22.
Die Informationen, die sie bisher über Luisas Freund hatten, waren zugegebenermaßen recht spärlich. Er hieß Jonas Lüscher, kam aus Warendorf, war Anfang dreißig und arbeitete als einfacher Sachbearbeiter in einer kleinen Versicherungsfiliale mit nur fünf Mitarbeitern.
Genau dort war er an diesem Tag nicht anzutreffen. Seine Chefin erklärte ihnen, dass er sich am Morgen wegen einer Handverletzung krankgemeldet hatte. Sehr erfreut schien sie darüber nicht zu sein, da es schon die zweite Krankmeldung innerhalb kürzester Zeit war. Beide Male war er angeblich vom Fahrrad gefallen.
„Vielleicht sollte man nicht Fahrrad fahren, wenn man so tollpatschig ist", zeterte die Frau verärgert.
Jessica hatte allerdings die starke Vermutung, dass nicht das Fahrradfahren, sondern Typen ähnlich dem Gorilla, den sie bei DeRose gesehen hatten, an den Verletzungen schuld sein könnten. Vielleicht war dieser sogar am Vortag zusammen mit seinem Boss bei Jonas gewesen, um ihn bei der Unterhaltung über Luisas Aufenthaltsort etwas gesprächiger zu machen.
Nachdem sie Jonas auf der Arbeit nicht angetroffen hatten, mussten sie es bei ihm zuhause versuchen. Er wohnte in Coerde im Stadtbezirk Nord, nicht gerade dem schönsten Viertel Münsters. Aber jemand, der sein ganzes Geld ständig irgendwo verzockte, konnte sich eine schicke Wohnung in der Stadtmitte, wie Dennis Schmidtmann sie dank seinem einflussreichen Papa hatte, bei Weitem nicht leisten, nicht einmal zur Miete.
Bei dem Haus, in dem Jonas Lüschers Wohnung lag, handelte es sich um ein schmutzig sandfarbenes, nicht besonders großes, dreistöckiges Mietshaus. Das Klingelschild mit seinem Namen befand sich ganz unten, was vermuten ließ, dass seine Wohnung im Erdgeschoss lag.
Anstatt direkt bei Jonas zu klingeln, drückte Plattenberg zuerst auf den Klingelknopf eines Nachbarn.
„Wer ist da?", ertönte eine Frauenstimme aus der Gegensprechanlage.
„Paketdienst!"
„Ich habe nichts bestellt!"
„Ist ja auch für Ihren Nachbarn."
Die Frau murmelte, dass man gefälligst zuhause sein soll, wenn man etwas bestellt, ließ sie aber rein.
Im Treppenhaus roch es abgestanden nach Essen. Blumenkohl, wie Jessica naserümpfend feststellte. Aus einer der Wohnungen im Obergeschoss war Kindergeschrei und Getrampel wie von einer ganzen Elefantenherde zu hören.
Tatsächlich befand sich Jonas' Wohnungstür direkt im Erdgeschoss.
„Jetzt Sie", sagte Plattenberg zu Jessica. „Bei Ihrer Kleinkinderstimme, wird er Sie wohl weniger für einen Mafiaschläger oder einen Geldeintreiber halten."
„Ha, ha, sehr lustig."
Sie klopfte. Kurz darauf hörte man leise, fast schon schleichende Schritte hinter der Tür, die davor verharrten, als die Person offenbar durch den Türspion blickte.
„Wer sind Sie?", fragte eine misstrauisch klingende Männerstimme durch die geschlossene Tür.
„Mein Name ist Jessica Schillert, ich bin von der Kriminalpolizei Münster. Bei mir ist mein Kollege, Herr Plattenberg", flötete Jessica in ihrem freundlichsten Tonfall. „Könnten wir bitte kurz reinkommen? Wir möchten mit Ihnen reden."
„Worüber?"
„Über Ihre Freundin, Luisa. Keine Angst, es ist reine Routine."
Ein kurzes Zögern. Dann wurde die Tür einen kleinen Spalt weit geöffnet, immer noch mit vorgelegter Türkette. Der gleiche Mann, den sie auf den Fotos in Luisas Wohnung bereits gesehen hatten, lugte durch den Spalt hindurch.
„Zuerst will ich Ihre Ausweise sehen."
Sie hielten nacheinander ihre Ausweise vor den Spalt. Danach löste er endlich die Kette, öffnete die Tür ganz und ließ sie in die Wohnung eintreten.
Jetzt erst erkannte Jessica, dass sein Gesicht mit mehreren Blutergüssen übersät war, die die verschiedensten Farben aufwiesen, von bläulich-violett bis grünlich-gelb. Der Farbpalette nach, mussten diese blauen Flecken schon etwas älter sein und konnten deshalb nicht von der gestrigen Unterhaltung mit den Mafiosi herrühren. Dafür hatte Jessica eher den Gipsverband an Jonas' linker Hand in Verdacht, der um seinen kleinen Finger und den Ringfinger gelegt war. In ihrer Vorstellung lief sofort ein Film ab, wie der Schrank-Typ aus dem DeRose Jonas' Finger in seine riesige Pranke nahm und sie so lange zurückbog, bis ein grässliches Knacken ertönte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken und sie war zum wiederholten Male froh, dass ihre eigenen zehn Finger alle noch heil waren. Und die von Plattenberg auch. Was sich durchaus noch ändern könnte, falls sich DeRose doch noch entschied, ihm einen Denkzettel zu verpassen...
Beim Anblick des Wohnungsinneren konnte Jessica gut verstehen, wieso Luisa nicht mit ihrem Freund zusammengezogen war. Es herrschte eine ähnliche Unordnung wie in Daniels WG. In der Diele lagen mehrere Schuhpaare in einem Haufen auf dem Boden, anstatt im Schuhregal zu stehen und eine Jacke hing, halb auf links gedreht, an der Garderobe und war kurz davor, herunter zufallen. Darunter lag, achtlos hingeworfen, ein dunkler Rucksack. Auch das Wohnzimmer, in das Jonas sie beide schließlich führte, sah nicht besser aus. Auf dem Sofa lagen zahlreiche Autozeitschriften überall verstreut und mittendrin stand ein Pizzakarton mit halb aufgegessenem Inhalt. Auf dem Wohnzimmertisch stapelte sich benutztes Geschirr, das bestimmt schon mehrere Tage alt war. Gewischt und gestaubsaugt wurde vermutlich auch nur einmal im Jahr.
Plattenberg verzog leidend das Gesicht, als würde ihm der Anblick dieses Chaos fast schon körperliche Schmerzen bereiten. Mitten im Raum blieb er stehen, mit einem ausreichenden Sicherheitsabstand zu dem Sofa, der Pizza und dem versifften Geschirr.
„Wer war denn der Künstler?", wandte er sich an Jonas Lüscher.
„Was?"
„Wer Ihr Gesicht so farbenfroh angemalt hat, wollte ich wissen. Unsere italienischen Freunde waren es gestern wohl nicht. Das sieht mir schon ein bisschen älter aus."
„Ich bin vom Fahrrad gefallen", versuchte Jonas sich herauszureden und strich fahrig seine braunen Haare zurück, die ihm unordentlich ins Gesicht fielen.
„Ah ja, und dabei ragte zufällig eine Faust aus dem Boden, auf die Sie mit dem Gesicht drauf gefallen sind", erwiderte Plattenberg und fixierte den anderen Mann mit seinem Röntgenblick. „Ich tippe eher auf Russisch Inkasso, oder ähnlich nette Leute, die Ihre Spielschulden eintreiben wollten. Habe ich recht?"
Wie ertappt blickte Jonas auf seine Füße und begann, an seinem Gips herumzufummeln.
„Ich glaube, das waren keine Russen", gab er schließlich zu. „Die haben sich zwar ähnlich angehört, aber doch anders. Eher nach Balkan. Serben, vielleicht."
„Und Ihre Hand?", fragte Jessica mitfühlend. „Waren das die Italiener?"
Mit großen Augen blickte Jonas sie an. „Woher wissen Sie das?"
„Die haben uns das selbst gesagt. Na ja, mehr oder weniger."
Langsam ließ Jonas sich aufs Sofa sinken, zwischen die Pizzaschachtel und eine aufgeschlagene Autobild.
„Die haben mir zwei Finger gebrochen", klagte er mit weinerlicher Stimme.
„Sie können gerne mit uns aufs Präsidium kommen und Anzeige erstatten", bot Plattenberg hilfsbereit an.
Doch Jonas schüttelte nur den Kopf.
„Was wollten die denn von Ihnen?", fragte der Kommissar weiter und ließ seinen üblichen, leicht verächtlichen Blick durch das Zimmer schweifen.
„Haben die Ihnen das denn nicht auch gesagt?", wich Jonas erneut aus.
„Doch, schon. Genau deshalb sind wir hier." Plattenbergs Blick blieb wieder an Jonas haften. „Wir würden es gerne noch einmal von Ihnen hören."
Unbehaglich rutschte Jonas auf dem Sofa herum.
„Die wollten wissen, wo Luisa ist. Ich... ich hab ihnen gesagt, dass sie tot ist."
„Woher wussten Sie das? Die Lokalzeit wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgestrahlt, wenn mich nicht alles täuscht."
„Luisas Mutter hatte mich vorher angerufen und es mir gesagt."
Das klang durchaus plausibel. Die Kollegen im Saarland hatten Luisas Mutter kurz nach dem Leichenfund bereits informiert. Wenn die Mafiosi erst nachmittags bei Jonas gewesen sind, konnte er sie also schon über den Tod seiner Freundin aufklären.
„Wie haben Sie die Nachricht von Luisas Tod aufgenommen?"
„Ich war natürlich erschüttert! Ich kann es immer noch nicht glauben..."
„Erschüttert worüber? Dass Ihre geliebte Freundin nicht mehr lebt? Oder darüber, dass Sie Ihnen das Geld nicht geben konnte, bevor sie starb?"
Entgeistert starrte Jonas Plattenberg an. „Was? Welches Geld?"
„Das Geld, das Luisa zusammen mit ihrem Bekannten, Daniel, von den Mandanten ihres Chefs erpresst hat. Und jetzt sagen Sie mir nicht, Sie wussten nichts davon. Schließlich war es irgendwie auch Ihr Geld, zumindest war es für Sie bestimmt."
„Und die Italiener haben Sie gestern auch nach dem Geld gefragt", gab Jessica zu bedenken. „Also wussten Sie spätestens dann davon."
Jonas holte tief Luft. Anscheinend wurde ihm klar, dass abstreiten nichts bringen würde.
„Okay, ich wusste von dem Geld. Es war Luisas eigene Idee, es auf diese Weise aufzutreiben. Ich hatte damit nichts zu tun!", beteuerte er. „Und ich wusste und weiß immer noch nicht, wo es ist. Genau das hab ich diesen Typen gestern auch gesagt!"
Vorsichtig schob Plattenberg ein paar der Zeitschriften auf dem Sofa beiseite und setzte sich nun doch darauf, direkt neben Jonas, der sofort ein Stück wegrückte und sich dabei beinahe in die Pizza gesetzt hätte.
„Wie fanden Sie es eigentlich, dass Luisa Ihnen das Geld so lange nicht aushändigte?", fragte der Kommissar im Plauderton. „Es war doch schließlich dafür gedacht, Ihre Spielschulden zu begleichen, oder nicht? Erweckte das bei Ihnen nicht den Verdacht, dass sie das Geld womöglich doch lieber für sich behalten wollte?"
„Aber... sie wollte es doch schon holen!", wimmerte Jonas.
Plattenberg rutschte wieder näher an ihn heran. „Wann?"
„Letzte Woche", kiekste der Befragte.
„Nicht zufällig am Dienstagabend?"
„Ich weiß nicht... Kann sein..."
„Und Sie haben ihr nicht zufällig dabei geholfen und sind mit ihr zusammen zu Daniel Hubner gefahren, um ihn zu fragen, wo er das Geld versteckt hat?"
„Ich... Nein! Ich kenne diesen Daniel überhaupt nicht!" Die Verzweiflung in Jonas' Stimme war nicht mehr zu überhören.
Der ist ja noch schlimmer als Rohrbach, dachte Jessica bei sich.
„Wussten Sie, dass Daniel auch tot ist? Genau wie Ihre Freundin?", raunte Plattenberg Jonas ins Ohr. „Er wurde letzte Woche getötet. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch."
„Was?", rief Jonas, sprang vom Sofa auf und stolperte rückwärts, bis er mit dem Rücken gegen ein Regal mit DVDs und Videospielen stieß. Der Stoß ließ zwei davon zu Boden fallen. „Glauben Sie etwa, dass ich ihn getötet habe? Ich hab ihn nie im Leben gesehen!"
„Beruhigen Sie sich!", versuchte Jessica, ihn zu beschwichtigen. „Wenn Sie uns sagen können, wo Sie in der genannten Nacht von ca. 22.00 bis 2.00 Uhr stattdessen waren, könnten wir Sie als Täter sofort ausschließen."
„Ich...ich war bei einem Freund", behauptete Jonas. „Wir haben zusammen gezockt und dann sind wir noch ein paar Bier trinken gegangen. Danach hab ich bei ihm gepennt, weil es schon zu spät war, um heimzufahren."
„Dann schreiben Sie uns den vollständigen Namen, die Adresse und die Telefonnummer von diesem Freund bitte auf." Jessica hielt ihm ihr Notizbuch und einen Stift hin.
Er nahm den Stift, kritzelte etwas auf das Papier und gab ihr anschließend den Stift wieder. Sie schaute sich das Gekritzel kurz an und packte alles wieder in ihre Jackentasche.
„Und wo waren Sie letzten Freitag, von 20.00 Uhr bis Mitternacht?", wollte Plattenberg wissen.
„Da war ich hier."
„Allein?"
Jonas schluckte schwer. „Ja."
Ohne darauf etwas zu erwidern, stand Plattenberg auf und schlenderte langsam Richtung Zimmertür.
„Waren Sie kürzlich in der Natur wandern, Herr Lüscher?", wechselte er urplötzlich das Thema.
„Wandern? Äh...nein." Völlig verständnislos schaute Jonas zu, wie der Kommissar an Jessica vorbei durch die offene Zimmertür in die Diele trat.
Auch Jessica konnte sich keinen Reim darauf machen, was das nun wieder sollte. Aus Erfahrung wusste sie aber inzwischen, dass solche Spielchen bei Plattenberg durchaus System hatten.
„Kommen Sie mal bitte her zu mir, Herr Lüscher?"
Jonas zögerte ängstlich.
„Jetzt kommen Sie schon, trauen Sie sich! Ich beiße auch nicht."
Obwohl er sich da nicht so sicher zu sein schien, kam Jonas der Aufforderung nach. Jessica folgte ihm.
Plattenberg deutete auf ein Paar schwarzer Sneaker, die in dem Schuhberg auf dem Boden lagen. „Sind das Ihre Schuhe?"
Als Jessica bemerkte, dass die Schuhe über und über mit eingetrockneter Erde verdreckt waren, wurde ihr auf einmal klar, worauf er hinauswollte.
„Ähm ja, wieso?"
„Sind die immer so dreckig? Oder erst seit letztem Freitag?"
Jonas öffnete den Mund, um zu antworten, bekam aber keinen Ton heraus.
„Ich bin sicher, dass wenn wir die Erde an Ihren Schuhen mit einer Bodenprobe von der Stelle am Seeufer, wo Luisa zu Tode kam, vergleichen, wir eine Übereinstimmung haben werden. Weil Sie mit ihr dort waren, sie getötet und ihre Leiche anschließend in den See geworfen haben. Ist es nicht so, Herr Lüscher?"
„Ich...ich...", stammelte Jonas, stockte und schluchzte leise auf. „Ich war mit Luisa dort am See", stieß er schließlich gepresst hervor.
„Warum ausgerechnet dort?", fragte Jessica.
„Damit...damit die Schlägertypen und sonst noch wer uns nicht sehen. Hier oder bei ihr fand ich es zu unsicher."
„Sie haben sich also am Seeufer getroffen, um unbeobachtet zu sein", fasste Plattenberg zusammen. „Was ist dann geschehen?"
„Es hat geregnet, deshalb haben wir uns unter diesen Unterschlupf gestellt", fuhr Jonas fort. „Dann wollte ich wissen, ob sie das Geld geholt hat. Aber sie meinte, dass sie es nicht finden konnte."
Er verstummte erneut.
„Doch Sie haben ihr nicht geglaubt, nicht wahr? Sie dachten, sie wollte das Geld für sich behalten."
Langsam nickte Jonas. „Dann... dann sagte sie, dass sie es mir auch nicht geben könnte, wenn sie es finden würde. Sie meinte, dass sie es zurückgeben musste. Zurückgeben!"
Verzweifelt schloss er die Augen. „Da wusste ich ja noch nicht, dass sie es diesem Mafiatypen geben musste. Sie hat's mir nicht gesagt! Ich habe versucht ihr zu erklären, dass ich das Geld wirklich brauchte! Ich wollte nicht, dass diese Typen nochmal kommen, verstehen Sie? Dabei... dabei hab ich sie an ihrem Mantel gepackt und sie geschüttelt. Und dann... dann hab ich sie weggestoßen."
Er schniefte und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. „Ich habe sie wirklich nur ganz leicht geschubst! Aber sie, sie stolperte... und fiel nach hinten. Ich hab ja noch versucht sie festzuhalten! Aber sie... ist mir einfach aus der Hand gerutscht!"
Nun brach er endgültig in Tränen aus und vergrub sein Gesicht in den Händen.
„Sie ist gefallen und ist mit dem Kopf gegen diese beschissene Bank gestoßen, die da herumstand", schluchzte er gedämpft in seine Handflächen. „Und dann lag sie da und hat sich nicht bewegt und nicht mehr geatmet!"
Wie ein kleines Kind, weinte er vor sich hin. Jessicas Mitleid hielt sich in Grenzen. Was war das bitte für ein Typ? Ließ sich von seiner Freundin illegal die Kohle für seine Spielschulden beschaffen und als sie ihm diese dann doch nicht geben wollte, tötete er sie, wenn auch aus Versehen, und warf sie dann in den See! Und jetzt flennte er herzerweichend vor sich hin. Nein, der hatte nicht wirklich Mitleid verdient, zumal er sich selbst schon genug bemitleidete.
„Nun, Herr Lüscher, auch wenn Sie behaupten, Luisas Tod nicht absichtlich herbeigeführt zu haben und sogar einiges dafür spricht, müsste ich Sie jetzt trotzdem bitten, uns aufs Präsidium zu begleiten", meinte Plattenberg, nachdem er Jonas recht teilnahmslos eine Weile lang beim Heulen zugesehen hatte.
Nach ein paar weiteren Augenblicken beruhigte Jonas sich etwas und rieb sich die Tränen aus den Augen.
„Könnte... könnte ich vorher noch auf Toilette gehen?", fragte er zögerlich.
„Aber selbstverständlich, wir sind doch keine Unmenschen."
Plattenberg ging voraus zum Badezimmer, öffnete die Tür und entnahm den Schlüssel, der innen im Schlüsselloch steckte.
„Reine Vorsichtsmaßnahme. Bitte sehr."
Langsam schlurfte Jonas an ihm vorbei und warf ihm dabei einen skeptischen Blick zu.
„Keine Angst, ich komme nicht mit rein. Aber beeilen Sie sich."
Die Tür fiel hinter Jonas zu. Kurz darauf hörte man laut und deutlich das Plätschern, als er zu pinkeln begann. Peinlich berührt räusperte Jessica sich, steckte die Hände in ihre Jackentaschen und tat so, als würde sie nichts hören.
„Sie könnten in der Zwischenzeit die Schuhe einpacken", schlug Plattenberg vor.
„Schon wieder ich", brummte sie, holte aber trotzdem Handschuhe und Beweismitteltüte aus der Tasche und begann, die Beweisstücke einzupacken. Jemandem beim Pinkeln zuzuhören, war schließlich auch nicht viel besser.
Gerade als sie fertig war, ertönte die Spülung. Dann hörte man, wie der Wasserhahn lief. Und lief. Und lief.
„So lange kann man sich doch gar nicht die Hände waschen", sagte Jessica, die bereits Böses ahnte.
Plattenberg klopfte an die Tür. „Herr Lüscher? Sind Sie fertig? Wir müssen jetzt los!"
Keine Antwort. Er riss ohne Vorwarnung die Tür auf. Das Badezimmer war menschenleer, der Wasserhahn lief und das Fenster stand sperrangelweit offen.
„Scheiße!", rief Jessica, stürzte zum Fenster und sah hinaus. Sie sah, wie Jonas über die Rasenfläche hinter dem Haus davonrannte. Wie, zur Hölle, konnte er mit einer Gipshand so schnell aus dem Fenster klettern?
„Er haut ab!"
„Na, worauf warten Sie dann? Hinterher!" Bedeutungsschwer sah Plattenberg von ihr zum offenen Fenster und wieder zurück.
Nicht, ohne ihm einen finsteren Blick zuzuwerfen, legte sie die Beweismitteltüte auf den Boden und begann ihrerseits, aus dem Fenster zu klettern.
„Ich nehme den regulären Weg durch die Tür", rief ihr Kollege ihr noch zu und verschwand durch die Badezimmertür.
War ja klar! Willst dir nur nicht schon wieder die Klamotten ruinieren!
Glücklicherweise war das Fenster nicht allzu hoch, sodass Jessica gefahrlos auf den Füßen landete und sofort lossprinten konnte. Jetzt war es schon der zweite Tag hintereinander, wo sie irgendjemandem hinterherjagen musste!
Weiter vorne schaute Jonas sich gehetzt um und wurde, als er sah, dass sie ihm folgte, noch schneller. Für jemanden, der kürzlich erst zweimal verprügelt wurde, war er erstaunlich gut unterwegs.
Sie beschleunigte ebenfalls und schaffte es, seinen Vorsprung etwas zu verkürzen. Gequält stöhnte sie auf, als sie sah, dass er direkt auf einen niedrigen Zaun zusteuerte, hinter dem ein kleiner Spielplatz mit Rutsche, Schaukel und Sandkasten lag. Überraschend flink kletterte er über den Zaun und lief über den Spielplatz, der an diesem kalten, verregneten Tag völlig verwaist war. Jessica verfluchte noch einmal ihren Herrn Kollegen, nahm Anlauf und setzte wie eine Hürdenläuferin über den Zaun. Zum Glück blieb sie nicht daran hängen und strauchelte nur kurz, als sie auf der anderen Seite aufkam.
Mittlerweile hatte Jonas den Spielplatz zur Hälfte überquert. Auf Höhe des Sandkastens, der eigentlich nicht mehr als ein mit Sand gefülltes Loch ohne Abgrenzung war, rutschte er plötzlich auf einer matschigen Ansammlung nasser, brauner Blätter aus und geriet ins Stolpern. Das bremste ihn aus, sodass Jessica ihn endlich einholen konnte. Sie rannte gegen ihn und stieß ihn dabei um, fiel jedoch selber ebenfalls. Sie landeten beide in dem nassen Sand. Kurz rauften sie miteinander, doch obwohl er größer und schwerer war, schaffte Jessica es irgendwie, ihn auf den Rücken niederzuringen und sich rittlings auf ihn zu setzen.
„Sie sind festgenommen!", japste sie atemlos und versuchte ihn so festzuhalten, dass sie mit einer Hand nach ihren Handschellen greifen konnte.
In dem Moment schaffte er es, seine linke Hand freizubekommen und schlug ihr seinen Gips mitten aufs Auge. Der Schlag war so fest, dass sie zur Seite geschleudert wurde und rücklings im nassen, kalten Sand landete.
Benommen drehte sie den Kopf zur Seite. Jonas versuchte gerade, sich mithilfe seiner gesunden Hand aufzurichten, als ein handgefertigter, dunkelbrauner, italienischer Schuh auf seiner Schulter landete und ihn wieder zu Boden drückte.
„So, Freundchen, schön liegen bleiben", sagte Plattenberg seelenruhig und sah von oben auf den Gefangenen herab. „Das ist aber nicht die feine Art, meiner lieben Kollegin einfach Ihren Gipsarm ins Gesicht zu rammen. Das scheint bei Ihnen allerdings Gewohnheit zu sein, wie wir an dem traurigen Schicksal Ihrer Freundin sehen können."
„Ich habe sie nicht getötet!", rief Jonas schrill. „Das habe ich Ihnen doch vorhin gesagt!"
„Und warum sind Sie dann weggelaufen?", fragte Jessica und setzte sich auf. Vorsichtig betastete sie die Haut und den Wangenknochen unter ihrem rechten Auge. Es tat zwar weh, fühlte sich aber nicht gebrochen an.
„Weil ich dachte, dass Sie mir sowieso nicht glauben! Tun Sie ja auch nicht!"
„Na, jetzt erst recht nicht." Sie löste ihren zerzausten Pferdeschwanz auf und versuchte, sich den Sand aus den Haaren zu schütteln, was ihr jedoch nicht gelang, da dieser nass war und weiterhin haften blieb.
„Verdammte Scheiße!", fluchte sie frustriert.
„Sind Sie in Ordnung, Frau Schillert?", erkundigte sich Plattenberg nach ihrem Wohlergehen.
„Ging mir noch nie besser!", keifte sie zurück.
„Das freut mich zu hören." Er holte seine Handschellen hervor, nahm seinen Fuß von Jonas' Schulter, beugte sich zu ihm herunter und zog ihn wieder auf die Füße. Anschließend legte er ihm eine Handschelle um das rechte Handgelenk. Als er merkte, dass das bei dem linken wegen des Gipses nicht klappen würde, kettete er Jonas kurzerhand an sich selbst.
„Jetzt müssen Sie mich leider mitnehmen, falls Sie wieder türmen wollen."
Er drehte sich zu Jessica und hielt ihr seine freie Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Sie ignorierte das und rappelte sich von alleine auf.
Schulterzuckend griff Plattenberg in seine Anzugtasche und holte sein Handy heraus.
„Ich rufe jetzt den Abholdienst für unseren Freund hier. Vielleicht sind Sie ja fertig mit Schmollen, bis er hier eintrifft."
Nur mit Mühe widerstand Jessica dem Impuls, ihm den Mittelfinger zu zeigen.
Eine halbe Stunde später saß Jessica in ihrem Wagen vor dem Miethaus und betrachtete im Rückspiegel die bläulich-rote Verfärbung unter ihrem Auge. Die Einladung ihrer Mutter, die Tage mal zum Abendessen vorbeizukommen, musste sie jetzt wohl ablehnen. Sonst würden ihre Eltern sich nur unnötig Sorgen machen und sich in ihrer Meinung bestärkt fühlen, dass eine junge Frau nichts bei der Polizei verloren hatte.
Der herbeigerufene Streifenwagen hatte Jonas Lüscher bereits abgeholt. Ein Team von der KTU war gerade dabei, seine Wohnung nach weiterem, möglichen Beweismaterial abzusuchen. Seine Erzählung deckte sich zwar mit dem Befund der Rechtsmedizin, trotzdem konnten sie nicht sicher sein, dass er Luisa nicht doch vorsätzlich getötet hatte. Damit konnte sich aber der Staatsanwalt herumschlagen. Das einzige, was sie noch tun mussten war, Jonas' Alibi für Daniels Todeszeitpunkt zu überprüfen. Wenn er diesbezüglich die Wahrheit sagte, hieß es, dass Daniels Mörder immer noch frei herumlief. Oder war es doch Luisa selbst gewesen?
Jessicas Gedanken wurden unterbrochen, als die Beifahrertür aufging und Plattenberg zu ihr in den Wagen stieg. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie er sie forschend von der Seite ansah.
„Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?"
„Seit wann interessiert Sie das?", entgegnete sie grimmig.
„Es hat mich schon immer interessiert, denn wenn es Ihnen gut geht, geht es mir ebenfalls gut."
Wieder einmal spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
„Versuchen Sie gar nicht erst, sich bei mir einzuschleimen. Das einzige, was Sie interessiert ist doch, dass Ihre Klamotten nicht dreckig werden."
„Oh, ich fürchte, damit habe ich heute erneut kein Glück." Bedauernd sah er an sich herunter und rieb über einen kleinen Schmutzfleck auf dem rosafarbenen Stoff seines Hemdes. „Das muss passiert sein, als unser Herr Lüscher und ich kurzzeitig zu siamesischen Zwillingen wurden."
„Ich bin mir sicher, Sie haben außer Wechselschuhen irgendwo auch ein paar Ersatzhemden", bemerkte Jessica spöttisch.
„Das haben Sie sehr richtig erfasst."
Diese Antwort überraschte sie nicht.
„Karren Sie eigentlich Ihren gesamten Kleiderschrank mit sich herum?"
„Man muss eben für alle Eventualitäten gewappnet sein."
Kopfschüttelnd ließ sie den Motor an und fuhr los. Ein kleines Grinsen konnte sie sich aber dennoch nicht verkneifen.
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