6.

Unbehaglich beobachtete Jessica, wie Plattenberg den schwarzen Mercedes, den er als Dienstwagen fuhr ‒ ein VW oder etwas ähnliches war ja unter seiner Würde ‒ beschleunigte, um noch über eine gelbe, oder eher tief orange Ampel zu fahren. Doch noch bevor sie an der Ampel ankamen, sprang diese auf rot, was ihn jedoch nicht daran hinderte, aufs Gas zu drücken und trotzdem einfach weiterzufahren.

„Die Straßenverkehrsordnung gilt wohl nicht für Sie", bemerkte Jessica spitz. Sie hatte wenig Lust, in einen Unfall zu geraten, nur weil der feine Herr Kommissar meinte, so fahren zu müssen, als würde er bei einem Formel 1-Rennen mitmachen.

„Wollen Sie mich jetzt deswegen vielleicht festnehmen?"

Mit einem genervten Seufzer wandte Jessica sich ab und blickte aus dem regennassen Autofenster. Der beständige Regen hielt sich schon mehrere Stunden und verwandelte die Welt in ein impressionistisches Gemälde aus grauen, verschwommenen Schlieren. Bereits jetzt herrschte finstere Dämmerung, obwohl es erst kurz nach fünf Uhr Nachmittags war. Man merkte deutlich, dass der Winter gar nicht mehr so weit entfernt war.

Nachdem sie zuerst bei Florentine Frost gewesen sind, die in einer Wohnung an der südlichen Grenze des Kreuzviertels gemeldet war, dort aber von ihrer Mitbewohnerin erfahren hatten, dass sie meistens bei ‚ihrem Typen' sei und auch dort übernachtete, waren sie nun weiter zu Dennis Schmidtmann unterwegs. Es war zumindest anzunehmen, dass er immer noch Florentines Typ war, auch wenn man sich nach den bisherigen Erkenntnissen nicht mehr sicher sein konnte.

Jörg Schmidtmann, der Münsteraner Staranwalt, hatte seinem Sohn eine Wohnung in einer der besten und teuersten Wohngegenden Münsters gekauft, sehr zentral und mit Blick auf den Aasee.

Sie parkten einige Meter von dem Haus, in dem die Wohnung lag, entfernt am Straßenrand und betrachteten es durch die verregnete Windschutzscheibe. Das vierstöckige Mehrfamilienhaus sah von außen frisch saniert, sauber und gepflegt aus. Nicht zu vergleichen mit dem ranzigen Altbau, in dem das Mordopfer gewohnt hatte.

„Na, da hat Schmidtmann Senior aber ganz schön tief in die Tasche gegriffen, damit der Sohnemann komfortabel in einer protzigen Eigentumswohnung residieren kann", lästerte Plattenberg.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet jemand, der eine Schweizer Uhr am Handgelenk trug und von Kopf bis Fuß in sündhaft teure Markenfummel gekleidet war, sich so über die kostspieligen Besitztümer anderer ausließ.

„Ein Schnäppchen war die Wohnung sicher nicht", vermutete Jessica. „Da kann ich wahrscheinlich jahrzehntelang für so eine sparen."

„Bis zur Rente haben Sie die Summe vielleicht beisammen. Oder Sie heiraten einen reichen Mann."

„Einen, der Klamotten im Wert eines halben Monatsgehalts trägt?", fragte Jessica und biss sich sofort auf die Lippen. Wozu hatte sie das jetzt gesagt?

„Haben Sie jemanden bestimmten im Blick?"

„Nee, hab ich nicht. Und lieber ziehe ich in irgendeine baufällige Bruchbude, als von irgendeinem Kerl abhängig zu sein." Schnell öffnete sie die Tür und setzte ihren Fuß auf den nassen Asphalt. „Knöpfen wir uns jetzt endlich diesen Schmidtmann vor?"

„Jetzt haben Sie es aber eilig. Gerade, wo es spannend wird", entgegnete Plattenberg und stieg ebenfalls aus.

Auf dem kurzen Weg vom Auto zum Hauseingang, wurden sie natürlich sofort vom Regen durchnässt. Glücklicherweise hatte ein Hausbewohner gerade die Haustür aufgeschlossen, sodass sie direkt nach ihm durch die zufallende Tür ins Hausinnere schlüpfen konnten.

„ Ach Mensch, dieses Mistwetter!", nörgelte der Hauptkommissar und blickte verärgert auf seine nassen Schuhe herunter.

Jessica konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Sie war wenigstens schlau genug gewesen, ihre wasserfesten Boots anzuziehen.

In Münster regnet es oder es läuten die Glocken. Kennen Sie das Sprichwort etwa nicht? Wird wohl Zeit, dass Sie sich Gummistiefel anschaffen."

„Ernsthaft? Gummistiefel? Nur über meine Leiche!"

Er strich sich die regenfeuchten Haare zurecht und blickte sich in dem weitläufigen Eingangsbereich um. Sogar einen Aufzug gab es in dem Haus, doch sie entschieden sich für die Treppe. Schließlich wussten sie gar nicht, wo genau Schmidtmanns Wohnung lag. Bei nur acht Wohnungen sollte es aber nicht so schwer herauszufinden sein.

Im dritten Stock fanden sie die Tür mit Schmidtmanns Namensschild daneben. Dahinter hörte man Musik in mittlerer Lautstärke.

„Die Herrschaften sind wohl im Hause. Nach tiefster Trauer hört sich das allerdings nicht gerade an", stellte Plattenberg fest und drückte den Finger auf den Klingelknopf.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die Tür endlich geöffnet wurde. Ein Mann, ungefähr im selben Alter wie das Mordopfer, der sich hektisch ein hellgraues Hemd über den nackten Oberkörper streifte, blickte sie fragend an. Er erinnerte Jessica entfernt an eine etwas jüngere und schnöseligere Version von Ashton Kutcher.

„Was gibt's?", fragte er in leicht überheblichem Ton und strich sich die dunklen Haare, die durch die Reste von Haargel etwas schmierig wirkten, aus der Stirn.

„Sind sie Dennis Schmidtmann?", fragte Jessica.

„Ja, und? Wollen Sie etwas Bestimmtes?" Freundlicher Bursche.

„Sie haben vergessen, Ihre Hose zuzumachen, junger Mann", entgegnete Plattenberg mit spöttischem Unterton.

Wo guckt der denn bitte hin?, fuhr es Jessica durch den Kopf, doch er hatte recht, wie sie feststellen musste.

„Oh, 'tschuldigung", murmelte Dennis, machte den Reißverschluss seiner Jeans schnell zu und begann, sein Hemd zuzuknöpfen.

„Hoffentlich haben wir Sie nicht bei etwas Wichtigem gestört", sagte Plattenberg mit süffisantem Lächeln. „Wir sind von der Kriminalpolizei Münster. Plattenberg mein Name, meine Kollegin Frau Schillert."

Dennis blickte zwischen ihren Dienstausweisen hin und her und es schien eine Weile zu dauern, bis er verstand, was diese bedeuteten.

„Was wollen Sie?"

„Zuerst würden wir gerne reinkommen. Sie gestatten."

Bevor Dennis reagieren konnte, hatte sich Plattenberg bereits an ihm vorbei in die Wohnung gedrängt. Jessica tat es ihm gleich.

„Hey, warten Sie! Sie können doch nicht so einfach reinkommen! Dürfen Sie das überhaupt?" Gehetzt lief der völlig überrumpelte Hausherr ihnen hinterher.

„Sagen Sie es mir. Sie sind doch angehender Jurist, oder etwa nicht?"

Anscheinend kannte Dennis sein Fach jedoch zu schlecht und bestand nicht weiter auf seinem Recht, sie nicht reinlassen zu müssen. Kein Wunder, sonst bräuchte er auch niemanden, der seine Studienarbeiten für ihn schrieb.

Die Wohnung wirkte groß und modern. Anscheinend hatte Papa Schmidtmann auch bei der Wahl der Designereinrichtung keine Mühen und Kosten gescheut.

Aus einem der Zimmer trat eine Frau Anfang Zwanzig, die nur ein viel zu großes Sweatshirt trug, das vermutlich Dennis gehörte und an ihr wie ein kurzes Kleid aussah. Ein sehr kurzes Kleid. Sie war auffallend hübsch, ihr naturblondes, volles Haar umrahmte ihr fein geschnittenes Gesicht und fiel ihr in sanften Wellen auf die Schultern.

„Wer ist das, Dennis?", fragte sie und musterte die beiden Polizisten mit ihren kornblumenblauen Augen. Im Kontrast zu ihrem feenhaften Aussehen hatte sie eine überraschend tiefe Stimme, die man ‒ und vor allem Mann ‒ als sexy bezeichnen konnte. Außerdem hatte sie einen leichten Dialekt, wahrscheinlich Saarländisch, denn es musste sich hierbei mit größter Wahrscheinlichkeit um Florentine Frost handeln.

„Wir sind von der Kripo", klärte Jessica sie trocken auf und zückte erneut ihren Ausweis. Es ärgerte sie, dass diese Tussi von ihnen sprach, als wären sie gar nicht im Raum.

Ihr Kollege hatte seine eigene Art, mit dieser Dreistigkeit umzugehen.

„Verzeihen Sie vielmals unsere Unhöflichkeit. Wir haben uns ja gar nicht bei Ihnen vorgestellt", flötete er mit offensichtlich gespielter Freundlichkeit und nannte ihr erneut ihre Namen. „Und Sie sind sicherlich Frau Frost?"

„Gut geraten, Herr Kommissar." Florentine lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen an den Türrahmen und winkelte fast schon lasziv ein Bein an, wobei das Sweatshirt noch etwas hoch rutschte.

„Ich rate äußerst selten", erwiderte Plattenberg und trat an ihr vorbei ins Zimmer, ohne ihre nackten Oberschenkel auch nur eines Blickes zu würdigen.

Bei dem Zimmer schien es sich um das Wohnzimmer zu handeln. An einer Wand stand ein großes, graues Sofa, schräg davon ein passender Sessel. In der Mitte befand sich ein Couchtisch aus Glas, auf dem allerlei Zeugs herumlag, gegenüber dem Sofa hing ein großer Flachbildfernseher. Daneben gab es eine Regalwand mit DVDs, CDs und einer Musikanlage.

Florentine machte die Musik mit einer Fernbedienung aus und begann dann, ihre auf dem Sofa und auf dem Boden daneben verstreuten Klamotten aufzusammeln. Anscheinend hatten sie doch bei etwas ziemlich Wichtigem gestört.

„Was wollen Sie denn nun?", fragte Dennis ungeduldig.

„Es sieht mir nicht sehr danach aus, als würden Sie hier groß trauern", bemerkte Plattenberg. Er schlenderte zum Sessel, ließ sich unaufgefordert darauf nieder, lehnte sich lässig zurück, als wäre er bei sich zuhause. Fehlte nur noch, dass er seine Füße auf den Couchtisch legte, was ihm durchaus zuzutrauen wäre.

„Warum sollten wir trauern?", fragte Dennis verständnislos.

„Sie wissen doch bestimmt, dass Ihr Freund Daniel Hubner tot ist?", erkundigte sich Jessica. Unter den Studenten musste diese Neuigkeit schon längst die Runde gemacht haben.

„Ach so, ja. Wir haben schon davon gehört", gab Dennis zu und begann, nervös an einem Knopf seines Hemdes herumzufummeln. „Aber wir müssen ja nicht jeden Todesfall hier in Münster betrauern, oder? Und richtige Freunde waren wir sowieso nicht."

„Ihre Beziehung war eher geschäftlicher Natur, nicht wahr?", meinte Plattenberg.

„Was meinen Sie damit?"

„Wir wissen von den Hausarbeiten, die er für Sie geschrieben hat", half Jessica Dennis auf die Sprünge. „Sie brauchen also nicht so überrascht zu tun."

Er hörte auf, an seinem Hemd herumzufummeln und steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans. Seine Freundin hatte sich mittlerweile aufs Sofa gesetzt und verfolgte das Gespräch mit undurchdringlicher Miene.

„Es macht wenig Sinn, das zu leugnen, Herr Schmidtmann. Dürfte gar nicht so schwer sein, die Dateien von Daniels Computer mit den von Ihnen eingereichten Hausarbeiten aus dem Archiv der Universität Münster zu vergleichen und festzustellen, dass es sich um die selben Dokumente handelt", fuhr Plattenberg fort. „Was würde die juristische Fakultät der WWU wohl dazu sagen? So ein Täuschungsversuch führt zur sofortigen und endgültigen Zwangsexmatrikulation und der deutschlandweiten Sperrung für den Studiengang, wenn mich nicht alles täuscht. In besonders groben Fällen kann so etwas sogar strafrechtlich verfolgt werden, wissen Sie das? Da würden wahrscheinlich auch Papas Beziehungen nichts richten können."

„Zumal Sie Daniels Dienste wohl nicht nur einmal in Anspruch genommen haben, demnach zu urteilen, was wir auf seiner Festplatte gefunden haben", fügte Jessica hinzu.

„Was soll denn das?", empörte der Jurastudent sich. „Ich war ja lange nicht der einzige, für den Daniel die Arbeiten geschrieben hat. Und er selbst hat ja gut dran verdient!"

„Sie geben also doch zu, dass Daniel Hubner für Sie die Hausarbeiten geschrieben hat?", hakte Jessica sofort nach. Der Typ schien wirklich nicht die hellste Kerze auf der Torte zu sein. Schließlich war schweigen das oberste Gebot, wenn man verdächtigt wurde, irgendetwas illegales getan zu haben und das sollte man doch sogar als nicht besonders guter Jurastudent wissen.

Dennis' Mund öffnete und schloss sich, wie bei einem Fisch, der an Land gekommen war und verzweifelt nach Luft rang, als er merkte, dass er sich verplappert hatte.

„War die Bezahlung irgendwann nicht mehr genug und er wollte noch zusätzlich Geld für sein Schweigen haben?"

Es vergingen einige Augenblicke, bevor Dennis antwortete:

„Wenn Daniel mich verpfiffen hätte, dann hätte er auch Schwierigkeiten bekommen und wäre selbst von der Uni geflogen!"

„Nicht unbedingt. Er hätte eine Möglichkeit finden können, Sie anonym anzuschwärzen, ohne selbst ins Visier zu geraten", wandte Jessica ein. „Die Uni hätte schnell feststellen können, dass Sie von Tuten und Blasen keine Ahnung haben und die Hausarbeiten gar nicht von Ihnen sind. Sie kennen bestimmt nicht einmal deren Inhalt."

„Ganz genau", pflichtete Plattenberg ihr bei. „Und dann wäre es vorbei mit dem schönen, unbesorgten Leben, was Sie gewohnt sind und auch mit der rosigen Zukunft, die für Sie vorherbestimmt ist. Einen lukrativen Job in der Kanzlei Ihres Vaters oder anderswo hätten Sie ohne Abschluss vergessen können. Womöglich wäre Ihr Herr Vater so enttäuscht von Ihnen, dass er Ihnen sogar den Geldhahn ganz zugedreht hätte? Und was soll so jemand wie Sie, der im Leben noch nie einen Finger rühren musste, dann bloß machen?"

Der Hauptkommissar erhob sich und wanderte durch den Raum bis er neben Dennis Schmidtmann stehen blieb, so dicht, dass dieser unwillkürlich mehrere Schritte zurückwich.

„Wie sieht es denn mit Ihren Kenntnissen des Strafgesetzbuches aus, Herr Schmidtmann? Paragraph 211, im Besonderen?"

„Was?", entgeistert starrte Dennis den Polizisten an. Scheinbar wusste sogar er, dass es sich bei dem betreffenden Paragraphen um Mord handelte. „Ich bringe doch niemanden wegen so ein paar Hausarbeiten um!"

„Wegen ein paar Hausarbeiten vielleicht nicht. Aber wegen einer verbauten Zukunft vielleicht schon."

„Du solltest deinen Vater anrufen, Dennis", meldete sich plötzlich Florentine wieder zu Wort. Sie schien um einiges schlauer zu sein als ihr Freund.

„Ah, Frau Frost! Wir haben Sie natürlich keinesfalls vergessen." Nun wandte sich Plattenberg zu der Frau auf dem Sofa und fixierte sie mit unnachgiebigem Blick. Sie starrte zurück, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Gut, so ein paar gefälschte Hausarbeiten und ein damit einhergehender Erpressungsversuch sind vielleicht tatsächlich nicht ausreichend als Mordmotiv. Sie haben schließlich genug Geld und hätten Daniel vermutlich einfach bezahlen können, damit er den Mund hielt, nicht wahr Herr Schmidtmann? Aber womöglich gab es ja einen anderen Grund, weswegen Sie ihn loswerden wollten? Frau Frost, Sie und Daniel Hubner, in welchem Verhältnis standen Sie denn zueinander?"

„Wir kannten uns durch Dennis."

„Nur eine oberflächliche Bekanntschaft also?"

Gleichgültig zuckte Florentine mit den Schultern.

„Und warum haben Sie sich dann regelmäßig mit Daniel getroffen? Und das fast schon seit einem Jahr?"

„Dann haben wir uns mit Daniel halt getroffen. Was ist denn schon dabei?"

Jessica sah zu Dennis, der nicht sonderlich überrascht wirkte. Auf seinem Gesicht hatte sich eine unnatürliche Röte ausgebreitet. Er wusste von den Treffen, so viel war klar.

„Und was haben Sie während dieser Treffen gemacht?"

„Das geht Sie gar nichts an", erwiderte Florentine kühl, aber ruhig.

„Das geht uns sehr wohl etwas an, Frau Frost, wir ermitteln nämlich in einer Mordsache. Aber das Naheliegendste wäre doch, dass Sie eine Affäre mit Daniel Hubner hatten. Und Sie haben sich das sicherlich auch gedacht, Herr Schmidtmann. Sie wussten doch von diesen Treffen? Waren Sie Dienstagabend bei Daniel Hubner, um ihn deswegen zur Rede zu stellen?

„Nein, war ich nicht! Ich war bei meinen Eltern und habe mit ihnen zu Abend gegessen!"

Zum abgebrühten Anwalt taugt der Gute wirklich nicht. Warum hielt er denn nicht einfach seine Klappe und holte Papa zur Unterstützung?

„Wann genau war das?"

„Um halb acht."

„Und wann sind Sie von dort weggefahren?"

„Um neun."

„Oh", machte Plattenberg in bedauerndem Tonfall. „Ihre Eltern wohnen doch in Sankt Mauritz, oder? Von dort braucht man mit dem Auto nicht mehr als fünfzehn Minuten für den Weg ins Kreuzviertel. Daniel wurde zwischen 22 Uhr abends und 2 Uhr nachts getötet. Sie hatten also reichlich Zeit, zu ihm zu fahren und ihn umzubringen."

„Aber das hab ich nicht! Ich bin nach dem Essen hierher gefahren!"

„Kann das jemand bezeugen?", wollte Jessica wissen.

Beschwörend sah Dennis zu Florentine, die seinen Blick auffing und dann ungerührt von sich gab:

Ich kann das bezeugen. Wir waren den ganzen Abend und die ganze Nacht zusammen. Wir hatten Sex, falls Sie das auch noch genau wissen wollen."

Den letzten Satz sagte sie mit Nachdruck und einem derart selbstgefälligen Gesichtsausdruck, wie ihn sogar Plattenberg nicht besser hinbekommen hätte. Jessica war sich sicher, dass sie log. Sie tauschte einen Blick mit ihrem Kollegen und der schien das selbe zu denken, sagte überraschenderweise jedoch nichts dazu.

„Da haben Sie's!", stimmte Florentines Freund triumphierend ein. „Wir sagen jetzt gar nichts mehr. Wir müssen gar nicht mit Ihnen reden. Schicken Sie uns doch 'ne Vorladung, wenn Sie noch was von uns wollen." Trotzig schaute er die Polizisten an. Die vorherige Unsicherheit war wie weggeblasen und der Kerl schien sich seiner Sache ganz schön sicher zu sein.

„Ach, ist also doch etwas aus dem Jurastudium hängen geblieben?", meldete sich Plattenberg nun wieder zu Wort. „Stimmt, Sie müssen nicht mit uns reden. Das ist Ihr gutes Recht. Es ist allerdings durchaus möglich, dass Sie noch einmal von uns hören werden. Einen wunderschönen Abend noch."

Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg hinaus. Perplex beeilte Jessica sich, ihm zu folgen.

„Seit wann lassen Sie sich denn so einfach abspeisen?", fragte sie, als sie wieder auf die Straße traten und zurück zum Auto liefen. Der Regen hatte mittlerweile etwas nachgelassen und nieselte nur noch vor sich hin. „Die lügen doch wie gedruckt! Und dieser Schmidtmann ist zwar zum Scheißen zu dämlich, aber überzeugt davon, dass ihm keiner etwas anhaben kann, besonders nach dem falschen Alibi."

„Nur haben wir keinen einzigen Beweis dafür, dass dieses Alibi falsch ist. Geschweige denn etwas, was seine Schuld beweist", erinnerte Plattenberg sie. „Und irgendetwas scheint da nicht zu stimmen. Warum gibt sie ihm ein falsches Alibi, wenn sie etwas mit Hubner hatte? Dann müsste sie ihn doch eigentlich ins offene Messer laufen lassen?"

„Wieso? Ist doch ganz angenehm, so einen reichen Macker zu haben. Da kann man auch für den lügen."

„Höre ich da so etwas wie Neid heraus, Frau Schillert?" Grinsend öffnete er die Wagentür und setzte sich hinters Steuer.

„Ganz bestimmt nicht!" Jessica kletterte auf den Beifahrersitz und schlug die Tür hinter sich zu.

„Vielleicht haben die beiden Daniel ja auch gemeinsam erledigt und geben sich jetzt gegenseitig ein Alibi", überlegte sie weiter.

„Und das Motiv?"

„Immer noch das gleiche. Florentine hat sich für ihren Freund entschieden und ihm geholfen, Daniel loszuwerden. Oder es gibt noch einen anderen Grund, abgesehen von den Hausarbeiten und der Eifersucht."

„Letzteres erscheint mir inzwischen als wahrscheinlicher. Florentine hat zwar mehr oder weniger zugegeben, sich mit Daniel getroffen zu haben, aber nicht, dass sie ein Verhältnis miteinander hatten. Warum sollte Dennis Schmidtmann auch immer noch mit ihr zusammen sein, wenn sie ihn betrogen hätte?"

Da war durchaus etwas dran. Mit dieser ganzen Konstellation stimmte etwas nicht. Obwohl es ja trotzdem sein konnte, dass Florentine ihrem Freund einfach geholfen hatte, durch den Mord seinen Betrug zu vertuschen.

„Und was machen wir jetzt? Die im Labor kommen ja auch nicht in die Puschen mit der Auswertung der Spuren. Wenn wir doch wenigstens die DNA vom Täter, Fingerabdrücke oder etwas in der Art hätten..."

„Wir könnten versuchen, herauszukriegen, was Florentine und Daniel wirklich miteinander zu schaffen hatten", schlug Plattenberg vor, ließ den Motor an und fuhr los. Dabei hätte er beinahe einen Radfahrer über den Haufen gefahren, der ihm daraufhin den Mittelfinger zeigte. Was ihn jedoch nicht im Geringsten beeindruckte, denn er redete einfach weiter:

„Oder auch, wo Florentine und Dennis zur Tatzeit wirklich waren. Oder aber, wer noch ein Motiv haben könnte. Was ist denn mit Schmidtmann Senior? Wäre sein Ruf nicht ruiniert, wenn herausgekommen wäre, dass sein Sohn ein Betrüger ist? Würden seine schwerreichen Mandanten ihm dann noch ihre Geschäfte anvertrauen können?"

In die Richtung hatte Jessica noch gar nicht gedacht.

„Wir wissen gar nicht, ob Jörg Schmidtmann von den Betrügereien seines Sohnes wusste. Der hat es ihm bestimmt nicht selbst gesagt. Aber vielleicht hat Daniel es ihm ja erzählt und wollte Geld von ihm? Direkt von der Quelle, sozusagen", spann sie den Gedanken weiter.

„Gar keine so schlechte Überlegung. Dem sollten wir doch wirklich mal auf den Grund gehen, finden Sie nicht? Ein bisschen die Münsteraner Elite aufzumischen, kann ja gewiss nicht schaden..."

Jetzt würden Sie sich also auch noch mit der besseren Gesellschaft der Stadt herumschlagen müssen. Das konnte ja heiter werden.


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