26.

„Hier hatte früher der Stall gestanden, also muss die Falltür hier irgendwo sein", meinte Melanie und ließ den großen Werkzeugkoffer, das Nageleisen und das zusammengerollte, lange Seil auf den nassen, laubbedeckten Boden fallen. Kathy unterdrückte das Verlangen, ihr mit der Schaufel, die sie neben einer Harke getragen hatte, einfach eins über den Schädel zu braten, ließ aber stattdessen beides ebenfalls zu Boden sinken.

Sie befanden sich auf der Rückseite des ehemaligen Potthoff-Hotels. Das baufällige Gebäude mit dem schwarzen Brandfleck sah im fahlen Nachmittagslicht nicht weniger verwunschen aus als in der Dunkelheit. Auch der düstere Waldrand dahinter hatte nichts von seinem Schrecken verloren und sah unter dem dämmrigen Schleier des ewig währenden Regenwetters immer noch genauso bedrohlich aus.

Wie Melanie gesagt hatte, wirkte die dicke Schicht verfaulender, brauner Blätter hier weitestgehend unberührt, während auf der anderen Seite des Hauses der Boden von unzähligen Schuhabdrücken und Reifenspuren verunstaltet wurde. Nur vor dem eingeschlagenen Fenster, durch das sie am Vorabend in das Haus geklettert waren und das nun notdürftig mit einer Plastikplane verschlossen worden war, waren Schuhabdrücke auf dem Boden zu sehen. Ansonsten schien die Polizei hier draußen tatsächlich nicht großartig gesucht zu haben.

Die gesamte Fahrt lang hatten sie kaum ein Wort gewechselt, sodass Kathy genug Zeit gehabt hatte, in Gedanken ihrem Hass freien Lauf zu lassen und ihre Rachegelüste gegen Melanie zu nähren. Immer wieder dachte sie daran, was alles hätte sein können, wenn Daniel noch leben würde. Hätten sie gemeinsam ein glückliches, normales Leben führen können? Bis dass der Tod euch scheidet?

Doch der Tod war viel zu früh gekommen, herbeigeführt durch Daniels jüngere Schwester, die ihn nur aus reiner Geldgier getötet hatte. Mittlerweile war Kathy sich sogar ziemlich sicher, dass es Melanie gar nicht um diese teure Therapie für ihre Mutter ging. Bestimmt wollte sie das Geld nur für sich haben. Dieses kleine, geldgierige Biest!

„Wenn ich mich richtig erinnere, müsste die Falltür ungefähr hier sein", riss Melanies Gemurmel Kathy wieder aus ihren Gedanken. Sie war einige Meter weiter Richtung Waldrand gelaufen und scharrte nun mit dem Fuß im nassen Laub herum. „Kannst du mir die Harke geben?"

Wortlos hob Kathy das Gartengerät vom Boden auf, lief zu Melanie und reichte es ihr. Sofort begann diese, zuerst die Blätter und dann die darunterliegende, matschige Erde zur Seite zu harken.

Plötzlich schabten die Metallzinken über etwas hartes. Das ekelige Geräusch, wenn Metall auf Metall kratzte.

„Da ist was!", rief Melanie aufgeregt und erhöhte ihre Arbeitsgeschwindigkeit.

Kathy sammelte die Schaufel auf und kam ihr zu Hilfe. Wenig später hatten sie tatsächlich eine stark angerostete, nahezu quadratische Falltür freigeräumt. Das Vorhängeschloss, mit dem sie verschlossen war, sah allerdings gar nicht verrostet, sondern sogar relativ neu aus. Es war ein ganz normales Schloss, wie man es an die Kellertür hängte.

„Jemand hat vor Kurzem das Schloss erneuert", stellte Melanie fest. „Wahrscheinlich Daniel."

Bei der Erwähnung seines Namens, spürte Kathy einen schmerzhaften Stich in ihrer Herzgegend.

„Und wie kriegen wir das ohne Schlüssel auf?", fragte sie und betrachtete skeptisch das Schloss.

„In dem Koffer ist ein Bolzenschneider. Er ist ziemlich groß. Damit schneiden wir das Ding einfach auf ", meinte Melanie zuversichtlich.

Wenn sie das Schloss mit dem Bolzenschneider unbrauchbar machten, würde man die Falltür nicht wieder verschließen können. Doch genau das hatte Kathy eigentlich vor. Mit Melanie darunter. Wenn sie das Schloss aber nicht knackten, würden sie die Tür gar nicht erst aufbekommen und dann würde sie Melanie auch nicht dort unten einsperren können. Ein Dilemma. Vielleicht gab es in dem Werkzeugkoffer etwas, womit sie die Tür zusperren konnte oder sie könnte einfach einen großen Stein drauflegen...

Plötzlich erschauerte sie und bekam fast schon Angst vor sich selbst. Dachte sie gerade tatsächlich seelenruhig darüber nach, einen anderen Menschen irgendwo einzusperren? Sie tastete nach dem Handy in ihrer Tasche. Sollte sie nicht lieber doch die Polizei rufen? Aber sie hat Daniel getötet!, wisperte die wütende, nach Rache durstende Stimme in ihrem Kopf. Sie versuchte, sie so gut es ging auszublenden, einfach gar nichts mehr zu denken. Sie würde es einfach passieren lassen. Was auch immer passieren würde.

Mittlerweile hatte Melanie den Werkzeugkoffer herbeigeschleppt und den Bolzenschneider herausgeholt. Vorsichtig setzte sie ihn am Bügel des Schlosses an und drückte die Griffe zusammen. Vor Anstrengung ächzte sie und ihr Kopf lief ganz rot an. Die Klingen kratzten mit einem hässlichen Geräusch über den Schlossbügel, etwas von der Beschichtung löste sich, doch der Bügel hielt stand. Frustriert ließ Melanie den Bolzenschneider sinken.

„Lass es uns gemeinsam versuchen."

Kathy trat zu ihr und fasste ebenfalls an die Griffe. Sie setzten die Kopfzangen noch einmal an und drückten beide mit ihrer ganzen Kraft zu. Ein lautes Knacken ertönte. Das Schloss hüpfte unter dem Druck leicht hoch und fiel dann krachend wieder gegen die Metalltür.

„Ja!", jubelte Melanie, als sie den durchtrennten Bügel bemerkte.

Sie ließ den Bolzenschneider fallen und entfernte das nutzlos gewordene Schloss. Dann nahm sie das Nageleisen und hob damit die rostige Metalltür an. Eilig kam Kathy ihr zu Hilfe. Gemeinsam hievten sie die Tür so weit hoch, bis diese kippte und mit einem dumpfen Knall auf der nassen Erde aufschlug.

Nun klaffte ein dunkles, fast quadratisches Loch im Boden, aus dem, trotz der kühlen Luft, ein leicht modriger Geruch zu ihnen heraufstieg. Es ging etwa zwei Meter hinab, unten sah man grauen, staubigen Boden. Der Großteil des unterirdischen Raumes lag im Schatten. Eine Treppe oder Leiter war nicht zu sehen.

„Die Taschenlampe!" Melanie hüpfte zu dem Werkzeugkoffer, kramte eine Taschenlampe daraus hervor und hockte sich an den Rand der Öffnung.

Kurz erwog Kathy es, ihr einfach einen Stoß zu verpassen und sie in das dunkle Loch hineinfallen zu lassen. Sie hatte fasst schon die Hand ausgestreckt, doch irgendetwas hielt sie davon ab. Also hockte sie sich neben Melanie, die mittlerweile die Taschenlampe angeknipst hatte und nach unten in die Dunkelheit leuchtete.

„Da unten liegt was!", quiekte Melanie erregt und hätte beinahe die Taschenlampe fallen gelassen. Sie beugte sich so tief in das Loch, dass es ganz einfach wäre, ihr einen ganz leichten Schubser zu verpassen...

„Da an der Wand! Siehst du?"

Nun sah Kathy es auch: An der am weitesten von der Öffnung entfernten Wand lag etwas. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass es ein blauer Plastiksack war. So einen hatte ihre Mutter immer hervorgeholt und gedroht, ihr ganzes Spielzeug da hineinzupacken und in den Müll zu schmeißen, wenn sie oder Niklas ihre Zimmer mal wieder nicht aufräumen wollten. Wirklich gemacht hatte sie das natürlich nicht.

„Also, runterspringen würde gehen. Es ist nicht besonders hoch. Nur müssen wir irgendwie wieder hochkommen." Erneut lief Melanie los und schleppte das lange Seil herbei. „Wir binden das um einen Baumstamm oder so und dann klettern wir daran wieder hoch. Wie beim Seilklettern im Sportunterricht früher."

Kathy hatte es gehasst. Aber sie war ja nicht diejenige, die herunterklettern würde.

„Eine von uns muss oben bleiben und das Seil sichern. Für alle Fälle. Und die andere hinterher daran hochziehen vielleicht", wandte sie ein.

„Stimmt. Du kannst gerne oben bleiben. Ich bin wohl etwas leichter."

Natürlich, bloß niemanden an dein heißgeliebtes Geld lassen! Doch es verlief alles genau so, wie sie es wollte.

Melanie sah sich um und erblickte in unmittelbarer Nähe einen bereits vollständig blattlosen Baum mit einem relativ dicken Stamm. Rasch lief sie darauf zu, wickelte das Seil um den Baumstamm und knotete es daran fest. Als sie fertig war, zog sie prüfend daran. Der Knoten saß fest.

Kathy hatte Melanies hektisches Treiben schweigend beobachtet und wartete nun darauf, dass diese sich endlich in den unterirdischen Raum hinab begab.

Lange musste sie nicht warten. Melanie trat wieder an den Rand der Öffnung und ließ das lose Ende des Seils hinabfallen. Es reichte nicht ganz bis zum Boden, doch mit etwas sportlichem Geschick konnte man problemlos wieder daran hochklettern oder sich heraufziehen lassen. Nur würde das wohl nie passieren.

„Hältst du die Taschenlampe und leuchtest mir von oben?", wandte Melanie sich an sie und hielt ihr die Taschenlampe hin.

Kathy nahm sie ihr aus der Hand und richtete sie in das dunkle Loch im Boden. Unwillkürlich drängte sich ihr der Gedanke an Daniels bevorstehendes Begräbnis wieder auf. Na ja, auch dieses Loch würde bald schon zu einer Art Grab werden...

Melanie setzte sich an den Rand der Öffnung und ließ die Beine herunterbaumeln. Dann stieß sich sich ab und sprang hinein. Mit einem dumpfen Geräusch kam sie auf dem Boden auf, wobei sie leicht in die Knie ging, um ihre Landung abzufedern. Kaum hatte sie sich wieder ganz aufgerichtet, lief sie zu der Plastiktüte und kniete sich davor. Während sie damit beschäftigt war, den mit Klebeband zugeklebten Sack aufzureißen, zog Kathy heimlich das Seil wieder hoch, die Taschenlampe mit der anderen Hand weiterhin hilfsbereit nach unten gerichtet.

„Hier ist eine Tasche drin!", hörte sie Melanie rufen.

Hastig zerrte sie eine schwarze, nicht besonders große Sporttasche aus der blauen Tüte und öffnete den Reißverschluss. Sogar von oben konnte Kathy erkennen, das sich darin eine weitere, kleinere Plastiktüte befand. Melanie griff hinein und förderte ein zusammengerolltes Geldbündel zu Tage.

Also doch. Das Geld existierte wirklich und sie hatten es soeben tatsächlich gefunden. Das Geld, wegen dem Daniel sterben musste.

„Ich habe noch nie so viel Geld auf einmal gesehen", hauchte Melanie ungläubig. „Ich binde jetzt die Tasche an das Seil und du ziehst es hoch. Danach komme ich auch wieder hoch."

Sie rappelte sich auf, blickte hoch zu Kathy und blinzelte, als ihr der Strahl der Taschenlampe direkt in die Augen schien. Ein überraschter Ausdruck breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie bemerkte, dass das Seil nicht mehr da war.

„Wo ist das Seil?"

„Ich habe es hochgezogen", sagte Kathy seelenruhig.

„Warum?"

Kathy antwortete nicht.

„Lass es wieder runter! Wie soll ich denn jetzt wieder hochkommen?"

„Gar nicht."

„Was?" Ein leicht panischer Unterton hatte sich in Melanies Stimme geschlichen. „Was soll das heißen?"

„Du bleibst unten. Bei deinem geliebten Geld", erklärte Kathy kalt. Ihr Herz hämmerte wie bekloppt gegen ihren Brustkorb. Würde sie es tatsächlich fertig bringen, ihren Racheplan in die Tat umzusetzen?

Sie schloss die Augen und stellte sich Daniel vor, wie er sie anlächelte, wie er ihr über die Wange strich, wie er sie küsste...

„Das ist überhaupt nicht lustig, Kathy! Lass das Seil wieder runter!", winselte Melanie mit zitternder Stimme.

Sie versuchte hochzuspringen und die rostige Kante der Öffnung zu fassen zu kriegen. Ihre Fingerspitzen stießen leicht an den Rand, doch sie war zu klein und konnte sich nicht daran festhalten.

„Es ist auch nicht lustig, seinen Bruder umzubringen, nur weil man unbedingt an sein Geld will!", fauchte Kathy. Mit der Erinnerung an Daniel hatte sie es erfolgreich geschafft, sich selbst anzustacheln und ihren Hass auf seine Schwester mit aller Stärke wieder aufleben zu lassen.

Als Melanie auf ihren Vorwurf nichts erwiderte, sondern nur aus tränennassen Augen zu ihr hoch starrte und abermals auf ihrer Unterlippe herumzukauen begann, war es wie eine weitere Bestätigung für sie. Sämtliche Zweifel waren wie weggefegt.

Langsam richtete Kathy sich auf, warf die Taschenlampe ins Laub und ging um die Öffnung im Boden herum, auf die Seite, wo die aufgeklappte Metalltür lag.

„Ich gebe dir auch was von dem Geld ab. Die Hälfte. Reicht das?", versuchte Melanie, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. „Und den Ring, den hast du sowieso schon."

„Ich brauche dieses schmutzige Geld nicht! Das kannst du gern behalten!", schrie Kathy wütend. „Und was soll ich deiner Meinung nach mit dem Scheißring? Was soll ich damit, wenn Daniel nicht mehr da ist!"

Kathy bückte sich und griff nach der rostigen Falltür.

„Das kannst du doch nicht machen! Du kannst mich doch nicht einfach hier einschließen!", rief Melanie fassungslos.

„Oh, doch. Du konntest ja auch deinen Bruder einfach erschlagen."

„Ich wollte es doch nicht! Ich wollte das doch alles nicht!", kreischte Melanie hysterisch.

Erschrocken ließ Kathy die Metallplatte wieder los und lugte zu ihr herunter. Das Mädchen war auf den Boden gesunken, hatte sich die Hände vors Gesicht gepresst und schluchzte unkontrolliert.

Schmerzhaft zog sich Kathys Inneres zusammen. Sie spürte, wie ihr selbst die Tränen hochkamen und sie kniete sich an den Rand der Öffnung.

„Warum hast du es dann gemacht?", schniefte sie.

„Ich... ich bin zu ihm hin, um ihn zu fragen, ob er Papa nicht etwas von dem Geld geben könnte, weil... weil der Gärtnerei, der geht es doch so schlecht und Papa, er... er schafft es nicht mehr allein... er ist am Ende, verstehst du?", schluchzte Melanie. „Das mit der Therapie für Mama... das hab ich schon verstanden, dass das eine blöde Idee war. Sie ist viel zu teuer und Daniel meinte, im Internet steht, dass sie noch nicht genug erforscht ist und... und vielleicht überhaupt nicht wirkt. Aber Papas Schulden... die kann man mit dem Geld doch sehr wohl bezahlen... aber dann... dann meinte Daniel, dass... dass er uns das Geld nicht geben könnte, selbst wenn er wollte...weil... weil es ihm gar nicht gehört...zumindest nicht ihm allein..." Sie hörte auf zu reden und schluchzte nur noch halb erstickt vor sich hin.

„Und deshalb hast du ihn getötet?", fragte Kathy leise. Sie fühlte, wie der Hass und die Rachegelüste langsam zurückwichen und sich sogar so etwas wie Mitleid in ihr regte.

„Ich... ich wollte es doch nicht!" Melanie ließ die Hände sinken und sah zu ihr hoch. Ihr verweintes Gesicht war so rot, als hätte sie mindestens 40 Grad Fieber.

Kathy wurde klar, dass sie sie nicht dort unten lassen konnte. Sie stand auf und ging zurück auf die Seite, wo das Seil lag und ließ dessen Ende wieder hinabgleiten.

„Komm, ich zieh dich hoch."

Melanie kämpfte sich wieder hoch auf die Füße und umfasste das Seil soweit oben, wie sie konnte. Kathy zog kräftig daran. Sobald Melanie weit genug oben war, dass sie sich an der Kante festhalten konnte, packte Kathy sie an der Jacke und zog sie über den Rand der Öffnung. Dabei beugte sie sich selbst gefährlich weit über das Loch.

Plötzlich spürte sie, wie Melanie an ihr zu ziehen begann. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Ihr Gesicht hing nun über der dunklen Öffnung. Ein kräftiger Stoß schob sie weiter über den Rand. Sie schrie und versuchte sich irgendwo festzuhalten, sich aufzurichten. Doch ein weiterer Stoß drückte sie wieder nach unten. Ihre Hand griff nach dem rostigen Metallrand der Öffnung. Jemand packte ihre Beine und schob sie über den Rand. Ihre Hand rutschte ab. Kreischend fiel sie in die Tiefe bis sie unsanft auf dem Boden aufschlug. Ein stechender Schmerz jagte durch ihren linken Arm, auf dem sie gelandet war. Stöhnend biss sie die Zähne zusammen und rollte sich auf den Rücken.

Sie öffnete die Augen und ihr Herz blieb fast stehen, als sie in die schwarze Mündung einer Waffe blickte, die Melanie von oben auf sie gerichtet hielt. Woher hatte sie plötzlich eine Knarre?

„Ich lass jetzt das Seil wieder runter und du bindest die Tasche daran fest, damit ich sie hochziehen kann", forderte Melanie sie mit rauer Stimme auf. Ihre Verzweiflung von vorhin war einem kalten, starren Blick gewichen.

Kathy setzte sich auf. Ihr tat alles weh, am meisten ihr Arm. Sie versuchte ihn hochzuheben. Er ließ sich zwar bewegen, schmerzte dabei jedoch höllisch.

Melanie ließ das Seil zu ihr herunterbaumeln.

„Ich kann nicht, mein Arm..."

„Doch, du kannst! Sonst knall ich dich ab!", schrie Melanie wütend und fuchtelte mit der Pistole herum.

Sie musste verrückt sein! Anders war das nicht zu erklären. Erst tötete sie ihren Bruder und dann das.

„Mach hinne!", drängelte Melanie ungeduldig.

Unter Schmerzen nahm Kathy das lose Seilende und begann, es langsam um die Träger der Tasche zu binden.

„Das Geld wird vielleicht den Betrieb deiner Eltern retten, aber sie werden bestimmt nicht glücklicher dadurch, nachdem ihr Sohn tot ist", versuchte sie, auf Melanie einzureden.

Er war doch an allem schuld!", brüllte diese außer sich. „Er war doch schuld, dass Mama überhaupt diesen Unfall hatte!"

Was?" Überrascht starrte Kathy zu ihr hoch.

„Ja, ja! Dein teurer Daniel! Er sollte damals diesen Spezialdünger aus Bielefeld holen. Aber er hatte keinen Bock! Mal wieder! Ist einfach abgehauen und irgendwo hin. Und dann ist Mama in den Pickup gestiegen und losgefahren. Damals war es noch der alte, der ständig Zicken machte. Und dann ist dieses Arschloch in sie reingefahren, weil er angeblich die Kontrolle über seinen Wagen verloren hatte."

Das wusste Kathy nicht. Daniel hatte ihr das nie erzählt.

„Aber wenn Daniel gefahren wäre, dann hätte er den Unfall gehabt!"

„Na und?", kreischte Melanie mit sich überschlagender Stimme. „Wir wären auch ohne ihn klargekommen! Er ist doch sowieso abgehauen und hat sich ein schönes Leben in Münster gemacht! Mit seinem Scheiß-Jurastudium und mit dir! Während ich in diesem Loch festsitze!"

Darum ging es also in Wirklichkeit. Melanie gab ihrem Bruder nicht einfach nur die Schuld an Elkes Unfall. Gleichzeitig war sie neidisch auf ihn.

„Nachdem er mir gesagt hatte, dass er uns das Geld nicht geben kann und mich kurz allein ließ, um auf Klo zu gehen, habe ich mich in seinem Zimmer umgesehen. Und dann habe ich den Ring gefunden. Und dann wusste ich, warum er uns das Geld nicht geben konnte: Er wollte es für sich haben. Für euch. Damit ihr euch zusammen ein schönes Leben machen könnt."

„Aber jetzt weißt du, dass das gar nicht stimmt. Er wollte das Geld Luisa geben, weil sie von diesem fiesen Typen bedroht wurde!"

„Warum ist denn irgendeine Luisa wichtiger als wir? Was ist denn mit mir? Niemand schert sich darum, wie es mir geht! Musst du denn jeden Abend deiner Mutter beim Heulen zuhören? Oder zusehen, wie dein Vater sich nachts heimlich besäuft?"

Geräuschvoll zog Melanie den Rotz durch die Nase hoch und richtete die Waffe wieder auf Kathy. „Jetzt binde endlich diese Scheiß-Tasche an!"

So schnell, wie ihr schmerzender Arm es zuließ, versuchte Kathy, ihrer Aufforderung nachzukommen. Sie versuchte nicht daran zu denken, was passieren würde, nachdem Melanie die Tasche hochgezogen hatte.

Gerade hatte sie den Knoten festgezogen, als Melanie plötzlich aufkeuchte und erschrocken herumfuhr.

„Lassen Sie die Waffe fallen, Frau Hubner!"

Ein leises, erleichtertes Wimmern entrang sich Kathys Kehle, als sie die Stimme von Kommissar Plattenberg erkannte. In dem Moment wäre sie dem Mann am liebsten um den Hals gefallen, obwohl sie ihn nicht leiden konnte.


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