19.

Bisher war Kathy genau ein Mal in ihrem Leben im Polizeipräsidium Münster gewesen. Das war, als sie in der Grundschule mit ihrer Klasse einen Ausflug dorthin gemacht hatte. Damals hatte ein netter Polizist in Uniform und mit blondem Schnurrbart ihnen alles gezeigt und erklärt. Sogar einen Polizeihund durften sie streicheln und sich gegenseitig Fingerabdrücke abnehmen. Nur zum Spaß, natürlich.

Jetzt, fast fünfzehn Jahre später, war sie zum zweiten Mal auf dem Präsidium. Man hatte ihr, diesmal nicht nur zum Spaß, die Fingerabdrücke abgenommen und sie anschließend in einen kargen Büroraum, der nur mit einem zerkratzten Tisch, ein paar Stühlen und einer vertrockneten, nicht mehr näher definierbaren Pflanze auf der Fensterbank ausgestattet war, gesetzt. Ihr gegenüber saß kein netter Polizist mit blondem Schnauzer, sondern Kommissar Plattenberg, der sie wortlos ansah, während er mit den Fingern irgendeine nur ihm bekannte Melodie auf die Tischplatte klopfte. Neben ihm hockte seine kleine Kollegin, die mit unglücklichem Gesichtsausdruck das Pflaster an ihrem rechten Mittelfinger begutachtete. Ihr Pferdeschwanz hatte sich zur Hälfte gelöst und ein paar Strähnen ihres braunen Haares hingen ihr nun unordentlich ins Gesicht.

Endlich hörte Plattenberg mit dem entnervenden Geklopfe auf.

„Ach, Frau Weißner, was haben Sie sich bloß dabei gedacht?", seufzte er und rückte seine Krawatte zurecht, was angesichts der Tatsache, dass seine übrige Kleidung nach der Verfolgungsjagd durch die dreckige, heruntergekommene Villa etwas ramponiert aussah, ziemlich albern wirkte.

Kathy sagte nichts und blickte auf ihre Hände hinab, die in ihrem Schoß lagen. Die gleiche Frage hatte sie sich an diesem Abend selbst schon tausend Mal gestellt.

„Schauen wir uns doch einmal an, was da heute alles zusammengekommen ist: Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt und Freiheitsberaubung. Und das alles an einem einzigen Abend. Glückwunsch, Sie sind jetzt eine richtige Intensivtäterin!"

„Freiheitsberaubung?" Kathy riss den Kopf hoch und blickte den Kripobeamten irritiert an. „Wieso denn Freiheitsberaubung?"

„Na ja, Ihre kleine Aktion mit dem verkeilten Besen unter dem Türgriff erfüllt den Tatbestand einer Freiheitsberaubung, meiner Meinung nach, ziemlich genau. Ihr Pech war nur, dass der Besenstiel nach all den Jahren nicht mehr ganz so stabil war und nur äußerst kurz gehalten hat. Ich fürchte, dass sich eine derartige Vorstrafe nicht sehr gut im Führungszeugnis einer angehenden Lehrerin macht."

Während er sprach, ließ er sie weiterhin keine Sekunde lang aus den Augen. Sie meinte, seinen bohrenden Blick förmlich auf ihrer Haut spüren zu können.

„Aber, das mit dem Besen war ich gar nicht!"

„Das behaupten Ihre Freundinnen auch", meinte Kommissarin Schillert und strich sich die widerspenstigen Haarsträhnen aus der Stirn. „Doch wer soll es sonst gewesen sein?"

„Vielleicht waren es die Geister?", fügte Plattenberg spöttisch hinzu.

Erneut senkte Kathy den Blick und presste ihre Lippen fest zusammen. Natürlich würde sie nicht verraten, dass Melanie den Besen unter den Türgriff geklemmt hatte und hoffte, dass die anderen beiden ebenfalls nichts sagen würden. Die Polizisten schienen die typische Masche abzuziehen: Sie alle getrennt vernehmen und glauben lassen, die anderen hätten bereits gesungen und einen selbst belastet. Das kannte man doch aus Filmen und Büchern nur zu gut. Doch solange keine von ihnen etwas zugab oder die anderen verriet, konnten sie ihnen sowieso nichts nachweisen, oder? Und ob das mit der Freiheitsberaubung überhaupt so stimmte, da war sie sich auch nicht ganz sicher.

Wäre Daniel doch hier! Er hätte sicher gewusst, was jetzt zu tun war. Aber Daniel konnte ihr nicht mehr helfen.

„Nun, es sieht nicht sehr gut für Sie aus, meine liebe Frau Weißner. Aber wissen Sie was?" Plattenberg beugte sich vor, als würde er ihr ein spannendes Geheimnis anvertrauen wollen. „Die von mir aufgelisteten Delikte werden womöglich nur Ihr kleinstes Problem sein..."

„Wie...wie meinen Sie das?", fragte Kathy verwirrt.

Der Polizist lehnte sich wieder zurück. „Lassen Sie mich raten: Sie und Ihre beiden Begleiterinnen sind in das Gebäude des ehemaligen Hotels eingebrochen, um dort nach dem Geld zu suchen, das sich bis zu seinem Tod in Daniels Besitz befunden haben soll. Habe ich recht oder habe ich recht?"

„Woher wissen Sie das?" Hatte sie es nicht geahnt, dass die Polizei ihnen schon sehr bald auf die Schliche kommen würde?

„Wir sind vielleicht gar nicht so dumm, wie Sie denken. Die eigentliche Frage ist jedoch, woher Sie von dem Geld wussten und ‒ noch viel entscheidender ‒ seit wann? Sie werden mir zustimmen müssen, dass Geld ein guter, ein sehr guter Grund ist, jemanden zu töten..."

„Wo-worauf wollen Sie hinaus?", stammelte Kathy. Die Art, wie er sie ansah, gefiel ihr überhaupt nicht.

„Sehen Sie, Frau Weißner, im Grunde hatte doch jeder, der von der Existenz des Geldes wusste, ein Motiv, Daniel zu töten, nicht wahr?"

Ein flaues Gefühl breitete sich in Kathys Magengegend aus. Jetzt musste sie sich wohl entscheiden: Sollte sie Melanie und Florentine weiter in Schutz nehmen und mit ihnen untergehen, oder sollte sie besser die ganze Wahrheit sagen, um sich selbst zu schützen?

Gut, die zweite Option mochte ganz schön egoistisch sein, doch andererseits, Melanie und Florentine waren beide von selbst bei ihr aufgetaucht, hatten sie ungebeten zugelabert und sie gegen ihren Willen in ihre eigenen Probleme hineingezogen. Sie hatte sie schließlich nicht darum gebeten! Sie wollte auch nicht ihretwegen in den Knast wandern und noch weniger wollte sie sterben, weil Daniels Mörder Wind von ihrer hektischen Schatzsuche bekam und sie alle umbrachte. War es nicht sowieso besser, der Polizei alles zu erzählen? Die mussten es schließlich besser wissen, wie man nach verschwundenem, erpressten Geld und ‒ viel wichtiger noch ‒ nach einem Mörder suchte. War das nicht ohnehin das Wichtigste? Den Mord an Daniel aufzuklären? Da konnte sie doch nicht auf die Befindlichkeiten von Melanie und Florentine Rücksicht nehmen! Die beiden waren nicht einmal wirklich ihre Freundinnen, bisher hatte sie so gut wie nichts mit ihnen zu tun gehabt. Und würde sie es sich je verzeihen können, wenn Daniels Mörder ungeschoren davonkommt, nur weil sie geschwiegen hat? Nein, das würde sie sicher nicht...

„Sie sind uns eine Erklärung schuldig, Frau Weißner", riss die Stimme des Kommissars sie aus ihren Gedanken.

Mit ungutem Gefühl entschied sie sich dennoch für die zweite Option:

„Ich... ich wusste es doch erst nach seinem Tod! Nachdem Melanie es mir erzählt hat!"

„Also wusste Melanie bereits vor Daniels Tod von dem Geld?", wollte Jessica Schillert wissen. „Und woher?"

„Daniel selbst hat es ihr erzählt! Sie... sie wollten es ja nicht aus Geldgier haben, sondern für diese teure Therapie für ihre Mutter."

„Welche Therapie?"

Nun war sie an dem Punkt angelangt, wo es keinen Sinn mehr machte, weiterzureden, ohne ihnen alles von Anfang an zu erzählen. Also begann sie zu berichten, was sich in den vergangenen Tagen ereignet hatte, angefangen bei Melanies Anruf bis zu Florentines plötzlichem Auftauchen und Melanies Plan, in dem verlassenen Hotel nach dem erpressten Geld zu suchen. Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, wie aus einem voll aufgedrehten Wasserhahn.

Als sie fertig war, fühlte sie sich erleichtert, als hätte sie einen riesigen, mit Steinplatten vollgepackten Rucksack abgelegt.

„Warum haben Sie uns das nicht früher schon erzählt?", fragte Kommissarin Schillert vorwurfsvoll. „Sie haben dadurch unsere Ermittlungen behindert, ist Ihnen das eigentlich klar? Vielleicht wären wir jetzt viel weiter, wenn Sie sofort zu uns gekommen wären! Mal ganz davon abgesehen, dass Ihre Suchaktion ganz schön gefährlich war und sehr böse hätte enden können..."

Zerknirscht senkte Kathy erneut den Blick und fing an, an der Kante des schäbigen Tisches herumzukratzen.

Plötzlich fiel ihr der Radiobeitrag über die im Aasee gefundene Frauenleiche wieder ein.

„Florentines Schwester... ist sie...? Sie ist auch tot, oder?"

„Ja, das ist sie", bestätigte Plattenberg genauso emotionslos, wie er ihr vor ein paar Tagen die Nachricht von Daniels Tod überbracht hatte.

Ihr wurde bewusst, dass auch sie, Melanie und Florentine jetzt tot sein könnten.

„Diese kleine Geschichte, die Sie uns soeben erzählt haben", sprach Plattenberg schließlich weiter, „das ist ja alles schön und gut. Doch können wir uns wirklich sicher sein, dass das auch tatsächlich der Wahrheit entspricht?"

Ungläubig starrte Kathy den Kriminalbeamten an. „Ich lüge nicht!"

„Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, dass ich das anzweifeln muss. Immerhin haben Sie uns wichtige Informationen vorenthalten. Ferner haben Sie Florentine Frost, von der Sie, wie Sie uns eben erst gestanden haben, wussten, dass diese am Tatort gewesen ist, geholfen, sich vor der Polizei zu verstecken. Und, zu guter Letzt, haben Sie auf eigene Faust nach dem Geld gesucht. Das alles wirkt, gelinde gesagt, nicht sehr vertrauenswürdig."

Auf einmal bereute Kathy es zutiefst, ihnen alles erzählt zu haben. Sie hätte wissen müssen, dass sie ihr sofort einen Strick daraus drehen würden.

„Außerdem haben Sie immer noch kein Alibi für die Tatzeit", fügte Plattenberg wie nebenbei hinzu. „Sie haben ausgesagt, mit Ihrer Mutter telefoniert zu haben. Das haben Sie auch, um 21.43 Uhr, laut den Daten Ihres Mobilfunkanbieters. Das Telefonat dauerte etwa 20 Minuten. Dementsprechend war danach immer noch genug Zeit, ins Kreuzviertel zu fahren und Ihren Freund zu töten."

Er fixierte sie weiterhin mit unerbittlichem Blick.

„Warum sollte ich das tun? Ich habe Daniel geliebt!", rief Kathy schrill.

„Die Liebe zu Geld ist häufig stärker als die zu einem Menschen", erwiderte der Polizist ungerührt. „Und was Ihre große Liebe zu Daniel angeht: Sie waren, wenn mich nicht alles täuscht, fast zwei Jahre lang zusammen und wollen während dieser Zeit nichts von den erpresserischen Machenschaften Ihres Freundes mitbekommen haben? Eine recht merkwürdige Art von Liebesbeziehung, finden Sie nicht auch?"

Kathy öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch es kam kein Ton heraus. Denn, das Schlimme war, dass der hämische Kommissar recht hatte: Daniel hatte offensichtlich ein Doppelleben geführt, von dem sie absolut nichts mitbekommen hatte. Das sprach wirklich nicht für eine Beziehung voller Liebe und Vertrauen. Vielleicht war sie das auch nie gewesen? Aber was war es dann? Und warum, um alles in der Welt, fühlte es sich so an, als wäre mit ihm auch ein Teil von ihr selbst gestorben?

„Sie wissen ja gar nicht wie das ist, wenn der Mensch, den man liebt, jemand ganz anderes zu sein scheint, als man dachte", murmelte sie und spürte, wie ihre Lippen wieder anfingen zu zittern.

„So ist das nun einmal im Leben", meinte Plattenberg in einem etwas versöhnlicheren Tonfall. „Man kann sich leider auf niemanden verlassen, außer auf sich selbst." Die bittere Bemerkung blieb wie ein dunkler Schatten in der Luft hängen.

Nach ein paar quälend langen Augenblicken fragte Kathy vorsichtig:

„Was passiert denn jetzt mit mir?"

„In den nächsten Stunden wird sich entscheiden, ob ein Haftbefehl beantragt wird, oder ob Sie nach Hause gehen können. Was den Einbruch und die Sachbeschädigung angeht, hängt Ihr weiteres Schicksal davon ab, ob die Stadt Billerbeck eine Anzeige erstattet oder nicht", erklärte Plattenberg kurz angebunden, stand auf und ging zur Tür.

„Und was ist mit den anderen?" Kathy fühlte sich furchtbar schlecht, weil sie das Gefühl hatte, die anderen beiden mit ihrer Aussage verraten zu haben.

„Da verhält es sich genauso."

Er öffnete die Tür und winkte eine Polizistin in Uniform heran.

„Kümmern Sie sich um unseren Gast."

Anschließend ging er einfach davon, ohne noch ein Wort zu sagen. Die Polizistin starrte ihm verdutzt hinterher. Sogar Jessica Schillert runzelte etwas irritiert die Stirn und schüttelte leise seufzend den Kopf. Dann wandte sie sich wieder an Kathy:

„Sind Sie sicher, dass Sie uns jetzt alles gesagt haben?"

„Ja, das bin ich", murmelte sie. Diesmal war es sogar nicht gelogen.

„Das will ich auch hoffen."

Mit diesen Worten erhob sich die Kommissarin, ging ebenfalls zur Tür und ließ Kathy mit ihren düsteren Gedanken und ihrem schlechten Gewissen zurück.

***

„Glauben Sie wirklich, dass die drei etwas mit dem Mord zu tun haben könnten?", fragte Jessica, nachdem sie endlich mit dem Vernehmen von Katharina Weißner, Melanie Hubner und Florentine Frost fertig waren.

Melanie hatte Katharinas Aussage soweit bestätigt, wenn auch widerwillig. Scheinbar hatte sie wirklich gedacht, das Geld finden und es unbemerkt an sich nehmen zu können. Ob das nun Naivität oder grenzenlose Dummheit war, konnte Jessica nicht sagen.

Florentine hatte zuerst trotzig geschwiegen. Nachdem sie ihr aber gesagt hatten, dass ihre Schwester tatsächlich tot war, hatte sie unter Tränen zugegeben, dass sie zusammen mit Luisa am Tatort gewesen ist, Daniel zu diesem Zeitpunkt aber schon tot war. Auch, dass Luisa seine Komplizin war, hatte sie bestätigt, obwohl sie angeblich nichts genaueres über die Erpressungen wusste. Sie schien sich ziemlich sicher zu sein, dass Rohrbach der Mörder von beiden sein musste, und auch Jessica fand, dass das die plausibelste Erklärung war.

Doch Plattenberg schien da anderer Meinung zu sein.

„Können wir das wirklich sicher ausschließen?", antwortete er mit einer Gegenfrage. „Besonders nach unserem heutigen Aufeinandertreffen mit dieser heiligen Dreifaltigkeit? Offenbar wussten sie von der Existenz des Geldes und sie haben alle drei nicht wirklich ein Alibi. Das von Katharina war quasi von Anfang an schon nicht vorhanden, obwohl sie mir ja noch am wenigsten verdächtig erscheint. Florentines Alibi hat sich soeben vollständig in Luft aufgelöst und Melanies ist nun auch nicht das Gelbe vom Ei. Die Eltern behaupten, sie sei am Tatabend die ganze Zeit mit ihnen im Haus gewesen, aber wir wissen beide, was von Alibis durch die engsten Verwandten zu halten ist."

„Die bringt doch nicht ihren eigenen Bruder um!" Melanie wirkte auf Jessica eher so, als könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun.

„Wieso nicht? Der berühmteste Brudermord wurde schließlich schon im Alten Testament geschildert."

„Seit wann glauben Sie denn, was in der Bibel steht?"

„Tue ich auch nicht. Aber die Stellen, wo es nicht um den ganzen übernatürlichen Quatsch geht, sondern um Mord und Totschlag, sind schon erschreckend realistisch. Womöglich war das Geld auch überhaupt nicht das Motiv, wir haben es schließlich immer noch nicht gefunden."

Das stimmte leider. Nach mühseliger Überzeugungsarbeit und einem mächtigen Anschiss in ihre Richtung, hatten sie den Staatsanwalt doch noch überreden können, kurzfristig einen Durchsuchungsbeschluss für die gammelige Villa auszustellen und nach Abstimmung mit der Kripo Coesfeld und der Stadt Billerbeck ‒ die nicht sehr begeistert von der ganzen Sache waren ‒ war die KTU nun damit beschäftigt, sie zu durchsuchen. Bis jetzt schienen sie allerdings nicht fündig geworden zu sein, sonst hätten sie sich schon längst gemeldet.

Zum hundertsten Mal an diesem Tag ließ Jessica sich wieder hinter ihrem Schreibtisch nieder. Sie hatte das Gefühl, jahrelang nicht mehr hier gewesen zu sein, obwohl es gerade einmal ein paar Stunden her war, dass sie vor ihrem PC gesessen und sich das Satellitenbild von Billerbeck angesehen hatte.

„Vielleicht hat Rohrbach das Geld eingesackt", vermutete sie. „Schließlich fehlt beides, das Geld und er. Da ist doch die naheliegende Erklärung, dass er es hat, oder nicht?"

„Und warum hat Luisa dann, laut Florentine, das Geld gesucht, nachdem Rohrbach schon längst verschwunden war?"

„Sie hat halt einfach nicht gewusst, dass er das Geld schon hatte. Ich dachte, wir wären uns einig, dass Rohrbach unser Täter ist."

Ich habe nie behauptet, dass er der Täter ist", meinte Plattenberg, zog seine nicht mehr ganz so makellose Anzugjacke aus und betrachtete mit unzufrieden gerunzelter Stirn einen hässlichen Riss an deren Ärmel. „Es könnte auch immer noch einer seiner Mandanten gewesen sein, oder eben Luisa oder eins unserer drei Unschuldslämmer. Und was ist eigentlich mit Luisas spielsüchtigem Freund? Den hatten wir noch gar nicht auf dem Schirm. Sie sehen, die Verdächtigen werden nicht weniger, sondern ganz im Gegenteil."

Müde rieb Jessica sich die Schläfen. Ein dumpfer Schmerz machte sich langsam hinter ihren Augen bemerkbar. Sie brauchte dringend Schlaf, sonst würde ihr irgendwann der Kopf platzen.

„Und was ist dann mit Luisa?", überlegte sie weiter. „Wer hat sie dann umgebracht?"

„Falls sie überhaupt umgebracht wurde. Apropos..."

Er warf die Anzugjacke achtlos auf den Tisch, nahm den Telefonhörer, wählte eine Nummer und drückte die Lautsprechertaste. Der Freizeichenton ertönte. Nach dem vierten Klingeln sagte eine Frauenstimme:

„Rechtsmedizinisches Institut Münster, Heinold."

„Ach, Frau Dr. Heinold, wollten Sie heute Nachmittag nicht unsere Wasserleiche obduzieren? Ich wusste nicht, dass der Nachmittag bis 22 Uhr geht." Keine Begrüßung, nicht einmal seinen Namen nannte er.

„Ich habe extra für Sie Überstunden gemacht und bin gerade fertig geworden", erwiderte die Rechtsmedizinerin spitz.

„Mir kommen gleich die Tränen vor Rührung! Hat sich diese Aufopferungsbereitschaft wenigstens gelohnt?"

„Der Todeszeitpunkt liegt am Freitagabend, schätzungsweise zwischen 20 und 24 Uhr. Durch die Lagerung im Wasser lässt sich der Zeitraum bedauerlicherweise nicht weiter eingrenzen. Die Todesursache ist, wie bereits vermutet, die Markhirnverletzung in Folge des Genickbruchs. Der Schnelltest hat ergeben, dass das Blut von der Bank von der gleichen Blutgruppe ist, wie das der Toten. Der DNA-Test ist noch nicht fertig, wird aber mit großer Wahrscheinlichkeit bestätigen, dass es ihr Blut ist. Unter den Armen hat sie post mortem zugefügte Hämatome, da wo sie derjenige, der sie zum See geschleift hatte, festgehalten haben muss. Dann hat sie noch ein Hämatom an ihrem linken Handgelenk, das vor dem Tod entstanden ist."

„Sie wurde also am Handgelenk festgehalten?", fragte Jessica, die aufgestanden und an den Tisch ihres Kollegen herübergekommen war.

„Davon ist auszugehen. Das ist jetzt zwar nur eine Vermutung, aber die Form dieses Hämatoms deutet darauf hin, dass jemand womöglich versucht hat, sie festzuhalten, um sie am Fallen zu hindern. Handabdrücke, die während eines gewalttätigen Übergriffes entstehen, sehen meistens anders aus."

„Sie wollen also sagen, dass Luisa Steinfeld nicht zwingend gestoßen wurde, sondern auch von selbst gefallen sein könnte. Und derjenige, der bei ihr gewesen ist, hat versucht, sie festzuhalten und am stürzen zu hindern", fasste Plattenberg zusammen.

„Wie gesagt, das ist nur eine Mutmaßung, das Verletzungsmuster deutet aber durchaus darauf hin. Es gibt auch keine weiteren Verletzungen, die von einem Kampf zeugen, auch keine typischen Abwehrverletzungen. Einen Hinweis auf einen Stoß gibt es ebenfalls nicht."

„Sonst noch etwas Interessantes? Irgendwelche Spuren?"

„Bisher nicht. Wasserleichen sind von der Spurenlage her leider häufig nicht sehr aussagekräftig."

„Gut, dann erwarte ich morgen Ihren ausführlichen Obduktionsbericht." Ohne sich zu verabschieden, knallte Plattenberg den Hörer wieder auf die Gabel.

„Sehen Sie?", wandte er sich dann selbstgefällig an Jessica.

„Was?"

„Sie ist vielleicht gar nicht getötet worden."

Vielleicht. Und irgendjemand muss sie trotzdem in den See geschmissen haben."

„Ja, aber das ist dann höchstens Leichenschändung, wenn überhaupt."

„Warum hat er dann nicht wenigstens den Krankenwagen oder die Polizei gerufen, wenn sie einfach nur gestürzt ist?"

„Was für eine Frage! Aus Angst natürlich! Würden Sie doch auch nicht machen, wenn vor Ihnen plötzlich eine Leiche liegt und es so aussieht, als hätten Sie sie getötet."

„Ich würde die Polizei rufen!", beteuerte Jessica.

„Das behaupten Sie jetzt, aber ob Sie das auch tun, wenn Sie in so eine Situation kommen, das wissen Sie nicht."

„Pff!"

Grimmig kehrte Jessica wieder hinter ihren Schreibtisch zurück.

Ein Räuspern ertönte aus Richtung der offenen Bürotür. Als sie hinüberblickte, stand dort Hofkamp.

„Was machen Sie denn schon wieder hier?", blaffte Plattenberg ihn an. „Sie sollten doch das Haus durchsuchen!"

„Wir sind fertig. Da ist nichts. Kein Geld, keine Kronjuwelen, keine Apple-Aktien. Nur leere Flaschen und anderer Müll, ein vergammelter Schlafsack, Schimmel und Rattendreck. Hätte ich das alles herbringen und auf Ihrem Schreibtisch ablegen sollen?" Der Kriminaltechniker grinste frech.

„Haben Sie auch gründlich genug gesucht? Sieht mir nicht wirklich danach aus, so schnell, wie Sie fertig geworden sind."

„Gründlich genug dafür, dass diese Gammelvilla außerhalb unseres Zuständigkeitsbereiches liegt und der Grund für die Durchsuchung nur auf Ihren Hirngespinsten beruht. Hat übrigens der Staatsanwalt Originalton so gesagt und die ganze Aktion abgeblasen. Der ist sowieso mächtig wütend auf Sie, weil Sie diesen Anwalt hergeschleppt haben, der jetzt den ganzen Polizeiapparat Münsters verklagen wird."

Während sie in Billerbeck waren, hatte der Staatsanwalt Schmidtmann natürlich längst schon laufen lassen, was auch nicht anders zu erwarten war. Vielleicht sollte ich schonmal anfangen, mir Stellenanzeigen anzusehen, dachte Jessica düster.

„Und wie wütend wird der Staatsanwalt erst auf Sie sein, wenn herauskommt, dass Sie nicht gründlich genug gesucht haben?", erwiderte Plattenberg süffisant.

„Hören Sie, Sie können ja gerne selber nochmal hinfahren und so lange suchen, wie Sie wollen. Meinetwegen können Sie dort auch den ganzen Schimmel und die Rattenscheiße vom Boden kratzen und auch darunter nachsehen!", giftete Hofkampf zurück. „Wir haben im Labor jedenfalls auch so genug zu tun. Da stapelt sich immer noch der Mist aus der Kanzlei und den aus Hubners Wohnung haben wir auch noch nicht ganz durch. Außerdem schleppt ihr ständig neuen Scheiß an."

„Seien Sie doch froh, dass wir Sie mit Arbeit versorgen und Sie nicht um Ihren Job fürchten müssen! Andere Menschen haben nicht so großes Glück."

„Ich brauch mir hier jetzt keine Moralpredigten über soziale Gerechtigkeit anzuhören. Schon gar nicht von einem Typen, der ständig in schweineteuren Anzügen rumläuft!" Hofkamp deutete auf die immer noch auf dem Tisch liegende Anzugjacke. „Sah übrigens schon scheiße aus, bevor Sie damit in dieses Drecksloch geklettert sind."

„Wenn mich Ihre Meinung diesbezüglich interessieren würde, hätte ich Sie schon gefragt."

Schweigend verfolgte Jessica das Streitgespräch und hoffte inständig, dass die beiden bloß nicht anfingen, sich zu prügeln.

„Leck mich doch! Ich mach jetzt Feierabend. Gute Nacht!" Der Kriminaltechniker drehte sich um und schlug die Tür hinter sich zu.

Erleichtert atmete Jessica auf, legte die Arme auf den Tisch und ließ ihren Kopf erschöpft darauf hinabsinken.

„Ich könnte mich hier und jetzt hinlegen und eine ganze Woche durchschlafen", seufzte sie.

„Das ist vermutlich nicht sehr bequem. Warum gehen Sie nicht einfach nach Hause und legen sich in Ihr Bett, um zu schlafen?"

Sie richtete sich wieder auf.

„Und was ist mit dem ganzen Papierkram für heute? Der macht sich ja nicht von selbst." Wahrscheinlich würde sie noch bis zum nächsten Jahr damit beschäftigt sein.

„Gehen Sie, ich mach das schon."

Was?" Hatte sie sich verhört?

„Haben Sie was an den Ohren? Ich sagte, Sie können gehen."

Immer noch völlig baff, starrte sie ihn an. „Sind Sie sicher?"

Genervt verdrehte er die Augen.

„An Ihrer Stelle würde ich jetzt wirklich gehen, bevor ich es mir anders überlege und Sie doch noch heute Nacht alle Berichte fertig schreiben dürfen."

Mit grimmig zusammengepressten Lippen stand Jessica auf, zog sich ihre verdreckte Jacke an und lief zur Tür.

Eigentlich war sie kurz davor gewesen, ihm anzubieten, doch noch zu bleiben und zu helfen. Doch nach der letzten Bemerkung hatte sie es sich sofort anders überlegt. Sogar, wenn er einmal in tausend Jahren mal eine nette Geste machte, musste er das sofort im nächsten Augenblick mit irgendeiner blöden Bemerkung wieder zunichte machen!

„Gute Nacht", sagte sie trocken, riss die Tür auf und ging davon, ohne eine Antwort abzuwarten.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top