2.
Schon aus einiger Entfernung erkannte Jessica, in welchem Haus die Leiche gefunden worden war. Es handelte sich dabei um einen für das Münsteraner Kreuzviertel typischen Altbau, der eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte. Davor parkten zwei Streifenwagen, ein Leichenwagen und das Einsatzfahrzeug des Erkennungsdienstes, im alltäglichen Sprachgebrauch auch als Spurensicherung bekannt. Der Rettungswagen, der nach dem Notruf als erstes eingetroffen sein musste, um möglicherweise noch Wiederbelebungsmaßnahmen durchführen zu können, war scheinbar schon wieder weggefahren, denn hier gab es für die Rettungskräfte nichts mehr zu tun. Der Notarzt hatte nur noch den Tod feststellen können.
Jessica parkte ihren Wagen in einer ein paar Meter entfernten Parklücke, stieg aus und lief zu den Streifenwagen. Auf dem Rücksitz von einem davon saß ein junger Mann mit etwas zu langen, leicht fettig wirkenden, dunkelblonden Haaren. Er sah sichtlich verstört aus und von ihm wehte eine deutliche Alkoholfahne zu Jessica herüber. Der neben der offenen Autotür stehende Streifenbeamte nickte ihr zur Begrüßung zu.
„Er hat den Toten gefunden. Ist der Mitbewohner", klärte er Jessica auf.
„Wurde er schon befragt?", wollte sie wissen.
„Das macht zum jetzigen Zeitpunkt wohl eher wenig Sinn. Er ist ziemlich durcheinander und auch ganz schön betrunken. Ihr Kripo-Freund hat es zwar versucht, aber ohne großen Erfolg." Den letzten Satz sprach der Streifenpolizist nicht ohne eine gewisse Genugtuung aus.
„Er ist ganz bestimmt nicht mein Freund", stellte Jessica klar, die bereits ahnte, wer gemeint war. Ihre Laune, die sowieso schon nicht die beste war, sank endgültig auf den Nullpunkt.
Das Treppenhaus wirkte ebenso heruntergekommen wie die Hausfassade, das Haus war scheinbar noch nicht saniert und modernisiert worden, im Gegensatz zu anderen Altbaugebäuden im Kreuzviertel. Das würde aber unweigerlich bald schon geschehen, und dann würde es sich mit den erschwinglichen Mieten auch hier erledigt haben.
Die betreffende Wohnung lag im ersten Stock. Bevor Jessica sie betrat, drückte ihr ein Mitarbeiter der Kriminaltechnik einen weißen Einweg-Ganzkörperschutzanzug in die Hand, den sie sich überzog, ebenso wie die weißen Latex-Handschuhe.
Schon auf den ersten Blick war die Wohnung als Studentenbude zu erkennen. Es herrschte heillose Unordnung, die noch zusätzlich von den Leuten von der KT verstärkt wurde. Die meisten von ihnen wuselten in der mit vorsintflutlichen Möbeln und Küchengeräten ausgestatteten und in einem schmutzig beigefarbenen Ton gefliesten Küche herum.
Jessica trat auf die Küchenschwelle und wäre dabei fast in eine große Pfütze Erbrochenes getreten, konnte aber gerade noch rechtzeitig ausweichen. Scheinbar war aber jemand anderes schon hineingetreten, wie die verschmierten Fußspuren verrieten.
Sie warf einen vorsichtigen Blick in den Raum. Auf dem Boden lag der Tote, ein junger Mann, ungefähr im selben Alter wie der Typ im Streifenwagen. Nicht älter als Mitte zwanzig. Die dunklen Haare auf seinem Hinterkopf waren mit Blut verklebt, was daran lag, dass sein Schädel an dieser Stelle eingeschlagen worden war. Neben seinem Kopf hatte sich eine mittelgroße Blutlache gebildet, von der verschmierte, blutige Fußspuren ausgingen. Ein ekelerregender Geruch nach Blut und halb Verdautem hing in der Luft.
Was für ein Glück, dass ich heute noch nicht gefrühstückt habe, dachte Jessica erleichtert. Sie würde sich wohl nie an den Anblick von Leichen gewöhnen können, dessen war sie sich sicher, obwohl sie erst ein knappes Jahr beim Kriminalkommissariat 11 der Kripo Münster arbeitete, das unter anderem für Tötungsdelikte zuständig war.
„Ach, Frau Schillert! Sie sind also die versprochene Unterstützung. Nun gut, es hätte mich auch weitaus schlimmer treffen können", sagte eine ihr wohlbekannte Stimme hinter ihr.
Sie wandte sich um und erblickte ihren bereits erwähnten Kripo-Freund Kriminalhauptkommissar Alexander Plattenberg, der sie mit seinem typischen überheblichen Blick musterte.
Was für eine nette Begrüßung mal wieder. Kein Wunder, dass dich niemand leiden kann, dachte Jessica bei sich.
„Ich kann auch nicht behaupten, dass ich sehr froh über Ihre Gesellschaft bin", erwiderte sie ebenso freundlich.
„Sie sind heute aber mies drauf. Und das, obwohl wir endlich wieder einen echten Mord haben! Wie sagt man so schön: Eine Leiche am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen."
Jessica musste sich sehr zusammenreißen, um nicht genervt aufzustöhnen.
„So kannte ich diesen Spruch vorher noch nicht."
„Das ist ja auch meine abgewandelte Eigenkreation."
„Ach, haben Sie jetzt auch Ihr großes, dichterisches Talent entdeckt?"
„Vielleicht hatte ich es immer schon", erwiderte Plattenberg. „Vergessen Sie nicht: Ich komme aus Düsseldorf, der Geburtsstadt von Heinrich Heine."
Er trat zu Jessica und deutete auf den Toten.
„Darf ich vorstellen: Daniel Hubner, 24 Jahre alt, Jurastudent an der Westfälischen Wilhelms-Universität. Hat hier in der Wohnung ein Zimmer bewohnt. Sein Mitbewohner, Lukas Machek, hat ihn heute Morgen gefunden, als er von einer Party zurückgekehrt ist. Dabei hat er uns dann auch seinen Mageninhalt als Geschenk hinterlassen, und diese ganzen Fußspuren hier."
Der Kommissar schüttelte missbilligend den Kopf.
„Man findet ja nicht jeden Tag seinen Mitbewohner mit eingeschlagenem Schädel in der Küche", gab Jessica zu bedenken.
„Na ja, wie dem auch sei. Die Küche ist auch vorher nicht unbedingt viel sauberer gewesen. Wahrscheinlich klebt hier noch der Dreck vom Vorvormieter an den Fliesen", meinte Plattenberg verächtlich. „Umso verdächtiger wirkt das hier auf mich."
Er schlängelte sich zwischen den Mitarbeitern der Spurensicherung hindurch zum Waschbecken und winkte Jessica heran. Dort lag ein Fleischhammer, den offenbar jemand vor einigen Stunden sorgfältig abgespült hatte.
„Das scheint mir die Tatwaffe zu sein. Wahrscheinlich hat man ihm damit von hinten den Kopf eingeschlagen", äußerte Plattenberg seine Vermutung. „Nach einem Unfall sieht es nicht aus, sonst müsste es an irgendeiner Kante, an der er sich hätte stoßen können, Blutspuren geben und die Leiche würde anders liegen. Sich selbst mit dem Fleischhammer auf den Hinterkopf geschlagen hat er aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass er es wohl kaum geschafft hätte, hinterher auch noch den Hammer abzuwaschen."
Tatsächlich musste Jessica ihrem Kollegen Recht geben. Der Fleischhammer in der Spüle sah genau richtig aus, um jemandem damit den Schädel einzuschlagen und die Lage der Leiche deutete wirklich darauf hin, dass Daniel Hubner vornüber gefallen war.
„Na, wenn Sie schon alles wissen, können wir ja wieder gehen, oder?", bemerkte einer der Kriminaltechniker, der gerade Proben von ein paar kleinen Blutspritzern an der Wand nahm.
„Tun Sie sich keinen Zwang an", antwortete Plattenberg wegwerfend.
„Und die Spuren werten Sie auch selber aus? Mit Ihrem Chemiebaukasten?", stichelte der Typ weiter und lachte. Einige seiner Kollegen stimmten mit ein.
Während er antwortete, blieb Plattenbergs Gesichtsausdruck völlig unverändert:
„Wahrscheinlich wäre sogar ein Grundschüler mit einem Chemiebaukasten aus der Spielwarenhandlung schneller und effizienter als Sie und man müsste nicht wochenlang auf den Bericht warten. Besser geschrieben wäre der Bericht dann vermutlich auch noch."
Der Mann von der KT hörte auf zu lachen und blickte den Kommissar böse an.
„Arschloch", murmelte er laut genug, dass jeder im Raum es hören konnte und fuhr mit seiner Arbeit fort.
„Danke, gleichfalls", erwiderte Plattenberg und wandte sich wieder an Jessica, die es bevorzugte, den Schlagabtausch unkommentiert zu lassen. Sie wollte ganz bestimmt nicht zwischen die Fronten geraten. Es sich mit dem Kriminaltechniker zu verderben, war bestimmt nicht sehr klug und mit Plattenberg erst recht, denn mit ihm musste sie sich bedauerlicherweise auch noch das Büro teilen.
„Wo waren wir stehen geblieben?", riss Plattenbergs Stimme sie wieder aus ihren Gedanken.
Neben dem Hammer entdeckte Jessica in der Spüle noch ein frisch gespültes Glas, während sich daneben weiteres dreckiges Geschirr unberührt stapelte.
„Möglicherweise hat der Täter daraus getrunken und es nach dem Mord abgewaschen. Das würde darauf hindeuten, dass Täter und Opfer sich kannten", mutmaßte sie.
„Gut möglich", stimmte Plattenberg ihr zu. „Es gibt auch keine sichtbaren Einbruchsspuren. Er muss den Täter also entweder selbst hereingelassen haben, oder dieser hatte einen Schlüssel."
„Der Mitbewohner hat einen Schlüssel", sagte Jessica. „Vielleicht war der gar nicht auf der Party..."
„Eine etwas komplizierte Aktion, den Mitbewohner umzubringen und dann so zu tun, als hätte man ihn gefunden, finden Sie nicht?", wandte Plattenberg nachdenklich ein. „Er wirkte durchaus aufrichtig verstört auf mich, oder hat zumindest sehr überzeugend so getan. Man kann ja nie wissen: Manche Menschen liefern im echten Leben eine bessere Vorstellung ab, als so manch ein Oscarpreisträger im Film."
Der Hauptkommissar hielt inne, als eine Mitarbeiterin der Spurensicherung auf sie zukam.
„Einige Stellen auf der Küchenarbeitsplatte und auch auf dem Boden sehen aus, als hätte jemand drüber gewischt", unterrichtete sie die beiden Kripobeamten. „Das könnte auch der Täter gewesen sein, wenn man sich den übrigen Zustand der Küche so ansieht."
Sie hatte Recht, denn sonst sah die Küche eher so aus, als hätte sie wochenlang niemand geputzt. Der am Kühlschrank hängende Putzplan schien wohl eher dekorativer Natur zu sein.
„Da wahr wohl jemand geistesgegenwärtig genug gewesen, um seine Spuren zu beseitigen", stellte Jessica fest.
Es sah also immer weniger nach Affekt und immer mehr nach einem kaltblütigen Mord aus. Doch wer könnte einen Grund haben, einen stinknormalen Studenten umzubringen?
„Wie wärs, wenn wir uns seine Sachen mal näher ansehen", schlug Plattenberg vor und machte sich bereits auf den Weg aus der Küche hinaus.
Im Zimmer des Toten sah es auch nicht unbedingt ordentlicher aus, als im Rest der Wohnung. Man sah sofort, dass das Opfer Rechtswissenschaften studiert hatte, denn im Regal standen Gesetzesbücher und andere Fachliteratur herum, manche lagen auch auf dem Tisch, neben einem geschlossenen Notebook. Plattenberg klappte es auf, doch es war natürlich passwortgeschützt.
„Schade", murmelte er, griff mit seiner behandschuhten Hand nach dem daneben liegenden BGB und blätterte es durch. Das Buch war mit Eselsohren, einigen Post-Its und in einer unleserlichen Handschrift hingekritzelten Notizen bespickt.
„Man sagt Jurastudenten ja nicht die besten Eigenschaften nach. Sie sollen oberflächlich, besserwisserisch und arrogant sein", sprach Plattenberg erneut und beschrieb damit eine sehr treffende Charakterisierung von sich selbst.
„Wäre das passende Studienfach für Sie", konnte Jessica sich den Seitenhieb nicht verkneifen.
Er legte das BGB langsam wieder auf den Tisch und schaute sie mit undurchdringlicher Miene an.
„Eher nicht, wie ich festgestellt habe. So ein Jurastudium ist fürchterlich langweilig, müssen Sie wissen."
„Sagen Sie bloß, Sie habens wirklich mal studiert?", fragte Jessica ungläubig. Dann war er ja ein lebendes Klischee. Obwohl er das sowieso schon war, man denke nur an das Stichwort Düsseldorf und die abgehobene Arroganz, die der Herr Hauptkommissar ständig an den Tag legte.
„Wenn der Vater Richter ist, bleibt einem nicht viel anderes übrig", sagte er, wie zur Erklärung.
Aha, der Vater war also Richter. Das hatte Jessica bisher nicht gewusst. Obwohl sie einander viele Stunden am Tag aushalten mussten und der Mann gut und gerne redete, gab er doch sehr wenig von seinem Privatleben preis. Was ihm eine gewisse, geheimnisvolle Aura verlieh und gleichzeitig die Gerüchte unter den Kollegen befeuerte. Doch die Meinung anderer schien ihn nicht sonderlich zu jucken.
„Und warum sind Sie dann zur Polizei?"
Da war der Herr Papa bestimmt nicht sehr begeistert gewesen. Auch Jessicas eigene Eltern waren alles andere als froh, als sie ihrerseits das BWL-Studium nach wenigen Semestern abgebrochen und sich bei der Polizei beworben hatte. Sie fanden den Beruf viel zu gefährlich, besonders für eine Frau. Aber der Polizeiberuf war schon immer Jessicas heimlicher Traum gewesen. Ihre einzige Befürchtung war, dass sie an ihrer eher geringen Körpergröße scheitern würde, doch sie lag zum Glück ganz knapp über der Mindestgröße.
„Das kann ich Ihnen gerne sagen", antwortete Plattenberg auf ihre Frage. „Als Kriminalpolizist kann man ganz legal allen möglichen Leuten auf die Nerven gehen."
„Aber das kann man als Anwalt auch."
„Ja, aber mit einer Waffe und mit Handschellen in der Tasche nervt es sich doch glatt sorgloser, finden Sie nicht auch?"
Darauf wusste Jessica nun auch nichts mehr zu erwidern. Manchmal war sie sich nicht wirklich sicher, ob das, was er sagte, ernst oder ironisch gemeint war.
„Jetzt haben wir aber lange genug Schwätzchen gehalten, Frau Schillert", lenkte ihr Kollege die Aufmerksamkeit wieder auf ihren Fall. „Die lieben Kollegen von der KT werden hier vermutlich noch tagelang beschäftigt sein und unser toter Freund wird noch ein Weilchen rumliegen und entspannen müssen, bis er in die Rechtsmedizin gebracht wird. Wir könnten uns währenddessen den Mitbewohner noch einmal vorknöpfen. Vielleicht ist er ja inzwischen etwas nüchterner."
Sie verließen die Wohnung und stiegen die geschwungene Treppe hinunter. Draußen angekommen, streifte Plattenberg sich den weißen Schutzanzug ab und drückte ihn einfach wortlos einem der Streifenbeamten in die Hand, der ihm völlig verdattert hinterhersah.
So macht man sich richtig beliebt bei den Kollegen.
Nun konnten alle seinen äußerst feinen und äußerst teuren schwarzen Anzug bewundern, der natürlich wie immer perfekt saß. Dazu trug er ein schwarzes Hemd und eine mit einem breitgezogenen Karomuster in schwarz, grau und bordeauxrot gemusterte Krawatte. So sehr dieser exquisite Kleidungsstil auch ungeeignet für die Kripo war, so gut passte er wiederum zu dem snobistischen Gehabe des Kommissars.
„Na, Herr Machek, wollen wir es noch einmal versuchen?", fragte Plattenberg, während er vor der immer noch offenen Tür des Streifenwagens stehen blieb und abschätzig auf den jüngeren Mann herabblickte.
Der hat ja ein geringeres Einfühlungsvermögen als ein toter Fisch, ging es Jessica durch den Kopf. Der Zeuge tat ihr jetzt schon leid.
„Ähm... ja, okay", stammelte dieser. Er wirkte immer noch ziemlich verloren, was es doch eher unwahrscheinlich machte, dass er etwas mit dem Mord zu tun hatte.
„Sehr schön. Wann sind Sie ungefähr nach Hause gekommen heute morgen?", begann Plattenberg die Befragung ohne Überleitung.
„Ähm... es musste so viertel vor acht gewesen sein", antwortete Lukas langsam.
„War die Tür offen oder verschlossen?"
„Sie war zu, ich musste sie aufschließen."
„Und haben Sie beim Hereinkommen irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?"
Lukas schaute Plattenberg aus glasigen, blauen Augen an, unter denen starke Augenringe zu sehen waren.
„Bis auf Daniels Leiche? Nein da war sonst nichts Ungewöhnliches." Wie hätte er auch etwas bemerken können, wenn er sturzbesoffenen gewesen ist?
„Sie sagten vorhin, Sie wären die ganze Nacht auf einer Party gewesen. Wo war das?", fragte der Kommissar weiter.
„Ähm... das war hier in der Nähe, nur ein paar Straßen weiter."
Er nannte den genauen Straßennamen und die Hausnummer. Jessica schrieb die Adresse in ihr Notizbuch. Plattenberg notierte sich nichts. Das tat er nie, und wusste hinterher trotzdem noch alles.
„Und wer war der Gastgeber?", hakte Jessica nach.
Hilflos zuckte Lukas mit den Schultern. „Keine Ahnung."
Die beiden Kriminalbeamten schauten einander an.
„Und wer hat eine Ahnung?", wollte Plattenberg mit leicht gereiztem Unterton wissen.
„Markus vielleicht, der hat mir davon erzählt."
Sie ließen sich den ganzen Namen von besagtem Markus nennen. Das konnte ja was werden.
„Hat jemand außer Ihnen und dem Toten noch einen Schlüssel zu der Wohnung?"
„Der Vermieter vielleicht?"
„Und sonst?"
„Woher soll ich das denn wissen? Ich glaube niemand." Lukas hörte sich so an, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Na ja, man konnte es ihm in dieser Situation auch nicht verübeln.
Plattenberg, dem jegliches Mitgefühl fehlte, stellte seine nächste Frage in einem Tonfall, als würde er mit einem geistig Zurückgebliebenem sprechen:
„Glauben Sie das oder wissen Sie das, Herr Machek?"
„Ich... ich weiß nicht...", stotterte Lukas, woraufhin der Hauptkommissar demonstrativ genervt die Augen verdrehte.
„Sie wissen herzlich wenig, mein Lieber", stellte er abschätzig fest. „Unsere netten Kollegen nehmen Sie gleich mit aufs Präsidium und dort geben Sie Ihre Aussage noch einmal zu Protokoll. Vielleicht fällt Ihnen ja noch etwas ein."
„Und was ist mit der Wohnung? Wann kann ich dorthin zurück?"
Gleichgültig zuckte Plattenberg mit den Schultern. „Das kann zwischen ein paar Stunden und ein paar Tagen liegen. Die Wohnung wird bis dahin versiegelt. Ein Polizeisiegel aufzubrechen, ist übrigens eine Straftat", fügte er noch warnend hinzu.
„Und wo soll ich dann wohnen?", fragte Lukas in weinerlichem Ton, doch Plattenberg hatte sich bereits abgewandt und sprach mit einem der uniformierten Kollegen.
„Können Sie nicht zu Ihren Eltern?", schlug Jessica vor.
„Die wohnen in Niedersachsen!"
„Und was ist mit Freunden? Irgendjemand wird Sie schon ein, zwei Nächte bei sich übernachten lassen" Langsam fühlte sie sich wie eine Erzieherin im Kindergarten.
„Das war ja mal nichts. Wir müssen nach anderen, brauchbaren Zeugen suchen", bemerkte Plattenberg, als Jessica sich wieder zu ihm gesellte. „Womit wir bei Ihrer Rolle bei dem ganzen Spektakel angekommen wären, Frau Schillert."
Er machte eine bedeutungsschwere Pause, bevor er fortfuhr: „Ich lasse mir ja äußerst ungern von jemandem in meine Arbeit reinpfuschen, aber dieses Haus hat nun einmal zehn Wohnungen, deren Bewohner alle befragt werden müssen. Ich denke, Sie wären somit mindestens den ganzen Vormittag lang sinnvoll beschäftigt."
Das war seine Vorstellung von Teamarbeit: Aufgaben, die er für langweilig oder unter seiner Würde hielt, schob er einfach auf andere ab.
„Und die Angehörigen des Opfers müssen auch noch benachrichtigt werden." Er schaute Jessica vielsagend an. War ja nicht anders zu erwarten.
„Das könnten Sie ja auch mal zur Abwechslung machen", schlug sie vor.
„Das kann ich gerne machen. Dann fahren Sie nachher in die Rechtsmedizin zur Obduktion?"
„In die Rechtsmedizin?", wiederholte Jessica unwillig.
„Also, Frau Schillert, entscheiden Sie sich: Obduktion oder die Angehörigen. Wir können natürlich auch eine Münze werfen... "
Jessica musste nicht sehr lange überlegen, was ihr lieber war.
„Okay, ich nehme die Angehörigen", beeilte sie sich zu sagen.
„Na, geht doch", meinte er mit dem Anflug eines hinterhältigen Lächelns und ließ Jessica ohne ein weiteres Wort einfach stehen.
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