17.
Nachdenklich kaute Melanie auf einer Strähne ihres braunen Haares herum und versuchte all das, was Florentine und Kathy ihr soeben erzählt hatten, zu verarbeiten.
„Ich weiß nicht", sagte sie unschlüssig, nachdem sie die Haarsträhne wieder aus dem Mund genommen hatte. „Vielleicht kannst du ein, zwei Tage hierbleiben. Aber ich fürchte, dass meine Eltern dann irgendwann Verdacht schöpfen. Auch wenn sie zur Zeit nicht wirklich viel mitkriegen."
Kathy hatte fast schon das Gefühl, dass Melanie Florentine nicht wirklich bei sich zuhause haben wollte. Man konnte es ihr auch nicht verübeln, schließlich konnte sie sich nicht sicher sein, dass Florentine oder ihre Schwester nicht vielleicht doch selbst etwas mit Daniels Tod zu tun hatten. Es kam ihr auch ziemlich merkwürdig vor, dass Melanie das Geld bisher unerwähnt gelassen hatte. Vielleicht hatte sie endlich kapiert, dass es viel zu gefährlich war, danach zu suchen, besonders, wenn auch dieser Anwalt scharf darauf war. Kathy hoffte das zumindest, befürchtete aber, dass es nicht so war.
„Schon gut", sagte Florentine leise und fummelte mit gesenktem Blick an ihrer Jeansjacke herum, die auf ihrem Schoß lag. „Ich verstehe das. Ich werde schon was anderes finden..." Es klang allerdings wenig zuversichtlich.
Verstohlen musterte Kathy die ihr bis vor kurzem noch verhasste Frau, wie sie da so ganz verloren auf Melanies Bett saß. Wie ein Häufchen Elend. Florentine hatte sich die verschmierte Schminke aus dem Gesicht gewaschen und wirkte ohne diese viel jünger und so gar nicht mehr wie die sexy Femme fatale, als die sie sich sonst immer gab. Inzwischen neigte Kathy dazu, ihr zu glauben, dass sie nichts mit Daniel hatte, wenn auch ein kleines Fünkchen Zweifel immer noch blieb.
„Du könntest dir ein Zimmer in einem Hotel hier irgendwo nehmen", schlug Melanie vor und baumelte dabei leicht mit den Füßen, während sie auf ihrem Schreibtisch saß. Auf der Pinnwand darüber hingen massenweise Fotos. Eines davon zeigte die ganze Familie Hubner, noch friedlich vereint und in die Kamera lächelnd. Das Bild musste bei einer Gartenparty aufgenommen worden sein, noch in der Zeit vor Elkes Unfall, denn sie stand dabei noch aufrecht auf ihren gesunden Beinen, zwischen ihrem Sohn und ihrem Mann, der liebevoll den Arm um sie legte und bei weitem nicht so überspannt und ausgemergelt aussah, wie jetzt. Sie wirkten alle so glücklich auf dem Foto und ahnten nicht, was für ein grausames Schicksal ihnen bevorstand.
So schnell konnte sich alles ändern, fuhr es Kathy durch den Kopf. Schaudernd wandte sie ihren Drehstuhl in die andere Richtung, weg von dem Foto, weg von Daniels lächelndem Gesicht, das sie nie mehr in echt sehen würde. Zum etlichen Mal an diesem Tag füllten sich ihre Augen mit Tränen, die sie sofort versuchte, wegzublinzeln.
„Natürlich solltest du dann mit falschem Namen einchecken", fuhr Melanie wissend fort. Die Kleine ging anscheinend zu oft ins Kino.
„Das geht nicht", erwiderte Kathy und wischte sich mit dem Finger die letzte Träne aus dem Augenwinkel. „Man muss mittlerweile überall seinen Ausweis vorlegen. Sogar im billigsten Motel."
„Hm, ja, scheiße", war Melanies Kommentar dazu.
Florentine sagte nichts und ließ weiterhin mutlos den Kopf hängen. Ihre dicken, blonden Haare fielen ihr dabei wie ein schwerer Vorhang vors Gesicht. Auch das war eigentlich völlig untypisch für sie. Sonst hatte sie immer so resolut auf Kathy gewirkt. Aber da musste sie noch nicht befürchten, dass ihre Schwester tot war und sie selbst ebenfalls von einem Mörder und der Polizei gesucht wurde.
Plötzlich hörte Melanie auf, mit den Füßen zu baumeln und schaute ganz aufgeregt zwischen Kathy und Florentine hin und her.
„Das Potthoff-Hotel!"
Verständnislos schauten sie sie an.
„Draußen am Waldrand gab es mal ein kleines Hotel. Eigentlich war es wohl eher ein Gasthof, aber egal... Anfang der 90er ist es pleite gegangen und dann hat's da drin auch noch gebrannt. Seitdem steht es leer und gammelt vor sich hin."
„Und?", fragte Florentine, die genau wie Kathy keinen blassen Schimmer zu haben schien, warum Melanie ihnen das alles erzählte.
„Früher trieben sich die Jugendlichen abends ständig da drin herum, bis die Stadt es vor ein paar Jahren gekauft und die Fenster und Türen verrammelt hat", fuhr sie fort. „Daniel und ich sind da auch öfters hingegangen, als wir jünger waren, obwohl unsere Eltern uns das verboten hatten. Aber als Kinder spielten alle dort. Es hatte ja nur da gebrannt, wo die Familie des Besitzers ihre Privaträume hatte. Der Rest vom Hotel war noch ganz, sogar die ganze Einrichtung stand noch da. Man konnte da super Verstecken spielen. Es wimmelte nur so von guten Verstecken..."
Langsam begann Kathy zu begreifen, worauf Melanie hinauswollte. Auch bei Florentine schien der Groschen bereits gefallen zu sein.
„Du meinst, Daniel könnte dort das Geld versteckt haben?", flüsterte sie mit großen Augen. „Luisa meinte, er hätte ihr gesagt, dass er es gut versteckt hat."
„Na, also! Im Potthoff-Hotel würde es nie im Leben jemand Fremdes finden!"
„Aber Moment!", bremste Kathy Melanies Begeisterung. „Du hast eben noch gesagt, dass die Türen und Fenster verrammelt wurden. Wie soll er da denn hineingekommen sein?"
„Nur die unteren Fenster wurden verrammelt", korrigierte Melanie sich. „Jedenfalls, so weit ich weiß. Ich hab gar nicht mehr dran gedacht, bis wir angefangen haben, über Hotels zu reden. Kommt, wir müssen uns das unbedingt ansehen! Es liegt gar nicht weit weg, nur etwa zehn Minuten mit dem Auto..."
Kathy blickte aus dem Fenster. Es dämmerte bereits und sie verspürte keine große Lust, in der kalten, feuchten Dunkelheit in einem leerstehenden Gebäude herumzuschleichen, das auch noch am Waldrand stand.
Doch Melanie ließ sich bereits vom Tisch heruntergleiten und trippelte auf Socken zur Zimmertür und Kathy und Florentine blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
An der Küchentür blieb Daniels Schwester stehen.
„Mama?"
Elke Hubner, die in ihrem Rollstuhl gedankenverloren am Küchentisch saß und Kartoffeln schälte, reagierte nicht sofort.
„Mama!"
Endlich wandte Elke sich ihrer Tochter zu. Ihr Gesicht wirkte blass und müde, unter den Augen zeichneten sich dunkle Schatten und dicke Tränensäcke ab. Die braunen Haare, die sie mit einer großen Haarspange hochgesteckt hatte, hingen auf einer Seite kraftlos herunter. Trotzdem rang sie sich ein trauriges Lächeln ab.
„Ja, Melanie?"
„Wir müssen nochmal kurz weg. Wir nehmen dein Auto, okay?"
„Aber wohin wollt ihr jetzt noch? Ich dachte, deine Freundin übernachtet hier und Kathy bleibt noch zum Abendessen?" Melanies Mutter klang enttäuscht, als würde sie ihre Tochter nicht gern gehen lassen. Verständlich, nachdem sie erst kürzlich merken musste, dass jeder Tag, den sie mit ihren Kindern verbrachte, der letzte sein könnte.
„Wir sind bald wieder da", versicherte Melanie. „Ihr braucht nicht mit dem Abendessen auf uns zu warten. Wir wärmen es uns nachher einfach auf."
Elke ließ die halb geschälte Kartoffel in ihrer Hand sinken.
„Na, gut. Papa und ich sind zurzeit wahrscheinlich sowieso keine sehr angenehme Gesellschaft für dich..." Sie seufzte schwer.
„So war das nicht gemeint!"
„Ich weiß, Melanie. Schon gut."
Melanie blieb noch ein paar Augenblicke unschlüssig stehen, bis sie sich schließlich wortlos abwandte und zurück in den Flur ging.
Plötzlich fand Kathy ihre Idee, Florentine herzubringen, gar nicht mehr so prickelnd. Anstatt die beiden anderen einfach ihrem Schicksal zu überlassen, ließ sie sich jetzt von ihnen nur wieder in ihre hektische Suche nach dem verfluchten Geld hineinziehen. Klar, sie könnte einfach zur Bushaltestelle gehen und nach Hause fahren, aber irgendwie schaffte sie es nicht, sich loszureißen. Warum auch immer.
Sie zogen wieder ihre Jacken und Schuhe an, Melanie schnappte sich den Autoschlüssel und dann liefen sie zusammen nach draußen zur Garage. Dort stiegen sie in einen dunkelgrünen Opel Astra Kombi.
„Eigentlich wollte mein Vater den Wagen behindertengerecht umbauen lassen. Aber die Krankenkasse hat sich geweigert, den Umbau zu bezahlen, weil meine Mutter angeblich nicht darauf angewiesen ist. Die Gärtnerei und der Laden liegen ja direkt nebenan und wenn sie irgendwo hin muss, soll sie den Bus nehmen. Den Bus, der nur jede Stunde fährt und in dem nicht immer Platz für einen Rollstuhl ist. Und das, obwohl Papa als Selbstständiger horrende Summen in die private Krankenversicherung einzahlt", erzählte Melanie verbittert, während sie den Wagen startete und aus der Garage fuhr.
Kathy wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Auch Florentine, die auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, schwieg betroffen. Doch Melanie schien sowieso keine Antwort zu erwarten. Um das unangenehme Schweigen zu übertönen, schaltete sie das Radio an.
„Sie hören Antenne Münster und jetzt zu den aktuellen Ereignissen des heutigen Tages", plapperte die Radiosprecherin. „Heute morgen wurde aus dem Aasee eine Frauenleiche geborgen. Laut Polizei, handelt es sich um eine junge Frau aus Münster, die bereits mehrere Tage tot im See gelegen hatte. Nähere Angaben machte die Polizei bisher nicht. Auch die Frage, ob es sich um ein Gewaltverbrechen handelt, scheint bisher nicht geklärt zu sein..."
„Scheiße!", rief Florentine und hielt sich schockiert die Hände vor den Mund. „Was, wenn es Luisa ist?"
„Das weißt du doch gar nicht", versuchte Kathy, sie zu beruhigen.
„Aber sie ist seit Tagen weg!"
„Wenn sie das ist, kannst du ihr auch nicht mehr helfen", erwiderte Melanie trocken, während sie das Auto durch die schmalen Straßen von Billerbeck lenkte.
Im Rückspiegel konnte Kathy sehen, wie sich Florentines Mund öffnete und schloss, ohne dass sie ein Wort herausbrachte. Auch sie selbst war geschockt von dieser Aussage. Von Melanie hätte sie so eine Herzlosigkeit nie erwartet. Was war nur los mit ihr?
„Es tut mir leid", murmelte Melanie schließlich kleinlaut. „Aber... wenn Luisa wirklich tot ist, dann können wir doch wirklich nichts mehr für sie tun. Genauso, wie für Daniel. Aber ihre Arbeit, die soll doch nicht umsonst gewesen sein, oder?"
„Arbeit? Welche Arbeit?", rief Kathy fassungslos. „Sie haben dieses Geld, falls es das überhaupt gibt, von irgendwelchen Leuten erpresst!"
„Aber diese Leute, die haben doch alle etwas böses getan, sonst hätte man sie ja gar nicht erpressen können! Da ist es doch besser, wenn jemand das Geld kriegt, der es wirklich braucht."
Du, dachte Kathy. Dann fiel ihr aber wieder ein, dass Melanie das Geld gar nicht für sich wollte, sondern für ihre Mutter. Hoffte sie zumindest.
„Du hast recht", meldete sich auf einmal Florentine hinter ihnen wieder zu Wort. „Dieses Arschloch, das Daniel und vermutlich auch Luisa umgebracht hat, soll die Kohle nicht kriegen. Und Luisas blöder, spielsüchtiger Freund auch nicht."
Dankbar nickte Melanie.
„Ganz genau! Und entschuldige nochmal, wegen vorhin."
„Ach was, Schwamm drüber." Und schon waren die beiden wieder beste Freundinnen, obwohl sie sich bis vor Kurzem noch überhaupt nicht gekannt hatten.
„Na schön, was ist denn, wenn dieser Typ, dieser Anwalt, auch dort aufkreuzt?", gab Kathy ängstlich zu bedenken. Du hättest sofort umdrehen und nach Hause fahren sollen, kreischte ihre innere Stimme. Und am besten längst schon die kleine Polizistin oder den komischen Kommissar anrufen sollen! Doch es war bereits zu spät. Sie hing viel zu tief mit drin, indem sie Florentine zur Flucht verholfen hatte.
„Der Anwalt weiß doch gar nichts von dem Hotel", winkte Melanie ab und hielt an einer roten Ampel. „Außerdem habt ihr vorhin versprochen, mir beim Suchen zu helfen", fügte sie hinzu.
Verzweifelt blickte Kathy zu Florentine, die jedoch nur mit den Schultern zuckte.
„Wir können Melanie nicht allein in das Hotel gehen lassen. Wenn der Typ doch dort aufkreuzt...", sie ließ den Satz unvollendet. Leider hatte sie recht.
Ein paar Minuten später parkte Melanie am Straßenrand in einer ruhigen Wohnsiedlung mit vorbildlichen Einfamilienhäusern.
„Ab hier gehen wir zu Fuß, damit niemand den Wagen sieht, falls doch noch jemand anderes beim Potthoff-Hotel auftaucht", entschied sie und stieg aus. Schon allein bei dem Gedanken daran, wurde Kathy schlecht.
Bevor sie losgingen, kramte Melanie eine große Taschenlampe aus dem Kofferraum, ließ sie aber vorerst ausgeschaltet.
Am Ende der Straße, hinter dem letzten Einfamilienhaus, begannen bereits die zu dieser Jahreszeit schon abgeernteten Felder. Weiter hinten zeichnete der Waldrand sich pechschwarz vor dem blaugrauen Abendhimmel ab. Melanie lief voraus und bog auf einen schmalen Fußweg am Rande des Feldes. Die Straßenlaternen wurden immer seltener und es herrschte unheimliche Dunkelheit.
„Wer ist denn so blöd, mitten im nirgendwo ein Hotel zu bauen?", raunte Florentine.
„Für die Naturliebhaber, die sich das Naturschutzgebiet und die Baumberge ansehen wollen, lag es ideal. Und eigentlich war es gar kein richtiges Hotel. Soweit ich weiß, war das Gebäude vorher eine alte Villa, deren Besitzer während der Nazizeit geflohen waren und dann wurde sie nach dem Krieg von den Potthoffs gekauft", wusste Melanie zu berichten.
Wenig später erreichten sie die Villa endlich. Im Licht von Melanies Taschenlampe konnte man erkennen, dass sie aus sandfarbenem, leicht verziertem Stein bestand. Eine etwa zehnstufige, breite Steintreppe führte auf eine kleine Veranda, von der aus man die Eingangstür erreichte, die mit Holzbrettern verrammelt war, ebenso wie die Fenster im Erdgeschoss.
Der Eingang wurde durch einen Balkon mit verschnörkeltem Geländer abgeschirmt, links und rechts davon konnte man mehrere hohe, oben abgerundete Fenster erkennen. Darüber befand sich nur noch das Dachgeschoss, mit runden Fenstern und einer kunstvoll verzierten Dachgaube. Auf der linken Seite der Villa war ein Anbau, der erst später dazugekommen sein musste und nicht so recht zum Rest passte. Um mehrere Fenster im Obergeschoss war die Wand schwarz verfärbt. Dort musste der Brand gewesen sein, den Melanie erwähnt hatte. Über der Eingangstür hing schief und fast verblichen ein Schild mit dem kursiven Schriftzug Hotel Potthoff. Vor dem Gebäude stand ein kleiner Springbrunnen aus weißem Stein, der längst nicht mehr funktionierte und an mehreren Stellen zersplittert war.
Früher und bei Tageslicht musste die Villa ganz hübsch ausgesehen haben, doch jetzt, im Dunkeln mit den verwilderten Büschen und den fast kahlen Bäumen drumherum, dem Brandfleck und dem finsteren Waldrand dahinter sah sie aus, wie aus einem Gruselfilm. Unwillkürlich musste Kathy bei dem Anblick an Das Haus Usher aus Edgar Allan Poes Kurzgeschichte denken und ein kalter Schauer lief über ihren ganzen Körper.
„Sieht nicht so aus, als käme man da so einfach rein", bemerkte sie in der Hoffnung, dass sie schnell wieder umkehren würden.
„Das finden wir gleich raus."
Entschlossen spazierte Melanie durch die nassen Berge von verrottendem Laub direkt auf die Treppe zu und stieg hinauf zum Eingang. Sie versuchte, an den Brettern zu rütteln, doch die waren viel zu fest vernagelt und blieben, wo sie waren.
„Mist!" Sie ging die Treppe wieder hinunter und leuchtete an der Fassade entlang.
„Es gibt einen Keller", stellte sie fest, als das Licht der Taschenlampe auf ein ebenfalls vernageltes Kellerfenster fiel. „Da war bestimmt ein Lagerraum, fürs Essen und so. Dann muss es auch von Außen einen Eingang zum Keller geben."
Dicht aneinander gedrängt, liefen sie um das Gebäude herum. Irgendwo in der Dunkelheit rief eine Eule. Aus dem düsteren Wald war Knacken und Geraschel zu hören. Kathys Herz schlug ihr bis zum Hals. Warum hatte sie sich bloß wieder auf diesen Blödsinn eingelassen?
Tatsächlich führte auf der Rückseite der Villa eine schmale, steile Treppe hinunter zu einer massiven Metalltür. Sofort stieg Melanie dort hinunter und versuchte, am Türknauf zu drehen. Vergeblich. Frustriert kam das Mädchen die Treppe wieder hoch und blickte ratlos an der Hausfassade hoch.
„Seht mal!", rief Florentine plötzlich und deutete auf ein weiteres, schmales Kellerfenster einige Meter entfernt, das nicht vernagelt war. Vermutlich hatte man es übersehen oder die Holzbretter hatten nicht ausgereicht.
Sie eilten dorthin. Aus der Nähe erkannten sie, dass ein großer Riss über die Glasscheibe verlief.
„Wenn wir es einschlagen, können wir hineinklettern", wisperte Melanie aufgeregt und drückte Kathy die Taschenlampe in die Hand.
„Das können wir nicht machen! Das ist Einbruch!", versuchte Kathy sie zu bremsen, doch Melanie hatte bereits einen großen Stein vom Boden aufgehoben und wog ihn prüfend in der Hand.
„Ach was, da wurde vor uns schon tausendmal eingebrochen."
Sie trat zurück und schleuderte den Stein mit einer Wucht, die man so einem zarten Menschen gar nicht zutraute, gegen das Fenster. Klirrend zerbrach das Glas und der Stein fiel mit dumpfem Knall im Hausinneren zu Boden. Melanie kniete sich vor das zerbrochene Fenster und entfernte mit dem über ihre Hand gestülpten Jackenärmel vorsichtig das verbliebene Glas.
„Leuchte mal rein", forderte sie Kathy auf.
Sie tat ihr den Gefallen. Das Fenster befand sich ganz oben, fast direkt unter der Decke des Kellerraumes. An den Wänden standen mehrere leere Regale und ein paar Obstkisten. Auf dem Boden lag ein gammeliger Schlafsack. Anscheinend hatte irgendjemand vor längerer Zeit den Raum als Schlafstätte benutzt, ein Obdachloser vielleicht. Da das Fenster aber weitestgehend unversehrt war, musste derjenige durch die Tür hineingelangt sein...
„Die Tür muss offen sein!", kam Daniels kleine Schwester zum selben Schluss. „Dadurch kommt man ins restliche Haus!"
Und schon begann sie, rückwärts durch das Fenster zu klettern.
„Sei vorsichtig!" Florentine kniete sich neben das Fenster und hielt Melanie an der Jacke fest, damit diese nicht unkontrolliert zu Boden fallen konnte. Melanie hielt sich mit den Händen am unteren Rand des Fensterrahmens fest und ließ sich langsam hinunter gleiten. Dann ließ sie los und landete polternd mit den Füßen auf dem Kellerboden.
„Kommt hinterher! So tief ist es nicht. Oder soll ich euch eine Kiste hinstellen, damit ihr nicht springen müsst?" Sie lief zu einer der Obstkisten und drückte prüfend mit dem Fuß da drauf. Mit lautem Knacken zerbrach das Holz unter ihrem Gewicht.
„Mist, die ist viel zu morsch."
„Sollte nicht eine von uns hierbleiben und Wache halten?", fragte Florentine unsicher.
„Nein, wir müssen zusammenbleiben!", widersprach Kathy und musste an all die Horrorfilme denken, in denen derjenige, der allein zurückblieb, meistens sofort zum Opfer wurde.
„Ich glaube, ich passe nicht durchs Fenster", murmelte Florentine verlegen und verschränkte die Arme vor ihrem üppigen Busen.
„Quatsch, es ist groß genug!", ermunterte Melanie sie aus dem Keller. „Beeilt euch!"
Während Kathy mit der Taschenlampe leuchtete, kletterte Florentine Melanie hinterher. Obwohl sie größer und breiter gebaut war, passte sie trotzdem mühelos durch die Fensteröffnung. Als sie ebenfalls sicher angekommen war, reichte Kathy ihr die Taschenlampe durchs Fenster und begann ebenfalls hineinzuklettern. Das kalte, rostige Metall des Fensterrahmens drückte sich unangenehm in ihre Handfläche, als sie sich herabhängen ließ und sie sprang schnell hinunter, um es nicht länger anfassen zu müssen.
Der kahle Kellerraum war eisig kalt und roch nach Schimmel. Außer den leeren Regalen und Holzkisten schien sich darin nichts weiter zu befinden.
Mittlerweile hatte Melanie die Tür, die tatsächlich nicht abgeschlossen war, geöffnet und war auf den dunklen Gang davor hinausgegangen.
„Warte doch!", flüsterte Kathy und lief ihr zusammen mit Florentine hinterher. „Wie stellst du dir das überhaupt vor? Wollen wir jetzt das ganze Haus durchsuchen? Da sind wir doch tagelang mit beschäftigt!"
„Dann müssen wir eben irgendwann nochmal wiederkommen. Jetzt können wir uns ja erstmal den Keller vornehmen und dann schauen wir weiter."
Na, toll! Jetzt wollte sie gleich mehrere Male einbrechen. Ohne mich!
Doch tief in ihrem Herzen wusste Kathy, dass die Neugier siegen und sie auch bei den nächsten Malen dabei sein würde.
Sie folgten dem dunklen Kellergang. Von der Decke hingen dicke Spinnweben und dem Uringeruch zufolge, musste es hier auch Ratten geben. Es sei denn, es handelte sich um die Hinterlassenschaften der Jugendlichen, die hier früher Party gemacht hatten.
Melanie rüttelte an jeder Tür, an der sie vorbeikamen. Manche davon waren verschlossen. Hinter einer befand sich ein rostiger Heizungskessel und ebenso verrostete Rohre. Bei einem anderen Raum schien es sich um den Wäscheraum zu handeln, denn er beherbergte mehrere große, schimmelbedeckte Waschmaschinen.
„Warum steht das Haus eigentlich so lange leer?", wollte Florentine neugierig wissen.
„Weil niemand es haben wollte", antwortete Melanie knapp, während sie einen Blick in jede der gammeligen Waschmaschinen warf. „Hier drin soll es angeblich spuken."
„Spuken?" Obwohl sie wusste, dass es keine Geister gab, bekam Kathy eine Gänsehaut und sah sich unbehaglich um.
„Die Seelen der toten Kinder sollen hier herumgeistern."
„Welche toten Kinder?" Das wurde ja immer besser!
„Die vom Besitzer. Der soll sein Hotel selbst angezündet haben, nachdem es Pleite gegangen ist. Manche behaupten, er wollte so die Versicherung einheimsen, andere meinen, er wäre vor Frustration verrückt geworden. Jedenfalls sind seine Kinder und seine Frau im Schlaf an den Rauchgasen erstickt, bevor man sie retten konnte."
„Oh Gott, wie schrecklich!" Auch Florentine rieb sich fröstelnd über die Arme. „Und was ist mit dem Besitzer selbst passiert?"
„Angeblich hat der sich im Gefängnis erhängt."
Schon jetzt wusste Kathy, dass sie nach dieser Geschichte Alpträume haben würde.
Ratlos blickte Melanie sich in dem Raum, in dem sie gerade standen, um. Er war voller Kisten, die mit alten, halb verrotteten Papierordnern vollgepackt war. Scheinbar Dokumente, die sich über viele Jahrzehnte Hotelbetrieb angesammelt hatten.
„Ich glaube, Daniel hat hier nichts versteckt", meinte Florentine vorsichtig.
„Aber wo denn dann? Das ist das perfekte Versteck!", beharrte Melanie auf ihrer Meinung, doch inzwischen hörte sie sich selbst nicht mehr ganz so überzeugt an. „Vielleicht sollten wir doch lieber oben gucken. Weil, in diesem gammeligen Keller verschimmelt eh alles. Wir waren auch immer oben, als wir früher hier waren. In den Zimmern und in der Lobby ist fast alles noch ganz."
Nachdem sie eine Zeitlang durch die finsteren Kellergänge geirrt waren, fanden sie endlich die Treppe, die nach oben führte. Glücklicherweise war die schwere Tür an ihrem Ende ebenfalls nicht verschlossen. Durch sie gelangten sie ins Treppenhaus und durch eine weitere Tür in den Eingangsbereich des Hotels. Das Licht der Taschenlampe tanzte über den Empfangstresen, auf dem ein riesiger, vorsintflutlicher Computermonitor stand. Der dunkle Teppichboden unter ihren Füßen, dessen genaue Farbe nicht mehr näher bestimmbar war und von dem ein schimmeliger Geruch ausging, knisterte bei jedem ihrer Schritte. Ein kalter Windzug pfiff an ihnen vorbei und überall knarrte und knarzte es, wie es bei alten Häusern häufig der Fall war.
Plötzlich blieb Melanie wie angewurzelt stehen und ihr kleiner, dünner Körper spannte sich an, wie eine Sprungfeder.
„Hört ihr das?", wisperte sie erschrocken.
Kathy und Florentine blieben ebenfalls stehen und lauschten. Ihr Herz drohte stehen zu bleiben, als Kathy von draußen ein deutliches Brummen vernahm. Das Geräusch eines Autos.
„Da kommt wirklich jemand!", flüsterte sie entsetzt. Wenn das Daniels Mörder ist, sind wir alle tot!
„Scheiße, was machen wir denn jetzt?", krächzte Melanie und schluchzte leise auf. Die Abenteuerlust schien sie endgültig verlassen zu haben und war blanker Angst gewichen.
Schnell knipste sie die Taschenlampe aus, damit man das Licht nicht doch irgendwie von draußen sehen konnte und tauchte sie dadurch in pechschwarze Finsternis.
„Wir müssen sofort hier raus!", flüsterte Florentine durch ihre Hände hindurch, die sie sich verzweifelt vor den Mund presste.
Natürlich hatte sie recht, doch der einzige Weg nach draußen war zurück durch das eingeschlagene Kellerfenster. Und wenn derjenige, der da gerade angefahren kam, das Fenster bemerkte, bevor sie flüchten konnten, saßen sie in der Falle...
In dem Moment hörte man, wie das Motorengeräusch erstarb. Ein paar Augenblicke lang war es Still, bis auf die Geräusche des Hauses, des Windes und ihrer eigenen hektischen Atemzüge.
Dann ertönte ein dumpfes Knallen. Zweimal. Das Schlagen von Autotüren.
Sie sind zu zweit und sie sind bereits ausgestiegen!
Kathys Herz begann wie wild in ihrer Brust zu hämmern. Panische Angst breitete sich in ihrem ganzen Körper bis in die Zehen- und Fingerspitzen aus. Sie wollte loslaufen, so schnell wie möglich aus dieser verdammten Gruselvilla herauskommen. Doch sie war plötzlich wie gelähmt und konnte sich keinen Millimeter von der Stelle rühren.
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