27.
So leise wie möglich, schlich Jessica sich durch die dicke Schicht nasser Blätter und Äste und hoffte, dass Melanie sie nicht bemerken würde, bis sie sich nahe genug an sie herangepirscht hatte, um ihr die Waffe abnehmen zu können. Besser gesagt hoffte sie, dass es gar nicht erst nötig sein würde, ihr die Waffe abzunehmen und dass Plattenberg sie vorher überzeugen konnte, sie von selbst wegzulegen. Auch, wenn sie bezweifelte, dass er mit seiner zynischen Art für diese Aufgabe wirklich geeignet war.
Noch mehr aber hoffte sie, dass sie nicht auf Melanie schießen musste. Auf einen Menschen zu schießen war die letzte Lösung. Die allerletzte Lösung.
Wo hatte Melanie die Knarre überhaupt her? Weder auf sie noch auf ihre Eltern war eine Waffe zugelassen. Allerdings wusste Jessica mittlerweile, dass man, wenn man wollte, alles irgendwo herbekommen konnte, von allen möglichen Drogen, bis zu einer scharfen Schusswaffe oder sogar Sprengstoff. Das hätte uns gerade noch gefehlt!
Als sie auf dem Gelände des ehemaligen Hotels angekommen waren, hatten sie sofort Melanies Gekreische auf der Rückseite gehört. Die zweite Stimme hörte sich nach Katharina Weißner an, was auch immer die hier zu suchen hatte.
Ein Blick um die Hausecke hatte ihnen dann folgendes Bild offenbart: Melanie, die relativ weit hinten, nicht sehr weit vom Waldrand entfernt, stand und eine große, schwarze Pistole auf eine geöffnete Falltür im Boden richtete. Aus der Entfernung, konnten sie nicht erkennen, um welche Waffe es sich genau handelte und ob sie überhaupt echt war. Jedenfalls sah sie verdammt echt aus. Eine Tatverdächtige, die offensichtlich nicht in der besten psychischen Verfassung war und mit einer Waffe herumfuchtelte. Das waren die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für eine Festnahme. Und die angeforderte Verstärkung war – wie sollte es auch anders sein – nicht in Sicht.
Trotzdem konnten sie nicht einfach so auf Melanie schießen, um sie unschädlich zu machen, zumal sie viel zu weit weg war und ihrerseits zurückschießen konnte. Deshalb war Jessica auf der Vorderseite wieder um die Villa herumgelaufen, um sich unbemerkt von hinten an Melanie heranzuschleichen, während Plattenberg sie ablenkte. Inzwischen kam ihr diese Idee jedoch gar nicht mehr so schlau vor. Wie, in aller Welt, sollte sie Melanie die Waffe wegnehmen, ohne dass diese die Chance hatte, sie vorher abzufeuern? Klar, während der Ausbildung hatten sie ähnliche Situationen geübt, doch es war etwas völlig anderes, wenn man tatsächlich mittendrin steckte. Und wenn die bewaffnete Person ihre Waffe direkt auf deinen Kollegen richtete...
„Gehen Sie weg!", rief Melanie schrill. Sie bewegte die Hand mit der Pistole und richtete diese wieder auf das rechteckige Loch im Boden, in dem sich offenbar Katharina befand. „Gehen Sie weg oder ich schieße!"
„Machen Sie keinen Blödsinn, Frau Hubner und legen Sie die Waffe weg. Mit dieser Aktion machen Sie alles nur noch schlimmer, als es sowieso schon ist", erwiderte Plattenberg. Er wirkte so ruhig, als würde Melanie nur eine Wasserpistole halten.
„Sie hat Daniel getötet! Sie hat alles gestanden!", erklang Katharinas hysterische Stimme gedämpft aus dem Bodenloch. „Und mich hat sie hier runter geschubst! Sie ist völlig irre!"
Konnte sie nicht einfach still sein?
„Halt die Klappe!", kreischte Melanie. „Ich wollte ihn doch gar nicht töten! Ich wollte es wirklich nicht! Das müssen Sie mir glauben!" Sie schluchzte leise auf.
Langsam arbeitete Jessica sich weiter in ihre Richtung vor.
„Ich würde Ihnen ja gerne glauben, Frau Hubner, aber dazu müssten Sie mir in Ruhe erzählen, was genau passiert ist. Das geht jedoch schlecht, während Sie eine Schusswaffe auf die arme Frau Weißner richten. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie legen Ihre Waffe weg und ich meine. Das ist doch eine gute Vereinbarung, finden Sie nicht?", schlug Plattenberg vor. Er hatte die kurze Ablenkung durch Katharinas Zwischenruf dafür genutzt, um unbemerkt mehrere Schritte auf Melanie zuzugehen. Fragwürdig mutig, wenn man bedachte, dass sie ihn viel leichter treffen konnte, je näher er ihr kam.
Nervös trat Melanie von einem Fuß auf den anderen.
„Nein!", rief sie trotzig. „Sie legen Ihre Waffe zuerst weg! Sonst schieße ich!"
„Gut, abgemacht. Ich zuerst."
Langsam senkte er seine Waffe und warf sie auf den laubbedeckten Boden. „Jetzt sind Sie dran." Dabei kam er noch etwas näher.
Sofort ließ Melanie die Hand mit der Pistole in seine Richtung schwenken.
„Stehen bleiben! Nicht näher kommen!"
„Ich bin unbewaffnet, Sie haben nichts zu befürchten! Außerdem haben Sie Ihren Teil der Abmachung noch nicht erfüllt, Frau Hubner."
Er machte ein paar weitere Schritte. Auch Jessica lief vorsichtig weiter, verharrte aber sofort, als ein Ast unter ihrer Sohle verräterisch knackte. Ihr Herz hämmerte wild in ihrer Brust. Glücklicherweise schien Melanie jedoch nichts gehört zu haben.
„Wenn Sie nicht stehen bleiben, schieße ich!", drohte sie.
Die Waffe in ihrer Hand zitterte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn treffen würde, falls sie abdrückte, war nun gefährlich hoch.
„Dann schießen Sie doch!", sagte er in einem Tonfall, der so gleichgültig, wie nur irgend möglich klang.
Was tut er da?, dachte Jessica entsetzt.
Auch Melanie selbst schien irritiert zu sein und einen kurzen Moment lang, sah es tatsächlich so aus, als würde sie die Waffe senken.
Plötzlich raschelte es laut in dem verwilderten Gebüsch direkt neben ihr und ein Vogel flatterte gackernd heraus. Erschrocken stieß Melanie einen spitzen Schrei aus ‒ und drückte ab.
Ein lauter Knall durchschnitt die Luft.
Mit stockendem Herzen blieb Jessica wie angewurzelt stehen. Instinktiv hatte sie vor Schreck die Augen geschlossen, die sie sofort wieder aufriss. Sie war sich fast schon sicher, dass die Kugel Plattenberg getroffen haben musste.
Doch das hatte sie nicht. Weil es gar keine Kugel gab.
„Platzpatronen!", entfuhr es ihr. Es war eine gottverdammte Schreckschusspistole! Warum mussten die Scheißdinger den echten zum Verwechseln ähnlich sehen?
Ohne weiter nachzudenken, stürmte sie auf Melanie zu, packte sie am Handgelenk, riss ihr die Schreckschusspistole aus den Fingern und schleuderte sie zu Boden. Melanie verpasste ihr einen erstaunlich kräftigen Stoß und riss sich los. Sie wirbelte herum und wollte davonrennen, prallte dabei aber beinahe mit Plattenberg zusammen. Er bekam sie am Unterarm zu fassen und hielt sie fest. Wild zappelnd, versuchte sie sich aus seinem Griff zu winden. Als es ihr jedoch nicht gelang, senkte sie den Kopf und biss ihm in die Hand. Vor Schmerz stöhnend, ließ er sie los. Sie rannte davon, direkt auf den dunklen Waldrand zu und verschwand in dessen schützender Dunkelheit. Nicht schon wieder!
„Na los, Frau Schillert! Weidmannsheil!", sagte Plattenberg und sah sie auffordernd an.
„Wie jetzt?"
„Ich verspüre keine große Lust, mich noch einmal beißen zu lassen."
„Aber ich, oder was?"
„Sie wurden ja noch gar nicht gebissen. Außerdem muss jemand hierbleiben und sich um Katharina kümmern."
Mit einem unwilligen Schnauben, lief Jessica zum Waldrand, um zum zweiten Mal an diesem verfluchten Tag die Verfolgung aufzunehmen.
Zwischen den Bäumen war es ziemlich düster und ihre Füße versanken fast in dem matschigen Waldboden. Angespannt horchte sie, bis sie ein leises Knistern und das Knacken von Ästen vernahm. Also war Melanie noch nicht sehr weit gekommen. Sie folgte den Geräuschen.
„Komm schon, Melanie, das bringt doch nichts! Du wirst sowieso nicht weglaufen können!"
Das Rascheln wurde lauter. Sie wandte sich in die Richtung, aus der es kam und konnte die Flüchtige zwischen den Bäumen erkennen. Schnell eilte sie hinterher, die nassen Zweige, die ihr ständig ins Gesicht zu klatschen und sich in ihren Haaren zu verfangen drohten, zur Seite schiebend. Das Veilchen reichte ihr allemal, da brauchte sie nicht auch noch hässliche Kratzer.
„Wo willst du denn überhaupt hin? Selbst wenn es dir gelingt, vor mir zu fliehen, man wird überall nach dir suchen! Mit Hubschraubern und Suchhunden! Du wirst dich nicht verstecken können!"
Trotz dieses Horrorszenarios, dachte Melanie nicht daran, stehen zu bleiben. Wäre ja auch zu schön gewesen.
Auf einmal begann sich der Wald etwas zu lichten. Das war gut. Sehr gut, sogar. Nun konnte Jessica Melanie deutlich sehen, wie diese sich hastig durch das Dickicht kämpfte. Der Boden begann, abfällig zu werden. Weiter vorne schien bereits mehr Licht zwischen den Bäumen hindurch.
Sie hörte ein lautes Keuchen. In ihrer Hast schien Melanie ausgerutscht zu sein und stolperte nun das abfällige Gelände hinab. Jessica rannte ihr hinterher und wäre beinahe selbst ins Straucheln geraten. Die dichten Bäume lichteten sich komplett und ein kleiner, grasbewachsener Hang führte zu einem schmalen, friedlich vor sich hinplätschernden Fluss hinab. Das musste die berühmt berüchtigte Berkel sein.
Mittlerweile war Melanie am Ufer angekommen. Sie wandte sich zu Jessica um und schien überrascht, dass sie ihr bereits so dicht auf den Fersen war. Gehetzt schaute sie nach links und rechts und dann über ihre Schulter auf das Wasser.
Nein, bloß nicht da reingehen!
„Es ist vorbei, Melanie. Hier geht es nicht mehr weiter", sagte Jessica atemlos und blieb ebenfalls stehen. Sie senkte ihre Waffe, hielt sie aber weiterhin schussbereit umklammert. „Ich muss dich jetzt festnehmen. Du wirst verdächtigt, deinen Bruder getötet zu haben."
„Ich hab das alles nicht gewollt!", rief Melanie verzweifelt. „Aber dann ist es einfach passiert!" Sie wich mehrere Schritte zurück, bis sie gefährlich nah am Flussrand stand.
„Schon gut", sprach Jessica beruhigend auf sie ein. „Lass uns wieder zurückgehen und du erzählst uns alles in Ruhe. Aber bitte, geh weg vom Wasser und komm her zu mir."
Auch wenn die Berkel bei weitem nicht der Mississippi war und an dieser Stelle nicht mehr als einen halben Meter tief zu sein schien, wollte sie Melanie trotzdem nicht aus dem kalten Wasser fischen müssen.
„Nein!", schluchzte das Mädchen. „Ich will nicht ins Gefängnis!" Ruckartig drehte sie sich um und lief ins Wasser.
„Scheiße!"
Vor sich hin fluchend, hastete Jessica zum Ufer und zögerte nur kurz, bevor sie ebenfalls in den Fluss hineinsprang. Sofort lief ihr das eisige Wasser in die Schuhe und durchtränkte ihre Jeans bis zur Mitte ihrer Unterschenkel. Warum habe bloß immer nur ich so viel Glück?
Melanie war inzwischen in der Flussmitte angekommen und stakste laut plätschernd weiter auf das gegenüberliegende Ufer zu.
„Bleib sofort stehen, oder ich schieße!", drohte Jessica, während sie weiter durch das kalte Nass watete. Inzwischen reichte ihr das Wasser bis zu den Knien. Tatsächlich war sie drauf und dran, ihre Waffe zu heben und einen Warnschuss in die Luft abzugeben, damit Melanie endlich stehen blieb.
Da sah sie, wie Melanie vor ihr plötzlich stolperte. Kreischend ruderte sie mit den Armen durch die Luft und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, doch es gelang ihr nicht. Platschend fiel sie ins Wasser.
Schnell eilte Jessica zu ihr, packte sie an der Jacke und zog sie wieder hoch auf die Füße. Dabei wurde sie natürlich selbst pitschnass, weil Melanie immer noch versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien und dabei das Wasser aufwirbelte.
„Hör auf mit dem Scheiß! Wir müssen raus aus dem kalten Wasser!", keuchte Jessica und zerrte Melanie hinter sich her Richtung Ufer. Glücklicherweise hatte diese endlich aufgehört, sich zu wehren. Möglicherweise war sie inzwischen einfach viel zu erschöpft.
Am Ufer angekommen, ließ sich Melanie kraftlos ins nasse Gras sinken und fing an zu weinen. Dabei zitterte sie vor Kälte. Ihre Kleidung war völlig mit Wasser durchtränkt, die dünnen braunen Haare klebten nass an ihren Wangen. Wenn sie nicht schnellstmöglich irgendwo ins Warme kam, würde sie sich noch den Tod holen. Auch Jessica selbst fror und spürte ihre klammen Füße kaum noch.
Sie steckte ihre Waffe, die sie immer noch umklammert hielt, weg und sah sich um. Sie hatte keinen blassen Schimmer, wo sie sich befanden und wie sie wieder zurück zu der Gruselvilla kamen. Zurück durch den kalten Fluss zu gehen, kam auf keinen Fall in Frage.
Sie hockte sich neben die schluchzende Melanie und legte ihr versöhnlich eine Hand auf die Schulter.
„Weißt du, wo wir hier sind und wie wir wieder zurückkommen?"
Melanie wischte sich mit zitternden Händen die Tränen aus den Augen und nickte.
„Wir müssen ein Stück weitergehen, dann hört der Wald auf und wir kommen auf die Straße."
„Gut, dann lass uns gehen, bevor wir uns hier den Arsch abfrieren."
Jessica richtete sich auf, fasste Melanie am Arm und half ihr ebenfalls hoch. Obwohl sie keinen Widerstand mehr leistete, schnallte Jessica sie vorsichtshalber mit ihren Handschellen an sich fest. Noch einmal würde sie ihr nicht davonlaufen.
Wenige Minuten später, traten sie aus dem Waldstück auf eine Landstraße. Auf der anderen Seite erstreckte sich eine für das Münsterland typische Feldlandschaft. In der Ferne konnte man bereits ein paar Wohnhäuser ausmachen.
Jessica kramte ihr Handy aus ihrer nassen Jacke und stellte erleichtert fest, dass es noch funktionierte. Empfang hatte es sogar auch.
Schnell rief sie Plattenberg an. Wenigstens meldete er sich, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, direkt nach dem ersten Klingeln.
„Waren Sie erfolgreich?" Sie hörte, wie er im Hintergrund irgendjemanden anschnauzte. Vermutlich die Verstärkung, die wie immer pünktlich zur Stelle war.
„Ja, nachdem ich sie durch den ganzen Wald jagen und aus der Berkel angeln musste. Jetzt stehen wir hier an irgendeiner Straße...", fragend blickte sie Melanie an.
„Nottulner Straße."
„...An der Nottulner Straße sind wir. Da vorne ist eine Abzweigung und da steht ein Schild." Sie kniff die Augen zusammen und versuchte zu entziffern, was auf dem Schild stand. „Zum Berkelquellgebiet steht da drauf, falls das irgendwie hilft."
„Das werde ich schon finden. Warten Sie dort, ich hole Sie ab."
Bevor sie noch etwas sagen konnte, hatte er aufgelegt. Seufzend packte sie das Handy wieder weg.
Keine fünf Minuten später kam ein Streifenwagen mit blinkendem Blaulicht die Straße entlang auf sie zugefahren, dicht gefolgt von Plattenbergs schwarzem Benz. Die beiden Fahrzeuge parkten am Straßenrand. Aus dem Streifenwagen stiegen zwei uniformierte Kollegen, diesmal ein Mann und eine Frau. Plattenberg stieg ebenfalls aus, ganz lässig wie stets, als hätte es die Aufregung vorhin gar nicht gegeben.
Er musterte die tropfnasse und vor Kälte schlotternde Melanie von Kopf bis Fuß. „Sie wissen schon, dass Waterboarding hierzulande verboten ist, Frau Schillert?"
„Sehr unlustig", brummte Jessica genervt. „Ich selbst bin auch patschnass, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist!"
„Sie scheinen heute in der Tat kein Glück zu haben."
Und wessen Verdienst ist das?, dachte sie grimmig, sprach es aber nicht laut aus.
Unterdessen wandte ihr Kollege sich an Melanie:
„Frau Hubner, Sie sind vorläufig festgenommen, wegen des Verdachts, Ihren Bruder getötet zu haben, außerdem wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, bewaffneter Geiselnahme und mehrfacher, gefährlicher Körperverletzung." Er drehte sich zu den beiden Streifenpolizisten. „Bringen Sie die durchnässte, junge Dame nach Münster ins Präsidium. Aber passen Sie auf: Die Gute beißt."
Die beiden nahmen Jessica die apathisch wirkende Melanie ab, setzten sie in den Streifenwagen und fuhren davon.
Zu zweit blieben sie auf der verlassenen Landstraße zurück. Ein kühler Wind kam auf und trieb ein paar vereinzelte Regentropfen vor sich her. Es begann bereits zu dämmern. Fröstelnd legte Jessica sich die Arme um den Oberkörper. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als mit einer heißen Tasse Tee unter eine warme Decke kriechen zu können.
„Werde ich jetzt befördert?", fragte sie. „Immerhin habe ich an einem Tag zwei Tatverdächtige eingefangen."
„Wie Sie wissen, habe ich das nicht zu entscheiden", erwiderte Plattenberg. „Aber ich werde ein gutes Wort für Sie einlegen."
„Echt jetzt?"
„Selbstverständlich."
Bei genauerer Überlegung, hatte sie ihre Zweifel, ob es wirklich karrierefördernd war, wenn ausgerechnet er ein gutes Wort für sie einlegte. Wenn sie so an die warnenden Worte des Kriminalrats zurückdachte...
„Sollen wir fahren, bevor Sie sich noch eine Lungenentzündung holen?", schlug er vor. Sie meinte tatsächlich, einen leicht besorgten Unterton herauszuhören, vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein.
„Gute Idee", stimmte sie zu. Sie konnte es nicht erwarten, endlich ins Auto zu steigen, denn ihre nasse Jeans klebte unangenehm kalt an ihren Beinen und ihre Füße fühlten sich an wie Eisklötze.
Als sie sich erleichtert auf den Beifahrersitz sinken ließ, stieg ihr sofort wieder der durchdringende Rosenduft in die Nase.
„Was ist mit Katharina? Ist sie schwer verletzt?", fragte sie, nachdem sie losgefahren waren.
„Ihr Arm ist vermutlich gebrochen oder zumindest angebrochen. Deshalb konnte sie nicht von selbst aus diesem unterirdischen Raum, in dem sie festsaß, hinausklettern und ich musste das ganze Unterhaltungsprogramm mit Feuerwehr und Krankenwagen anfordern."
„Was hatte sie dort überhaupt verloren?"
„Ich konnte nur kurz mit ihr sprechen. Ihren Schilderungen zufolge, hat Melanie sie noch einmal gebeten, ihr bei der Suche nach dem Geld zu helfen und sie sind zu diesem Zweck gemeinsam zum ehemaligen Hotelgelände gefahren. Dann kam es anscheinend zu einer Auseinandersetzung, deren genauer Auslöser mir schleierhaft geblieben ist, und Melanie hat Katharina in die Grube gestoßen. Die Erzählung erschien mir äußerst wirr und widersprüchlich. Irgendetwas stimmt da nicht. Wir werden sie noch einmal gründlich befragen müssen, nachdem sie im Krankenhaus ärztlich versorgt wurde."
„Und das Geld? War es wirklich in diesem Loch?"
„Ja, tatsächlich lag es dort, in einer Tasche versteckt. Ich hatte ja gesagt, wir sollten besser danach suchen. Aber auf mich hört hier sowieso niemand." Die hochnäsige Überheblichkeit war nicht zu überhören, aber ausnahmsweise war sie diesmal auch berechtigt. „Die Tasche habe ich im Kofferraum. Diesen ganzen Trotteln aus Coesfeld konnte ich so viel Geld natürlich nicht anvertrauen."
Natürlich nicht.
„Wie viel ist es?", wollte Jessica neugierig wissen.
„Gezählt habe ich es nicht, schätzungsweise sind es schon etwa fünfzigtausend Euro."
„Also hat Daniel Melanie angelogen und es reicht gar nicht für diese teure Therapie in den USA", stellte sie fest. „Vielleicht hat sie ihn ja deshalb umgebracht."
Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen, dass Melanie ihren Bruder aus reiner Geldgier getötet hatte. So eiskalt wirkte sie nicht.
„Das könnte durchaus so gewesen sein. Möglicherweise werden wir es bald schon erfahren. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es allerdings müßig, darüber zu spekulieren."
Damit hatte er wohl recht.
Jessicas Blick fiel auf den blutigen Zahnabdruck auf seinem Handrücken. Melanie schien ganz schön kräftig zugebissen zu haben. Was für ein Glück, dass nicht sie auch noch diejenige war, die den Biss abbekommen hatte. Zwar blutete die Wunde nicht besonders stark, die Haut drumherum hatte sich aber verdächtig stark gerötet.
„Tut das nicht höllisch weh? Sie sollten damit echt zum Arzt gehen. So etwas kann sich ziemlich böse entzünden."
„Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken. Solange die Hand noch dran ist, ist doch alles gut. Wie sagt man so schön: Unkraut vergeht nicht."
Betont unbekümmert zuckte sie mit den Schultern. „Ich mein' ja nur." Nicht, dass er noch auf die Idee kam, sie würde sich tatsächlich Sorgen machen!
Sie verfielen in ein ähnlich bedröppeltes Schweigen, wie nach der Sache mit der Rose. Die Rose... Bestimmt war es nicht sehr gesund, dass sie hier so lange herumlag. Sobald sie im Präsidium waren, sollte sie sie so schnell wie möglich ins Wasser stellen.
Schließlich wurde Jessica das Schweigen zu anstrengend.
„Sie haben doch vorhin auch nicht sofort gemerkt, dass Melanies Waffe nur eine Schreckschusspistole war, oder?"
„Zu meiner Schande muss ich eingestehen, dass ich es zuerst ebenfalls nicht gesehen habe", gab Plattenberg zu. „Erst, als ich näher trat, konnte ich es an der Laufsperre erkennen. Zugegebenermaßen ist dieses Modell einer echten Waffe sehr gut nachempfunden und schwer von einer solchen zu unterscheiden. Sie müssen sich also keine Vorwürfe machen, wenn sogar ich es nicht von Anfang an bemerkt habe."
‚Sogar ich'. Ja, ja...
Auf einmal wurde ihr bewusst, dass es ihr nicht wirklich darum ging, dass es ihr peinlich war, die unechte Waffe nicht bemerkt zu haben.
„Ich hab mich ziemlich erschrocken, als Melanie geschossen hat", murmelte sie verlegen und bekam eine Gänsehaut, als sie an diesen Schreckensmoment zurückdachte. „Für einen kurzen Moment, da... dachte ich echt, dass sie Sie getroffen hat."
„Und jetzt sind Sie enttäuscht, dass dem nicht so ist?"
Sie schüttelte den Kopf und ärgerte sich über diesen ständigen Sarkasmus. „Nein, eigentlich nicht."
„Eigentlich?"
Sie beugte sich vor, nahm die Rose vom Armaturenbrett und fuhr mit den Fingern vorsichtig über die samtig weichen, violetten Blütenblätter.
„Ich bin wirklich verdammt froh, dass es nur Platzpatronen gewesen sind", sagte sie leise, drehte sich zum Fenster und schaute hinaus, auf die verregnete Münsterländer Landschaft, die daran vorbeizog.
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