29. Eichendorff und Wiedersehen
Nun hieß es also warten. Warten darauf, dass die Zwerge zu uns stoßen und wir in den nächsten Kampf verwickelt werden würden.
Das war ein verdammt beklemmendes Gefühl. Noch schlimmer als das Warten auf die Herausgabe einer Klausur.
Aber uns war klar, dass wir dringend eine Pause brauchten, um neue Kräfte zu sammeln.
Daher entschieden wir uns, dass eine von uns Wache schieben und uns vor eventuell nahenden Wargs, Orks oder Trollen warnen würde, während die anderen versuchten, sich zu entspannen.
Ich war so hibbelig, dass ich freiwillig die erste Wache übernahm. Anna und Yara hatten es sich im wenigen Gras, das sie Teile des Bergplateaus bedeckte, bequem gemacht und hörten Musik. Kopfhörer hatten wir zum Glück alle immer bei uns, und dank meines solarbetriebenen Ladegeräts gingen auch unsere Handyakkus nie zur Neige.
Ich saß am Rand des Plateaus und ließ die Beine baumeln, während ich die ruhige Landschaft beobachtete. Der Mond war inzwischen aufgegangen und tauchte alles in ein mattes Licht.
Das einzige Geräusch war das Rauschen der Blätter des nahen Waldes, hin und wieder schrie ein Käuzchen. Kaum zu glauben, dass es hier Monster wie Orks gab. Es wirkte einfach unfassbar friedlich und erinnerte mich an das Gedicht „Mondnacht" von Joseph von Eichendorff, das wir vor Jahren einmal in der Schule auswendig lernen mussten und seltsamerweise zu meinen Lieblingsgedichten zählte. Während ich meinen Blick über die Ebene schweifen ließ, kam mir auch der Text wieder in den Kopf.
Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt'.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis' die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Ja, das Gedicht passte zu Mittelerde, wenn man mal die ganzen Kriege und Kämpfe ausblendete. Bei passender Gelegenheit würde ich es mal vortragen und als meine eigene Kreation ausgeben. Joseph von Eichendorff hätte bestimmt nichts dagegen, schließlich war er bereits 1857 verstorben und in Mittelerde ohnehin nicht bekannt.
Ich saß noch einige Stunden da – Anna und Yara waren inzwischen eingeschlafen – als ich eine vertraute Stimme vernahm.
„Fünf, sechs, sieben, acht, Bifur, Bofur, macht zehn. Ah, Fíli, Kíli, macht zwölf. Und Bombur. Macht dreizehn. Wo ist Bilbo? Wo ist unser Hobbit? Wo ist unser Hobbit?"
Das war eindeutig Gandalf! Ich sprang auf und rannte schnell zu meinen Freundinnen.
„Sie sind zurück!", rief ich, und im nächsten Augenblick waren auch die beiden hellwach.
Nun sahen wir auch die Zwerge und den Zauberer, die den nahen Abhang hinuntergerannt waren.
Jetzt sahen sie sich um, hielten Ausschau nach Bilbo.
Dwalin brüllte wütend: „Verfluchter Hobbit! Jetzt ist er weg!"
„Ich hab gedacht, er wäre bei Dori!", jammerte Gloin und dieser rief entrüstet: „Schieb's jetzt nicht auf mich!"
Auch Gandalf war unruhig. „Wo habt ihr ihn zuletzt gesehen?", fragte er mit einem Anflug von Panik in der Stimme.
Es war Nori, der das aussprach, was wohl jeder der Zwerge dachte: „Ich glaub, als sie uns gefangen haben, konnte er sich davon stehlen."
Der Zauberer rief ungehalten: „Was ist genau passiert? Sprecht!"
Anna, Yara und ich sahen hilflos zu. Hier war ja eine noch schlechtere Stimmung als im Urlaub mit meiner Familie beim Wandern, wenn sich mal wieder jemand verlaufen hatte!
Wir Fangirls wussten zu gut, dass Bilbo in Wahrheit hinter einem Baumstammt stand und lauschte. Aber das war den anderen natürlich nicht klar, wie denn auch.
Nun erwiderte Thorin: „Ich sag dir, was passiert ist. Meister Beutlin hat die Gelegenheit erkannt und sie ergriffen. Seit er aus seiner Tür getreten ist, hat er nur an sein weiches Bett und seinen warmen Ofen gedacht. Wir werden unseren Hobbit nicht wiedersehen! Er ist fort, schon längst!"
Er klang nicht wütend. Sein Gesicht ließ keine Gefühlsregung erkennen. Er klang enttäuscht. So, als wäre etwas schlimmes eingetreten, was er aber längst erwartet hatte.
„Nein, ist er nicht."
Wir fuhren alle herum und sahen Bilbo, der hinter dem Baum hervorkam. Auch seine Gesichtszüge waren ruhig, wenn ihn das, was Thorin gesagt hatte, ihn verletzt haben sollte – wovon ich ausging – ließ er es sich nicht anmerken.
„Bilbo!", rief Anna glücklich und umarmte ihn kurz. Auch die anderen sahen ihn erfreut und ziemlich erleichtert an.
„Bilbo Beutlin! In meinem ganzen Leben war ich noch nie so froh, jemanden zu sehen!", freute sich Gandalf lautstark und klopfte ihm auf die zarte Hobbitschulter. So fröhlich hatte ich Gandalf selten gesehen.
Auch Kili war euphorisch und jubelte: „Bilbo! Wir hatten dich schon aufgegeben!"
„Wie bist du an den Orks vorbeigekommen?", wollte nun Fili neugierig wissen.
Bei Dwalin schien sich die Freude über das Auftauchen des Hobbits etwas in Grenzen zu halten, denn er knurrte misstrauisch: „Gute Frage."
Bilbo sah in die Runde, lachte kurz auf und ließ dann den Ring in die Jackentasche gleiten. Natürlich waren wir drei Mädchen die einzigen, die die Wahrheit wussten. Vielleicht hatte auch Gandalf eine Vorahnung, bei dem wusste man ja nie.
Falls dies der Fall sein sollte, war ihm das im Moment wohl egal. Denn er meinte abwinkend:
„Was spielt das für eine Rolle? Er ist wieder hier!"
Thorin ließ sich davon nicht zufriedenstellen und erwiderte scharf:
„Es spielt eine Rolle! Ich will es wissen! Wieso bist du wieder hier?"
Der Hobbit seufzte, holte tief Luft und antwortete dann:
„Ich weiß, dass du an mir zweifelst und das schon von Anfang an. Und du hast Recht. Ich denk oft an Beutels End. Ich vermiss meine Bücher. Und meinen Sessel. Meinen Garten. Da gehöre ich nämlich hin. Das ist Heimat. Und deshalb bin ich zurückgekommen, weil... ihr keine habt. Eine Heimat. Sie wurde euch genommen, aber ich will euch helfen, sie zurückzuholen."
Auch wenn ich die Szene schon hundertmal gesehen hatte, kroch mir eine Gänsehaut die Arme hoch. Auch die anderen wirkten gerührt, Thorin neigte sogar leicht den Kopf. Das war wohl die wärmste Geste, mit der er Bilbo bisher bedacht hatte.
Quelle: Mondnacht - Joseph von Eichendorff
(Ich hab das Gedicht heute morgen zufällig gelesen und es hat mich irgendwie sofort total an Mittelerde erinnert, deshalb hab ich mich spontan dazu entschieden, es hier einzubauen 🙈)
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