nur einen getragen, um aufmerksam im Straßenverkehr zu bleiben (was gut geholfen hatte, wie sie gesehen hatte), und er musste beim Ausweichen rausgefallen sein. Evelyn tastete ihren Schal ab, dann den Boden.
"Du warst neu, komm, zeig dich!" Ihre Finger glitten über die Blätter - sanftes Rot, Gelb-Grün und erstes Braun. Doch sie fand nur Kastanien, nicht ihren nagelneuen weißen Kopfhörer.
Seufzend tastete Evelyn nach ihrem Handy und drehte die Lautstärke der Musik hoch. Es war ein simpler Klavierklang, das Gedicht hatte sie sich passend zum Rhythmus ausgedacht. Oder hatte sie es schon mal gehört? Die Verse waren ihr bekannt vorgekommen, doch sie wusste nicht woher.
Die Blätter auf dem Boden waren ein herbstlich-schöner Anblick - bis Evelyn entdeckte, was sich darunter verbarg.
Es war nicht ihr Kopfhörer.
Ihre Finger verharrten auf der Stelle, als hätte der erste Frost sie unerwartet überfallen und ihre Bewegung eingefroren.
"Huch?"
Evelyn schob weitere Blätter weg, um das schwarze Etwas besser zu sehen. War da ein Loch mitten auf dem Fußgängerweg? Ein perfekt rundes Loch, wie ein Kaninchentunnel zwischen den Steinen? Das war doch gefährlich! Was, wenn jemand dorthin trat und sich versehentlich den Fuß brach?
Bei ihrem gelegentlichen Glück wäre das nicht unwahrscheinlich.
"Und bei aller Wahrscheinlichkeit bist du bestimmt da reingefallen, oder?", murmelte sie zerknirscht.
Eine Kastanie fiel knallend vom Baum und platzte aus ihrem stacheligen Gefängnis heraus, um die herbstliche Freiheit zu begrüßen. Evelyn dagegen verzog das Gesicht und wünschte sich den Sommer zurück. Ein Sommer voller Freiheit, Ferien, Wärme und Musik. Doch als Antwort wehte nur ein frischer Wind durch ihr braunes Haar.
Und der Wind wehte ein Blatt zur Seite. Es trudelte direkt in das Loch - aber statt hineinzufallen, blieb es oben drüber liegen, als würde es schweben.
Evelyn runzelte die Stirn. War das nur ein Bild von einem Loch? Doch sie sah Blätter weiter unten im Kaninchentunnel. Eine Eichel fiel mit einem dumpfen Ton hinein und verschwand in der endlosen Tiefe aus ihrem Blickfeld.
Nur das eine braune Blatt schwebte wie ein seltsames Herbstmysterium über dem Loch.
Evelyn wollte es nicht. Doch sie konnte nicht widerstehen, so neugierig war sie. Sie merkte erst, dass sie die Luft anhielt, als sie das Blatt berührte und es nach unten drückte. Der Untergrund - dort wo sie das Loch sah - war fest. Undurchlässig. Sie schob das Blatt beiseite und berührte nur zur Sicherheit das Loch im Boden erneut mit der bloßen Hand. Plötzlich durchfuhr sie eine prickelnde Welle aus Wärme.
Als sie verstand, dass es keine gute Idee gewesen war, war es bereits zu spät.
Evelyn kippte nach vorne und ihre Welt kippte aus den Angeln. Die bunten Blätter verschwammen zu einem Kaleidoskop aus Farben und das Loch saugte sie ein, als wäre sie Alice aus Alice im Wunderland.
Obwohl Evelyn schreien wollte, kam kein Ton aus ihrem Mund - denn sie hatte keine Angst. Das Einzige, was sie in der wirbelnden Dunkelheit spürte, war die verschwundene Wärme des vergangenen Sommers, die sie in eine andere Welt entführte.
~ ~ ~
Evelyn schlug die Augen auf. Ein Vogel zwitscherte. Pollen killerten in ihrer Nase. Und der Blütenduft ... oh, wie sie ihn vermisst hatte! Der sanfte Geruch nach Pfingstrosen, die zart von Tautropfen benetzt waren.
Irritiert setzte sie sich auf. Das dämmrige Licht schien ihr ins Gesicht, sodass sie eine Hand über ihre Augen hielt. Trotzdem nahm sie ihre Umgebung erst nach einigen Malen Blinzeln wahr.
"Wo bin ich?", hauchte sie andächtig und kam auf die Beine. Sie war in einer unterirdischen Höhle. Mit ihren Stiefeln fühlte sie sich im frischen grünen Gras fehl am Platz und auch die Wärme umhüllte sie mit einer solchen Geborgenheit, dass sie ihre Jacke nicht brauchte.
Es war ein Paradies - der letzte Ort, wo noch Sommer während der sonst kälter werdenden Jahreszeit herrschte.
Ein Schmetterling flog an ihrem Ohr vorbei und Evelyn folgte ihm in die Mitte der Lichtung. Ein gigantischer Baum stand dort. Schimmernde Lichtfunken tanzten um die bunten Knospen und Blumen, als würden sie magnetisch angezogen werden. Evelyn berührte den hauchzarten Strom. Dieselbe Wärme, die sie beim Fall gespürt hatte, durchströmte sie.
Die Funken kamen von den Rändern der Höhle zum Baum geschwebt. Dort waren hunderte kleine Löcher, als würde sie im Inneren eines Schweizer Käses stehen.
"Das sind dieselben Löcher wie das gerade eben im Boden", stellte sie irritiert fest.
Ein Rascheln ließ sie erschrocken herumfahren.
Sie war nicht mehr alleine. Hinter ihr stand ein Wesen. Ein Satyr. Sie hatte einst Bilder in einem Buch gesehen. Seine langen Ziegenbeine waren mit zartem Moos umwachsen und an seinen Hörnern sprossen Blumen und Pilze hervor.
Er hielt seine goldene Lanze auf Evelyn gerichtet. "Wer bist du?"
Evelyn starrte ihn mit offenem Mund an - nicht nur, weil sie ihren Augen kaum glauben konnte, sondern auch, weil er auf magische Weise wunderschön war. Er sah aus, als hätte jemand ihn gemalt und jeden einzelnen Strich bestehend aus Sommer und Herbst mit größter Behutsamkeit gesetzt.
Er runzelte die Stirn, als sie nicht antwortete. "Bist du hier, um den Sommer zu stehlen?"
"Was?", war das Einzige, was sie hervorbrachte.
Der Satyr behielt sie mit schmalen Augen im Blick. Als sie sich bewegte, stieß er die Spitze seiner goldenen Lanze in den Boden.
Efeuranken erhoben sich aus dem Boden und flogen um Evelyn herum, mit Abstand, bis sie verharrten und ein kugelrundes Gefängnis um sie herum bildeten. Evelyn sprang nach vorne und versuchte noch ihren Arm hindurch zu strecken, doch die Ranken wurden nur dichter und fester.
Der Satyr kam näher - anmutig und skeptisch. "Warum bist du hier?", verlangte er zu wissen. "Hier ist noch nie ein Mensch gewesen. Willst du die letzte Magie des Sommers stehlen?"
"Nein!" Evelyn versuchte ihre vernebelten Gedanken zu ordnen. Träumte sie? Sie drehte sich um, damit er ihre Verwirrung nicht sah. "Ich wurde von so einem komischen Loch eingesaugt ..."
Ihre Stimme brach. Sie hatte nur ihren Kopfhörer gewollt.
Auf einmal senkten sich die Efeuranken. Ihr Gefängnis löste sich auf und zog sich in den Boden zurück.
"Eingesaugt?" Der Satyr näherte sich. "Interessant."
Evelyn biss sich auf die Lippe und sammelte sich. "Wo bin ich?", fragte sie.
"Bei der Quelle des Sommers."
Das hatte er schonmal gesagt. "Ich verstehe nicht."
Der Satyr wirkte nicht mehr skeptisch, eher neugierig. "Der Herbst ist eine besondere Zeit", begann er. "Es ist der Übergang, wo sich die Magie des Sommers zurückzieht, bevor die Kälte kommt. Bäume ziehen ihre Kraft aus den Blättern zurück, sodass sie abfallen. Die Natur möchte ihre Kraft in Sicherheit bewahren und behütet sie deshalb unter der Erde - hier." Er deutete zum magischen Baum, der die Glitzerfunken voller Wärme, die aus den Löchern an den Höhlenwänden hierher strömten, magnetisch anzog und sammelte.
"Klingt sinnvoll", gab Evelyn leise zu.
"Dieses 'Loch', wie du es nennst, ist ein Sammelportal, falls die Natur es nicht geschafft hat, alle Magie einzusaugen, bevor die Blätter und Früchte abgefallen sind. Die Portale sind nur durchlässig für Sachen, die noch die Magie des Sommers in sich tragen. Sie bringen sie hierher, in Sicherheit, bevor sie im Frost vergehen."
Er sah sie mit aufmerksamen Augen an. Evelyn sah mit genauso großen Augen zurück. War das der Grund gewesen, warum das Portal für das braune kraftlose Blatt undurchlässig gewesen war? Weil es keine Magie mehr in sich trug?
"Und ...", begann sie zögerlich und vergrub ihre Hände tief in ihren Taschen. "Warum bin ich hier?"
"Sag du es mir."
Im stillen Strudel aus Fragen war plötzlich wieder der Klavierklang präsent. Nicht hörbar, aber greifbar in ihren Gedanken. Das Gedicht kam ganz von selbst.
"Wenn der Sommer zerfällt zu Staub,
verschwindet unterm bunten Laub,
schwindet auch des Sommers Kraft,
hüte dich vor der Winternacht!", sagte sie.
Die Vögel verstummten. Der Satyr stützte sich auf seine goldene Lanze und lehnte sich näher. "Woher kennst du das?"
"Das habe ich mir ausgedacht?" Es klang wie eine Frage.
"Interessant."
"Interessant? Mehr willst du nicht sagen? Moment, wo gehst du hin?"
Evelyn stampfte dem magischen Wesen hinterher, wobei er mit seinen kräftigen Ziegenbeine deutlich schneller und eleganter war. Er sprang über eine schrankdicke Wurzel des magischen Baumes, als wäre es ein kleiner Stein, während Evelyn mühsam drüber klettern musste.
Kaum war sie darüber, bekam sie eine Prise Staub ins Gesicht.
Sie hustete und prustete und spuckte den Staub aus. "Was soll das?"
Als sie die Augen öffnete, war der Satyr direkt vor ihr. Er musterte sie. "Interessant."
"Wow, danke." Evelyn stemmte die Hände in die Seite und wollte gerade weiterreden, als ihr ein Leuchten auffiel. Sie betrachtete ihre Finger und ihren Körper. Das Leuchten kam von ihr.
Es war dasselbe wie die magischen Ströme, die aus den Löchern zum Baum flossen. Jetzt war das warme Gefühl, das sie gespürt hatte, sichtbar. Es rief sie. Wie hypnotisiert drehte sie sich zum Baum. Seine Blätter schimmerten. Sein Stamm leuchtete. Er bewahrte die Magie.
Evelyn wollte zu ihm. Sie wollte den Herbst nutzen, um sich hierher zurückzuziehen und den Winter über hier zu sein, um dann im Frühling wieder neu aufzutauchen und aufzublühen.
"Nicht so eilig." Zwei Hände legten sich sanft auf ihre Schultern und zogen sie zurück in die Wirklichkeit. Der Satyr stand hinter ihr, so nah, dass sie die kleinen Pilze zwischen seinen Wimpern sehen konnte. "Der Herbst ist zwar eine Zeit der Entscheidung und du trägst etwas in dir, was es zu bewahren gilt, aber das solltest du dir gut überlegen. Du bist ein Mensch, und soweit ich weiß, seid ihr winterfest."
Evelyn blinzelte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie direkt neben den gigantischen Stamm getreten war und ihre Hand erhoben hatte.
Sie wich zurück und der Satyr trat beiseite, um ihr Raum zu geben. Er holte Luft. "Wenn der Sommer zerfällt zu Staub,
verschwindet unterm bunten Laub,
schwindet auch des Sommers Kraft,
hüte dich vor der Winternacht!"
Doch er war noch nicht fertig. Das Gedicht ging weiter.
"Sonst wirst du die Magie verlieren,
im ersten Frost wird sie erfrieren.
Drum tauche ein, geh nicht weit,
der Herbst bringt dich in Sicherheit!
Ein farbenfrohes Heim voll Glück,
und im Frühjahr kehrst du zurück."
Evelyn schwieg, denn die Bedeutung der Worte konnte sie nur in der Stille erfassen. "Und was tue ich jetzt?"
"Was willst du jetzt tun?"
"Ich weiß es nicht."
Der Satyr ließ sich auf einer dicken Wurzel nieder und sah sie nachdenklich an. "Du könntest nach Hause gehen", schlug er vor und seine Ohren zuckten.
"Aber ... was ist mit der Magie?", wollte Evelyn irritiert wissen und wunderte sich im selben Moment, ob alles nicht doch ein Traum war. Sie kniff sich in den Arm, doch sie wachte nicht auf. Das war real.
Plötzlich musste sie lachen, so absurd war das. "Ich soll einen Funken der Magie des Sommers in mir tragen? Das klingt so ..." Sie gestikulierte, doch ihr fiel kein passendes Wort ein, um den Satz zu vollenden.
Der Satyr sah sie voller Ruhe an. "Richtig?", schlug er vor und Evelyn stockte. Der Satyr stand auf. "Auch wenn du nicht glauben kannst, dass es richtig klingt, dann weißt du doch, dass es sich richtig anfühlt. Du hast es gespürt. Der Baum hat dich gerufen."
Evelyn stieß Luft aus - lange. "Ja", gab sie schließlich zu. "Also muss ich herausfinden, was das für Magie ist und sie hierlassen?"
"Nicht sofort, aber ja. Du kannst nach Hause gehen und sobald du herausgefunden hast, was du bewahren willst, kommst du wieder. Die Portale des Herbstes stehen die gesamte Jahreszeit offen. Aber dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Hüte dich vor dem ersten Frost."
Evelyn nickte langsam. "Okay", sagte sie. Im nächsten Moment packte sie der Schwindel. Sie wollte sich an einem Ast festhalten, doch ihre Finger griffen ins Leere. Sie hörte den Klang einer aufplatzenden Kastanie, sah die Farben der Herbstblätter und spürte einen plötzlichen kalten Wind in ihrem Haar.
Der Satyr und die Quelle des Sommers waren verschwunden.
"Ist alles in Ordnung?", fragte eine Stimme hinter ihr.
Evelyn blickte auf. Sie hockte auf dem Fußgängerweg und der Lärm der Straße kam ihr mit einem Mal ohrenbetäubend laut vor. Hinter ihr stand ein Mann, den sie nicht kannte.
"Ja", antwortete sie schnell und versuchte, ihre wirren Gedanken in den Griff zu bekommen. "Ich ... suche nur meinen Kopfhörer."
Sie schob einige Blätter beiseite, doch nicht um ihren Kopfhörer zu finden. Mit angehalten Atem suchte das Portal-Loch. Es war noch da.
Evelyn strich mit den Fingern an den Rändern entlang, traute sich aber nicht, es erneut zu berühren.
"Brauchst du vielleicht Hilfe?"
Schon hatte er sich neben sie gehockt und blickte über den Weg.
"Hab ihn!" Mit einem Lächeln hob er den weißen Kopfhörer auf und reichte ihn ihr. "Sicher, dass alles in Ordnung ist? Du siehst etwas blass aus."
"Ja." Evelyn stand auf und nahm den Kopfhörer schnell an sich. Sie schwankte kurz, fing sich aber nach einer Sekunde. "Danke für Ihre Hilfe."
Der Mann nickte. "Gerne."
Was für ein verrückter Tag! Blätter lösten sich lautlos von den Bäumen, als die Natur den Herbst nutzte, um ihre Kraft in Sicherheit zu bringen, und die Tiere sich für ihre Winterruhe vorbereiteten. Evelyn eilte den Weg entlang und hielt ihren Kopfhörer nachdenklich vor sich, als hätte er alle Antworten parat.
Dann setzte sie ihn mit neugieriger Entschlossenheit ein. Der Herbst war eine besondere Zeit - in vielerlei Hinsicht. Sie war gespannt herauszufinden, was das für sie bedeutete.
~ ~ ~
Die letzte Magie des Sommers entstand als Kurzprojekt im Rahmen der Wattpad Herbst-Anthologie 2023. Die Inspiration war ein Prompt:
~ Unter dem Laub ~
Der Herbst ist die Zeit, in der die Blätter von den Bäumen fallen und in den vielfältigsten Farben den Boden bedecken. Ein schöner Anblick! Dann jedoch entdeckst du, was sich unter dem Laub verbirgt.
Die Geschichte hatte die Ehre, in die Anthologie aufgenommen zu werden, worüber ich mich sehr gefreut habe. Hier könnt ihr sie und andere tolle Kurzgeschichten lesen:
https://www.wattpad.com/1405247491-herbst-anthologie-die-letzte-magie-des-sommers
Ich freue mich über Sternchen, Kommentare und eure Gedanken zur Geschichte. Danke für's Lesen!
Bis bald,
Eure Viktoria
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top