24.

Erschöpft ließ Kathy erst ihren Rucksack und dann sich selbst aufs Sofa fallen. Es fühlte sich so an, als hätte sie eine Schicht auf der Baustelle und nicht nur eine Vorlesung und ein Seminar hinter sich. Sie hatte sich die letzten Tage einfach viel zu sehr gehen lassen und sich schon ganz von ihrem Alltag entwöhnt.

Nach dem Fiasko am Vortag, hatte sie sich fest vorgenommen, sich wieder zusammenzureißen und ihr Leben endlich wieder in den Griff zu kriegen. Glücklicherweise konnte sie die Festnahme vor ihrer Mutter und ihrem Bruder verheimlichen, denn nachdem die Polizei sie nach der Vernehmung am späten Abend hat gehen lassen, hatte sie gerade einen der Nachtbusse erwischt, die sogar noch zu dieser späten Stunde zum Bahnhof fuhren.

Melanie dahingegen hatte weniger Glück gehabt. Das Auto ihrer Mutter hatte immer noch dort gestanden, wo sie es auf dem Weg zum Potthoff-Hotel abgestellt hatten und so spät fuhr kein Bus mehr von Münster nach Billerbeck. Also war ihr nichts anderes übrig geblieben, als ihren Vater anzurufen, damit dieser sie abholte. Kathy hatte Dirk Hubner auf einem der Stühle im Wartebereich des Präsidiums sitzen gesehen, als sie das Gebäude endlich verlassen wollte. Er hatte sie gar nicht bemerkt und sie hatte ihn ebenfalls nicht angesprochen. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Hatte der Mann nicht schon genug durchmachen müssen? Sie fragte sich, was Melanie ihrem Vater wohl gesagt hatte. Ob sie ihm die Wahrheit erzählt hatte, warum sie in das verlassene Hotel eingebrochen waren? Eigentlich ging es sie nichts an und es konnte ihr auch egal sein, schließlich war es Melanies Schuld, dass sie von der Polizei erwischt wurden.

Wie es Florentine ergangen war, wusste Kathy nicht. Vielleicht sollte sie sie anrufen oder ihr eine Nachricht schreiben? Aber wozu? Bis zum gestrigen Tag hatte Kathy nur pure Abneigung gegenüber Florentine empfunden. Inzwischen hatte sich das zwar geändert, doch im Grunde war Florentine immer noch eine Fremde für sie.

Seufzend nahm Kathy ihren Rucksack, öffnete ihn und nahm eins der Bücher, die sie sich in der Bibliothek ausgeliehen hatte, heraus. Dabei handelte es sich um eine Interpretation des zweiten Teils von Goethes Faust. Sie musste eine Seminararbeit darüber schreiben und ein dazugehöriges Referat halten. Warum erwischte immer sie die langweiligsten Themen? Sie hatte den zweiten Teil vom Faust nie richtig verstanden. Wie willst du denn als Deutschlehrerin den Schülern irgendetwas beibringen, wenn du die Lektüre selbst nicht kapierst? Hätte sie sich doch ein anderes Fach aussuchen sollen? Aber welches? Mathe fiel ja wohl weg.

Nachdem sie die ersten Seiten überflogen hatte, legte sie das Buch angeödet weg. Obwohl sie sich am Vormittag gezwungen hatte, wieder in die Uni zu gehen und ihre Veranstaltungen zu besuchen, war ihre Motivation trotzdem immer noch auf einem Tiefpunkt. Wahrscheinlich konnte sie dieses Semester jetzt schon in die Tonne klopfen.

Das Schrillen der Türklingel riss sie jäh aus ihren Gedanken. Mal wieder. Mittlerweile war ihr dieses Geräusch geradezu verhasst. Es war zu einem Vorboten von schlechten Nachrichten und allerlei Schwierigkeiten geworden.

Auf das Schlimmste gefasst, schlurfte sie zur Tür und drückte auf den Türöffner. Auf der Treppe waren leise Schritte zu hören. Kathys Augen weiteten sich vor Überraschung, als sie Melanie die Treppe hochkommen sah.

„Was machst du denn wieder hier?", fragte sie ohne Begrüßung, als diese vor ihr stehen blieb.

„Es... es tut mir leid. Ich kann ja verstehen, dass du wegen gestern sauer auf mich bist. Aber ich konnte doch nicht wissen, dass diese komischen Polizisten auch dort auftauchen!" Bedrückt sah Melanie sie an. Eigentlich hatte sie ja recht.

„Ich, ich wollte dir sagen, dass am Freitag die Beerdigung ist. Bei uns auf dem Stadtfriedhof. Vorher ist die Trauerfeier in der Kapelle."

Bei der Vorstellung, wie das Grab mit Daniel darin in ein Loch im Boden herabgelassen und mit Erde zugeschüttet wird, schnürte sich Kathy die Kehle zu. Sie war sich nicht sicher, ob sie das durchstehen würde. Aber es war die letzte Gelegenheit, Abschied von ihm zu nehmen. Wenigstens so. Und ihn um Verzeihung zu bitten, dafür, dass sie ihm nicht geglaubt und nicht mehr mit ihm gesprochen hatte. Einfach für alles.

„Danke, dass du mir Bescheid sagst", murmelte sie und unterdrückte ein Schniefen. „Aber deswegen hättest du nicht extra herkommen müssen."

Natürlich war ihr längst klar, dass das nicht der einzige Grund für Melanies erneutes Aufkreuzen war. Schick sie weg!, rief ihre innere Stimme. Sie ist nicht gut für dich! Doch sie ignorierte diese Warnung und schaute Daniels kleine Schwester abwartend an.

„Da gibt es noch was", gestand diese.

„Was?"

Das Mädchen blickte sich misstrauisch um, als fürchte es, jemand könnte sie belauschen.

Wortlos trat Kathy zur Seite und ließ Melanie eintreten. Sie gingen ins Wohnzimmer. Ohne ihre Jacke auszuziehen, setzte Melanie sich aufs Sofa. Ihre Sitzhaltung wirkte merkwürdig unnatürlich und steif.

„Ich hab da was für dich. Von Daniel." Sie griff in ihre Jackentasche, holte ein samtbezogenes, dunkelblaues Ringkästchen hervor und streckte es Kathy entgegen. „Ich... ich glaube, das war für dich bestimmt."

Zögernd nahm Kathy das Kästchen in die Hand und öffnete es. Ein filigraner, silberner Ring mit einem kleinen, durchsichtigen Diamanten steckte in dem schwarzen Schmuckkissen, das sich in der Box befand.

Verblüfft starrte sie erst das Schmuckstück und dann Melanie an.

„Wo... woher hast du das?", stieß sie schließlich hervor.

„Ich hab das in Daniels Sachen gefunden. Als Papa und ich sie heute morgen aus seinem WG-Zimmer geholt haben."

Immer noch völlig sprachlos, nahm Kathy den Ring vorsichtig aus dem Kästchen und schaute ihn sich genauer an. Unmöglich. Dieser Ring konnte unmöglich für sie sein.

„Vielleicht ist er für jemanden anderen", sprach sie ihre Gedanken aus.

„Das ist eindeutig ein Verlobungsring, Kathy. Er kann nur für dich gewesen sein."

Konnte das wirklich sein? War das der Grund, warum Daniel kurz vor seinem Tod versucht hatte, sie zu erreichen und tausendmal bei ihr angerufen hatte? Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen. Durch sie hindurch betrachtete sie weiter den fein gearbeiteten Ring und die samtbezogene Schatulle in ihren Händen. Wann hatte Daniel den Ring anfertigen lassen? Das musste doch eine Menge Geld gekostet haben.

„Er wollte dich heiraten", fügte Melanie leise hinzu. So, wie sie das sagte, klang es fast schon so, als wäre das etwas schlechtes.

„Ich... ich hatte keine Ahnung", flüsterte Kathy. Wie denn auch, wenn du all seine Anrufe weggedrückt hast?

Sie versuchte sich vorzustellen, was wohl geschehen wäre, wenn Daniel nicht getötet worden wäre. Wäre er mit dem Ring bei ihr aufgetaucht und hätte ihr tatsächlich einen Heiratsantrag gemacht? Hätte er sie überzeugen können, dass er nichts mit Florentine hatte und Kathy die einzige Frau in seinem Leben war? Hätten sie sich dann vertragen und irgendwann in nächster Zeit wirklich geheiratet? Hätte, hätte... Was brachte es noch, sich all diese Fragen zu stellen? Das alles würde sowieso nie mehr eintreffen.

Auf einmal stutzte Kathy mitten in ihren qualvollen Überlegungen.

„Du hast den Ring heute erst gefunden, sagtest du?", wandte sie sich an Melanie.

„Ja, heute früh, als wir Daniels Sachen abgeholt haben. Wieso?"

Wie konnte der Ring immer noch in Daniels Zimmer gelegen haben, wenn die Polizei es letzte Woche schon durchsucht hatte? Hatten sie das Kästchen einfach übersehen, obwohl das Zimmer so ausgesehen hatte, als hätten sie jedes Staubkörnchen darin doppelt und dreifach umgedreht?

„Und wo genau war er?", fragte sie vorsichtig weiter.

„Ähm, weiß ich gar nicht mehr so genau." Ein misstrauischer Unterton hatte sich in Melanies Stimme gemischt. „Ich glaube, er lag zwischen seinen Klamotten versteckt..."

Kathy dachte an das Chaos in Daniels Zimmer, als sie am Samstag dort gewesen waren, an die ausgeräumten Schränke und die überall herumliegenden Klamotten. Es war unmöglich, dass die Polizei das Schmuckkästchen übersehen oder es einfach liegengelassen hatte. Sie hätten es sicher zusammen mit den anderen Beweismitteln mitgenommen und in die Asservatenkammer gelegt, schließlich war der Ring nicht gerade billig und hätte etwas mit dem Mord zu tun haben können.

Es gab nur eine Erklärung, warum die Polizei den Ring nicht gefunden hatte: Weil er schlicht und einfach nicht mehr in Daniels Zimmer gewesen ist, als sie es durchsuchten. Und das konnte nur eins heißen: Jemand hatte ihn vorher entwendet, und zwar in dem Zeitraum zwischen Daniels Ermordung und dem Zeitpunkt, als er aufgefunden wurde. Und wer war in diesem Zeitraum in der Wohnung? Florentine und ihre Schwester, doch sie hatten den Ring nicht gehabt. Melanie hatte ihn. Also musste sie ihn geholt haben, und das unmöglich an diesem Morgen, sondern bevor die Polizei die Wohnung durchsucht hatte. Was nur eins bedeuten konnte: Sie musste in der Nacht, in der Daniel ermordet wurde, ebenfalls in seiner Wohnung gewesen sein, was sie allerdings mit keinem einzigen Wort erwähnt hatte...

Plötzlich wurde Kathy ganz kalt. Mit wachsendem Entsetzen blickte sie zu Melanie, die ihre zerkratzten Hände in ihrem Schoß knetete und jeden Blickkontakt mit Kathy vermied.

Sie war es!, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie hat ihren eigenen Bruder umgebracht! Dieser Verdacht war unfassbar, unglaublich, ungeheuerlich. Doch es gab keine andere Begründung, woher Melanie den Ring haben könnte.

„Warum hast du den Ring hergebracht?" Angestrengt versuchte Kathy, ihre Stimme so normal klingen zu lassen, wie möglich.

„Na ja, er gehört doch dir. Er hat ihn extra für dich machen lassen. Wahrscheinlich hat er ihn von dem erpressten Geld bezahlt."

Da war es wieder: Melanie ging es nur um das Geld. Die ganze Zeit sprach sie nur davon. Kein einziges Mal hatte sie während der letzten Tage in einem anderen Zusammenhang über ihren Bruder gesprochen oder auch nur auf irgendeine Weise echte Trauer gezeigt. Natürlich nicht, wenn sie ihn doch selbst getötet hatte...

„Warum gibst du den Ring nicht einfach zurück?"

„Die beim Juwelier nehmen ihn nicht mehr zurück", erklärte Melanie, wobei sie den Blick weiterhin gesenkt hielt und sich nervös mit den Handflächen über ihre Knie strich. „Ich habe keine Quittung."

Aha. Sie hätte den Ring also einfach wieder zurückgegeben, wenn sie gekonnt hätte. Obwohl, sie könnte ihn ja auch einfach wieder verkaufen.

„Warum bist du wirklich hier, Melanie?", fragte Kathy gerade heraus. Sie glaubte nicht daran, dass Melanie ihr einfach nur den Verlobungsring geben wollte. Da steckte mehr dahinter. Ganz bestimmt.

„Ich... ich glaube, ich weiß jetzt, wo das Geld ist", rückte Melanie zögernd mit der Sprache heraus.

Na klar, worum konnte es auch sonst gehen?

„Und wo?"

„Beim Potthoff-Hotel. Immer noch."

Was? War sie denn jetzt völlig durchgeknallt?

„Wir waren gestern dort. Da war kein Geld. Und wenn doch, dann hat die Polizei es jetzt schon längst gefunden."

Melanie schüttelte energisch den Kopf.

„Die haben nur drinnen gesucht. Aber das Geld ist nicht im Haus, da bin ich mir ziemlich sicher. Früher, als das Haus noch eine Villa gewesen ist, hatten die damaligen Besitzer auch Pferde besessen. Es gab sogar einen Stall und eine Scheune auf dem Grundstück. Ich habe Bilder davon gesehen, als es mal so eine Ausstellung über die Stadt gab. Aber egal... unter der Scheune gab es einen Lagerraum, in den man durch eine Falltür hereingehen konnte. Ich habe die Falltür mal gesehen, als wir früher dort gespielt hatten. Man hat sie unter dem Gras kaum ausmachen können und sie war zugenagelt. Wir konnten sie nicht aufbekommen damals. Gestern habe ich gar nicht mehr daran gedacht. Es ist mir erst nachher eingefallen, als wir schon auf dem Polizeirevier waren. Natürlich habe ich denen nichts gesagt. Die Falltür muss es immer noch geben, irgendwo unter dem ganzen Laub, das da rumliegt."

Verrückt. Das Ganze war nur noch verrückt. Anscheinend wollte Melanie nicht mehr lockerlassen, bis sie das verfluchte Geld endlich hatte.

„Woher willst du wissen, dass die Polizei die Falltür nicht gefunden hat?"

„Ich bin heute früh dort gewesen, bevor wir zu Daniels Wohnung gefahren sind. Ich wollte Mamas Wagen holen und habe mich dann nochmal dort umgesehen. Die ganzen Blätter liegen immer noch da. Niemand hat sie weggeräumt. Die Falltür muss irgendwo darunter sein. Die haben sie nicht gefunden."

Warum, zum Teufel, erzählte Melanie ihr das alles? Was wollte sie noch von ihr?

„Und warum bist du jetzt hier?", stellte Kathy die entscheidende Frage.

„Ich... ich brauche deine Hilfe. Nur noch dieses eine Mal! Ich kriege die Falltür alleine nicht auf und komme da vermutlich auch gar nicht alleine runter. Keine Ahnung, ob da überhaupt eine Treppe ist."

Nun hob Melanie doch den Kopf und sah Kathy bittend an. Die kleine, süße Melanie mit ihren großen, blauen Glubschaugen. Die kleine, süße Melanie, die ihren Bruder getötet hatte, nur, um an das Geld zu kommen. Nur, um an das verdammte Geld zu kommen. Völlig umsonst, wie sich herausgestellt hatte. Das Geld hatte sie immer noch nicht. Und Daniel war trotzdem tot.

Die Fassungslosigkeit, die Kathy soeben noch empfunden hatte, war abgeklungen und einer furchtbare Kälte gewichen, die sich in ihrem ganzen Körper ausbreitete, sie erzittern ließ und sich schmerzhaft um ihr Herz schloss. Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie Melanie wegschicken und dann zur Polizei gehen und denen von ihrem Verdacht berichten? Ja, vermutlich wäre das das einzig vernünftige, was sie machen konnte. Musste sie nicht noch irgendwo die Visitenkarte von Kommissarin Schillert haben, die diese ihr gegeben hatte, als sie die DNA-Probe von ihr genommen hatte? Sie musste sie in die Tasche der Jeans, die sie am Samstag getragen hatte, gesteckt haben.

„Also, hilfst du mir?", drang Melanies Stimme wieder zu ihr durch.

„Warum denn ausgerechnet ich?"

Unauffällig schielte Kathy zu dem Stuhl in der Zimmerecke, auf dem sich erneut ein kleiner Kleiderberg angehäuft hatte. Die Jeans konnte sie dort jedoch nicht entdecken. Vielleicht hatte sie sie doch ganz vorbildlich in den Wäschekorb im Badezimmer getan?

„Weil es sonst niemanden gibt, den ich fragen könnte!"

„Ähm... ich... ich weiß nicht, Melanie", druckste sie herum. „Nach der ganzen Sache gestern..."

„Bitte, Kathy, bitte!", piepste Melanie flehentlich.

Auf einmal konnte Kathy ihre Stimme nicht mehr ertragen. Sie konnte diese Person gar nicht mehr ertragen.

„Ich... muss kurz auf die Toilette. Bin gleich wieder da."

Sie stolperte aus dem Zimmer und eilte zum Bad. Auf dem Weg dorthin, angelte sie ihr Handy aus der Tasche ihrer Jacke, die in der Diele hing.

Im Badezimmer angekommen, schloss sie schnell die Tür hinter sich und sperrte diese mit dem Schlüssel von innen ab. Ihr Herz pochte heftig in ihrer Brust. Sie packte den Wäschekorb und kippte dessen Inhalt auf den Badezimmerboden. Die Jeans fiel mit einigen anderen Kleidungsstücken auf die Fliesen. Sie griff danach und durchforstete hastig die Taschen. In einer davon ertastete sie tatsächlich eine kleine Papierkarte, die sie herauszog. Sofort erkannte sie den Polizeistern mit NRW-Landeswappen in der Mitte, der in der rechten, oberen Ecke aufgedruckt war. Genau das gleiche Symbol hatte sie gestern in Übergröße auf dem beleuchteten Schild vor dem Polizeipräsidium gesehen. Links daneben standen Dienstgrad, vollständiger Name der Kommissarin und die Adresse des Präsidiums am Friesenring. Darunter erblickte sie zwei Telefonnummern, eine Festnetznummer und eine Mobilnummer. Mit zitternden Fingern tippte sie die Mobilnummer in ihr Handy ein. Unschlüssig blieb ihr Daumen über der Taste mit dem grünen Telefon schweben, nachdem sie die letzte Ziffer eingegeben hatte. Was sollte sie der Polizistin überhaupt sagen? Würde diese ihren Verdacht ernst nehmen? Konnte sie Melanie überhaupt so direkt bei der Polizei anschwärzen, ohne sicher zu wissen, ob sie nun wirklich die Mörderin war? Aber woher hatte sie sonst den Ring? Sie musste die Täterin sein, es gab einfach keine andere Alternative, wie sie in den Besitz des Ringes gekommen sein konnte!

Sie hat Daniel getötet. Den Menschen, den du geliebt hast, den Menschen, der dich geliebt hat, der einen Verlobungsring für dich anfertigen ließ, der dich heiraten und sein Leben mit dir verbringen wollte...

Anstatt auf den grünen Knopf zu drücken, speicherte Kathy die Nummer der Kommissarin in ihrem Telefonbuch ab und stopfte das Handy in ihre Hosentasche. Dann knüllte sie die Visitenkarte zusammen und warf sie mit den Klamotten in den Wäschekorb zurück. Anschließend betätigte sie die Spülung, schloss die Badezimmertür auf und ging zurück ins Wohnzimmer.

„Okay, ich helfe dir", sagte sie zu Melanie. Ihre eigenen Worte klangen für sie, als kämen sie von weit weg, als hätte nicht sie, sondern jemand anderes sie ausgesprochen.

„Wirklich?" Skeptisch schaute Melanie sie an und begann, auf ihrer Unterlippe herumzukauen, die bereits ganz wund und aufgeplatzt wirkte.

„Ja." Kathy erwiderte ihren Blick, ohne ihm auszuweichen. „Was brauchen wir? Eine Leiter, ein Seil, eine Taschenlampe?"

Was tust du da? Hör sofort auf damit! Abermals ignorierte sie die Stimme der Vernunft. Wie so oft in letzter Zeit.

„Seil, Taschenlampe und ein Nageleisen habe ich schon im Wagen. Nur die Leiter konnte ich nicht mitnehmen, ohne dass Papa es mitbekommen hätte", meinte Melanie bedauernd.

„Ich hab nur so einen kleinen Klapptritt unten im Keller. Der eignet sich wohl eher wenig, aber wir könnten ihn ja trotzdem mitnehmen. Für alle Fälle", erwiderte Kathy hilfsbereit.

„Gute Idee!" Voller Tatendrang sprang Melanie vom Sofa auf. „Gehen wir?"

„Ja, gleich. Ich ziehe mir nur passende Schuhe und meine Jacke an."

Wie ferngesteuert, lief Kathy in die Diele, dicht gefolgt von Melanie, und holte ihre festen Wanderschuhe aus dem Schuhschrank. Während Melanie, hibbelig von einem Fuß auf den anderen tretend, an der Wohnungstür wartete, zog sie sich die Schuhe und ihre Jacke an. Danach verließen sie gemeinsam die Wohnung und gingen die Treppe hinab bis in den Keller.

„Hm", machte Melanie beim Anblick des dreistufigen Klapptrittes. „Ich weiß gar nicht, wie tief es dort hinabgeht. Wahrscheinlich ist der wirklich zu klein. Eine einfache Leiter wäre sowieso besser."

Suchend blickte sie sich in Kathys kleinem Keller um, konnte aber anscheinend nichts Brauchbares entdecken. „Na ja, egal. Vielleicht gibt's dort doch schon eine eingebaute Leiter oder Treppe. Und wenn nicht, klettern wir mithilfe des Seils hinunter. Das sollte ja wohl irgendwie klappen."

Ja ja, sollte Melanie ruhig in dieses unterirdische Loch hineinklettern, um ihr heißgeliebtes Geld zu finden, dachte Kathy, als sie sich wieder auf den Weg aus dem Keller hinaus und nach draußen zu Melanies Wagen machten. Ob sie dort allerdings wieder hinauskommen würde, war eine ganz andere Frage...


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