16.
„Und, Herr Schmidtmann? Was halten Sie hiervon?", fragte Plattenberg, und drehte Jessicas Computerbildschirm so herum, dass der Anwalt die geöffneten Dateien darauf betrachten konnte.
Dieser beugte sich vor und warf einen mäßig interessierten Blick darauf.
„Was soll das sein?" Er lehnte sich wieder zurück.
„Hm, gute Frage. Was kann das bloß sein?" Gespielt ahnungslos schaute Plattenberg zu Jessica.
Sie fand dieses Theater zwar überflüssig, spielte aber mit:
„Sieht verdächtig nach eingescannten Bank-, Steuer- und anderen Finanzunterlagen aus, von Unternehmen, hauptsächlich aus Münster und Umgebung. Alles Mandanten der Anwaltskanzlei Schmidtmann & Partner, betreut von einem gewissen Martin Rohrbach."
„Diese Kanzlei dürfte Ihnen bekannt sein, oder Herr Schmidtmann?"
Schmidtmanns Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Nur das verräterische Zucken unter seinem Auge zeigte, dass diese Ruhe nur oberflächlich war.
„Woher haben Sie das?"
„Von einem USB-Stick, den Daniel Hubner sorgfältig in einem Schließfach versteckt hat, bevor er ermordet wurde", gab der Kommissar bereitwillig Auskunft. Er fuhr mit dem Finger über die Staubschicht auf der Oberkante des Bildschirms, betrachtete angewidert seine nun staubbedeckte Fingerspitze und schnippte die Staubflusen dann weg, ganz zufällig in Schmidtmanns Richtung.
Der Rechtsanwalt verfolgte das Ganze kommentarlos. Wahrscheinlich formulierte er in Gedanken bereits schon den nächsten Beschwerdebrief, diesmal an den Polizeipräsidenten oder sogar an den Oberstaatsanwalt.
„Ihre Kanzlei ist unter anderem auf Steuerrecht spezialisiert, ist das richtig?", fragte Plattenberg weiter.
„Bravo, Sie können ja lesen!", stichelte Schmidtmann.
„Also unterstützen Sie Ihre Mandanten auch bei jeglichen Steuerangelegenheiten."
„Unter anderem, ja."
„Gehört dazu auch Beihilfe zur Steuerhinterziehung?"
Der selbstgefällige Ausdruck wich augenblicklich aus Schmidtmanns Gesicht.
„Wie bitte?"
„Paragraph 27 StGB, um es in einer Ihnen verständlicheren Sprache auszudrücken. Das Strafmaß beträgt bis zu zehn Jahren Haft, wie für die Haupttat auch. Da sitzt man für ein Steuervergehen manchmal sogar länger ein, als für eine Vergewaltigung oder für Totschlag. Aber was ist denn schon ein Menschenleben gegenüber entgangenen Steuereinnahmen, nicht wahr? Vater Staat mag es überhaupt nicht, wenn man ihn um sein Geld bringt."
Jörg Schmidtmann hatte sich schnell wieder gefangen. Betont unberührt schlug er ein Bein über das andere und legte die ineinander verschränkten Hände darauf ab.
„Sie müssen sich schon entscheiden, werfen Sie mir nun Wirtschaftsverbrechen oder den Mord an diesem Daniel Hubner vor?"
„Das eine stört das andere ja nicht."
„Dann haben Sie sicherlich auch irgendwelche Anhaltspunkte, die meine Schuld beweisen? Andernfalls muss ich unsere nette Unterhaltung leider bis auf Weiteres als beendet ansehen."
Langsam gingen Jessica diese Spielchen gehörig auf die Nerven. Ihrem Kollegen aber scheinbar nicht.
„Wollen Sie vielleicht einen Anwalt zu Rate ziehen?", fragte er mit leisem Anflug von Spott in der Stimme. „Wie ist das eigentlich: Ein Anwalt mit Anwalt, ist das dann ein Anwalt im Quadrat? Oder potenziert man Anwälte nicht?"
Vielleicht würde Schmidtmann Polizeipräsident und Oberstaatsanwalt auch überspringen und sich direkt beim Landesinnenminister höchstpersönlich beschweren.
„Ihre mathematischen Kenntnisse sind sehr beeindruckend, aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet", meinte er nun.
„Falls es Ihnen entgangen sein sollte, sind wir hier diejenigen, die die Fragen stellen."
„Dann sollten Sie damit anfangen, anstatt nur absurde Anschuldigungen zu äußern."
„Wussten Sie, dass der in Ihrer Kanzlei als Anwalt angestellte Martin Rohrbach offenbar gleich mehrere seiner Mandanten aktiv bei der Steuerhinterziehung unterstützt hat?", tat Jessica ihm den Gefallen.
„Und dass er dies getan hat, wissen Sie woher?"
Gott, ging der Typ ihr auf die Nerven!
„Aus dem Zeug, das sich auf dem Stick befindet. Da sind nämlich zufällig auch Kopien von Rohrbachs handschriftlichen Notizen und sogar Screenshots von Email-Verläufen zwischen ihm und seinen Mandanten drauf. Zwar war er anscheinend schlau genug gewesen, dafür anonyme Wegwerf-Email-Adressen anstatt der Firmen-Email zu benutzen, aber er konnte ja nicht ahnen, dass sein fleißiger Praktikant Screenshots davon machen und das alles sorgfältig abspeichern würde." Zufrieden lehnte sie sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und wartete auf die Reaktion.
„Es mag ja sein, dass Herr Rohrbach das alles tatsächlich getan hat, aber meine Rolle bei dem Ganzen erschließt sich mir immer noch nicht", entgegnete Schmidtmann fast schon gelangweilt.
„Sie wollen also sagen, dass diese kleinen Extra-Dienstleistungen auf Herrn Rohrbachs Eigeninitiative zurückzuführen sind und nicht das inoffizielle Geschäftsmodell Ihrer Kanzlei darstellen?", hakte Plattenberg nach.
„Das haben Sie richtig erfasst." Schmidtmanns Zögern bevor er antwortete, kam Jessica einen Ticken zu lang vor. Schwer vorstellbar, dass er nichts von Rohrbachs Machenschaften gewusst hatte.
„Also geben Sie zu, Ihre Mitarbeiter und die Vorgänge in Ihrer Kanzlei überhaupt nicht unter Kontrolle zu haben?"
Das Absprechen seiner Führungsqualitäten schien den Anwalt mehr zu ärgern als all die vorherigen Beschuldigungen.
„Für wen halten Sie sich eigentlich, um mir solche Vorhaltungen zu machen? Sie haben absolut keine Ahnung, was es heißt, eine erfolgreiche Anwaltskanzlei zu führen!"
„Vielleicht habe ich keine Ahnung. Vielleicht will ich die auch gar nicht haben." Plattenberg steckte die Hände in die Hosentaschen und begann langsam durch den Raum zu schlendern.
„Sehen Sie, Herr Schmidtmann, diese ganzen Steuer-und Geldgeschichten interessieren mich eigentlich nicht wirklich. Geld an sich interessiert mich ohnehin nicht besonders."
Eine merkwürdige Aussage von jemandem, der eine Uhr im Wert eines Kleinwagens trägt.
„Was mich aber sehr wohl interessiert ist, wer für den Tod von Daniel Hubner und Luisa Steinfeld verantwortlich ist. Und ich vermute, dass Geld dabei, wie so oft, eine nicht unerhebliche Rolle spielt."
„Luisa Steinfeld ist tot?" Schmidtmanns Stimme klang überrascht, doch das hatte bei ihm nichts zu bedeuten. Schließlich wusste er, wie man sich perfekt verstellte.
„Ihre Leiche wurde vor einigen Stunden gefunden, sie scheint aber bereits mehrere Tage tot zu sein", klärte Jessica ihn auf.
„Oh Gott, das ist ja schrecklich!" Das hörte sich in ihren Ohren nicht nach großer Anteilnahme an.
„Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?", fragte Plattenberg, der mittlerweile hinter Schmidtmann stand.
„Was soll mir denn noch dazu einfallen?" Der Anwalt stellte wieder beide Füße auf den Boden und versuchte hinter sich zu blicken, was sich jedoch als nicht ganz so einfach herausstellte. „Wollen Sie etwa andeuten, ich hätte etwas mit ihrem Tod zu tun?"
„Und, haben Sie?"
„Natürlich nicht!"
„Wissen Sie, wer sie getötet hat?"
„Nein."
„Wissen Sie, wer Daniel Hubner getötet hat?"
„Nein!"
Ein langes, angespanntes Schweigen folgte, bis der Hauptkommissar es schließlich beendete:
„Nachdem Martin Rohrbach vor zwei Wochen verschwunden ist, haben Sie versucht, ihn zu finden. Wozu?"
„Wie ich heute morgen bereits erklärt habe, können wir keinen Mitarbeiter weiter beschäftigen und bezahlen, der einfach sang- und klanglos verschwindet."
„Und das war der einzige Grund?"
„Das ist, meiner Meinung nach, Grund genug."
„Warum glaube ich Ihnen das bloß nicht, Herr Schmidtmann?"
Schmidtmann verrenkte sich fast den Hals, als er den Kopf erneut nach hinten drehen wollte. „Sie können glauben, was Sie wollen. Meinetwegen auch an das heilige Spaghettimonster."
Bei der Erwähnung von Spaghetti, wurde Jessica wieder schmerzlich daran erinnert, dass sie seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass die Kantine schon längst zu hatte. Eigentlich hätte sie nicht wenig Lust auf Spaghetti gehabt.
„An das heilige Spaghettimonster glaube ich jetzt nicht unbedingt. Aber wissen Sie, was ich glaube? Dass Sie sehr wohl von Herrn Rohrbachs Zusatz-Dienstleistungen gewusst haben und nicht sehr erfreut darüber waren. Zumal er sich das aller Wahrscheinlichkeit nach sehr gut bezahlen ließ und das Geld natürlich selbst einsteckte, steuerfrei und an der Kanzlei vorbei. Entgangene Gewinne für Sie und Ihre Partner."
Einen Moment lang schien der Anwalt zu überlegen und abzuwägen, ob er weiter den Unwissenden mimen oder lieber versuchen sollte, von sich abzulenken.
„Also gut", seufzte er schließlich. „Wir hatten bereits einige Zeit den Verdacht, dass Rohrbach sich an irgendwelchen krummen Geschäften beteiligt. Aber dabei ging es nicht um Steuern, sondern um Veruntreuung von Mandantengeldern."
„Und wie kamen Sie zu diesem Verdacht?"
„Ein Mandant von Rohrbach ist damit an uns herangetreten. Rohrbach hat natürlich alles abgestritten und man konnte ihm nichts nachweisen. Kurz vor seinem Verschwinden haben meine Partner und ich ihn aufgefordert, seine Mandate an einen anderen Mitarbeiter abzugeben und wollten ihn freistellen, bis alle Verdachtsmomente geklärt waren. Dagegen hat er vehement protestiert. Und dann ist er einfach verschwunden und hat dabei all seine Unterlagen und sogar seine Festplatte mitgenommen. Für uns kam das einem Schuldeingeständnis gleich."
Tolle Anwälte. War man nicht erst dann schuld, wenn das bewiesen war?
„Also hat Rohrbach Angst bekommen, dass seine krummen Geschäfte auffliegen und ist deshalb abgehauen", fasste Jessica zusammen. „Und was ist mit Luisa Steinfeld? Hing die da mit drin?"
„Die Vermutung liegt natürlich nahe", stimmte Schmidtmann ihr zu. „Ihre plötzliche Kündigung sprach jedenfalls dafür, allerdings hatte sie vorher ebenfalls alles abgestritten."
Luisa hatte aber erst gekündigt, nachdem Daniel getötet wurde und nicht sofort nach Rohrbachs Verschwinden. Ihre Panik musste also doch eher durch Daniels Tod ausgelöst worden sein.
„Und Sie haben von Herrn Rohrbachs Treiben natürlich vorher nichts gewusst", wandte Plattenberg sich wieder an Schmidtmann. Zur Freude von dessen Nacken, hatte er seine Runde durch den Raum endlich fortgesetzt.
„Da müssen Sie mir schon das Gegenteil beweisen", versetzte der Rechtsanwalt hochnäsig.
„Und Sie wissen auch nicht, wo Herr Rohrbach sich zu diesem Zeitpunkt aufhält."
„Nein, das weiß ich bedauerlicherweise nicht."
„Aber Sie wüssten es gerne, nicht wahr?"
„Das kann ich nicht abstreiten, er ist schließlich in Besitz von sehr sensiblen, vertraulichen Unterlagen, die der Kanzlei gehören."
„Unterlagen, die beweisen, was er in Ihrer Kanzlei so getrieben hat", ergänzte Plattenberg und setzte sich auf die Kante von Jessicas Tisch. „Unterlagen, deren Inhalt dafür sorgen könnte, dass Ihre Kanzlei in der Öffentlichkeit nicht mehr ganz so gut dasteht. Und womöglich war auch das der eigentliche Grund, weshalb Sie Herrn Rohrbach unbedingt finden wollten. Um sich mit ihm zu einigen, wie man diese Gefahr aus der Welt schaffen könnte."
Der selbstgerechte Ausdruck in Schmidtmanns Gesicht verwandelte sich in pure Verachtung. Seine wütend zusammengepressten Lippen waren nicht mehr als ein dünner Strich. Scheinbar hatte Plattenberg ins Schwarze getroffen.
„Nun war aber Herr Rohrbach dummerweise nicht der einzige, der in Besitz dieser pikanten Informationen war. Unser toter Freund Daniel hat sie ebenfalls mühevoll zusammengetragen, und das sicherlich nicht nur so zum Spaß. Er hatte etwas Bestimmtes damit vor und ich gehe stark davon aus, dass er die Dokumente nicht einfach nur dem Finanzamt übergeben wollte. Schließlich konnte man daraus viel mehr Kapital schlagen..."
„Zum Beispiel durch Erpressung", vervollständigte Jessica den Gedanken. „Und es gibt mehrere Möglichkeiten, wen er erpresst hat: Rohrbach, dessen Mandanten, die Kanzlei oder alle zusammen." Fragend schaute sie Schmidtmann an und er starrte mit finsterem Blick zurück.
„Wie ich Ihnen bereits mehrmals erklärt habe: Mit besagtem Daniel Hubner hatte ich nie etwas am Hut. Er hat auch weder meine Kanzlei noch mich persönlich erpresst und dass er im Besitz von irgendwelchen kompromittierenden Steuerdokumenten unserer Mandanten ist, wusste ich bis gerade eben ebenfalls nicht."
„Das behaupten Sie."
Schmidtmann zuckte mit den Schultern. „Sie haben vor einigen Stunden meine gesamte Kanzlei leer geräumt. Versuchen Sie ruhig, in den sichergestellten Sachen etwas Belastendes gegen mich zu finden. Da werden Sie bestimmt eine Weile gut beschäftigt sein. Alle weiteren Fragen richten Sie in der Zwischenzeit bitte an meinen Anwalt, den ich nun doch gerne konsultieren würde."
Mit diesen Worten, lehnte sich der Jurist zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Für ihn schien die Vernehmung jetzt beendet zu sein.
„Gut, wie Sie meinen. Die Kollegen von der Abteilung für Wirtschaftsverbrechen werden gewiss noch ein paar Fragen an Sie haben."
Plattenberg griff nach Jessicas Telefonhörer und wählte eine interne Nummer. „Sie können unseren Gast jetzt wieder abholen und ihn den Kollegen vom KK 23 zum Spielen vorbeibringen." Er legte wieder auf und ging, ohne Schmidtmann eines weiteren Blickes zu würdigen, an seinen eigenen Schreibtisch.
Bald darauf holte ein uniformierter Beamter den Rechtsanwalt ab. Irgendwie war Jessica froh, ihn nicht mehr sehen zu müssen.
„Was für eine totale Zeitverschwendung mit diesem Kotzbrocken", schimpfte sie. „Jetzt heult er sich zusammen mit seinem Anwalt beim Staatsanwalt aus und der lässt ihn dann bestimmt sofort laufen. Von wegen, der wusste nichts von Rohrbachs Machenschaften. Vielleicht hat er ihn ja sogar selbst aus dem Weg räumen lassen, weil der die ganze Kohle ohne zu teilen eingeheimst hat."
Rohrbach war immer noch wie vom Erdboden verschluckt, weshalb die Fahndung nach ihm bundesweit ausgeweitet worden war. Die Möglichkeit, dass er selbst ebenfalls schon tot war, erschien gar nicht mehr so abwegig. Auch nach Florentine wurde immer noch gesucht. Wenn das so weiterging, würden sie bald die Öffentlichkeit einbeziehen müssen.
„Schmidtmann und seine Partner sind vermutlich die meiste Zeit damit beschäftigt, ihren Gewinn zu zählen und kriegen vor lauter Dollar- beziehungsweise Eurozeichen in den Augen gar nicht mit, was in ihrer Kanzlei wirklich vor sich geht. Tatsächlich denke ich immer noch, dass Schmidtmann mit dem Mord an Hubner nichts zu tun hat. Das passt alles einfach nicht zu ihm", meinte Plattenberg und begann ohne großen Enthusiasmus den Stapel interner Post durchzugehen. „Und er scheint sich ja ziemlich sicher zu sein, dass wir nichts gegen ihn finden. Ob er und seine Kanzlei wirklich so sauber sind, wie er behauptet, können die vom KK 23 herausfinden."
„Aber Daniel muss mit diesem ganzen Zeug auf dem Stick jemanden erpresst haben. Und wenn es nicht Schmidtmann oder seine Kanzlei war, dann müssten es Rohrbach oder seine Mandanten sein. Und Luisa steckte höchstwahrscheinlich mit Daniel unter einer Decke, sonst hätte sie kurz nach seinem Tod nicht so Hals über Kopf gekündigt. Sie hat einfach Angst gekriegt, dass sie die Nächste ist. Und so war es dann auch."
„Wir wissen immer noch nicht, ob sie überhaupt getötet wurde", erinnerte Plattenberg sie und blickte auf seine Uhr, deren Wert ihn natürlich überhaupt nicht interessierte. „Die Frau Doktor beeilt sich nicht sehr mit der Obduktion. Nachmittag scheint in der Rechtsmedizin ein dehnbarer Begriff zu sein."
Sogar er wirkte inzwischen sichtlich genervt und angespannt. Kein Wunder, schließlich hatten sie inzwischen ganze zwei Tote, eine Vermisste, einen Haufen Verdächtiger, wobei der Hauptverdächtige flüchtig war, und kamen trotzdem kaum voran. Auch musste es, falls tatsächlich eine Erpressung stattgefunden hatte, irgendwo das erpresste Geld geben, allerdings fehlte auch davon jede Spur. Hatten sie vielleicht doch etwas übersehen und waren vollkommen auf dem Holzweg?
In dem Moment meldete sich Jessicas Magen mit einem tiefen Knurren zurück. Sie öffnete ihre Schreibtischschublade, in der Hoffnung, dort etwas Essbares zu finden.
„Jetzt müssen wir uns auch noch Rohrbachs Mandanten vornehmen", murmelte sie, während sie in der Schublade herumwühlte. Zwar hatten einige Kollegen bereits damit begonnen, doch es würde trotzdem ewig dauern, diese Leute alle vorzuladen, zu vernehmen, ihre Alibis zu prüfen und das alles anschließend zu protokollieren und zu verschriftlichen. Ausschlafen konnte sie in den nächsten Tagen dann wohl ganz vergessen. Bald würde sie schon ihren Schlafsack aufs Präsidium mitbringen müssen, um hier zu übernachten.
Ihre Laune hellte sich etwas auf, als sie einen halb zerdrückten Corny-Riegel mit Kirschen in der hintersten Ecke der Schublade entdeckte. Schnell griff sie danach, riss das Papier ab und biss genüsslich hinein. Satt machte das nicht unbedingt, aber immerhin besser als nichts.
Kauend drehte sie ihren Bildschirm wieder richtig herum, um sich den Inhalt auf Daniels Stick weiter anzusehen. Natürlich hatten sie bisher längst nicht alles genau durchsehen können. Möglicherweise würde sie noch etwas finden, was sie weiterbrachte.
Ihre Aufmerksamkeit fiel sofort auf eine Textdatei mit dem vielsagenden Dateinamen ‚xyz'. Neugierig klickte sie da drauf. Der Inhalt bestand aus einer einzigen, kurzen Zeile:
51.969941,7.304990
„Was soll das denn sein?"
„Was hat denn jetzt schon wieder Ihr Weltbild so erschüttert?"
Sie ignorierte den spöttischen Unterton.
„Auf dem Stick ist eine Textdatei, wo nur eine komische Zahlenfolge drinsteht."
„Eine komische Zahlenfolge? Lassen Sie mal sehen." Plattenberg kam wieder zu ihr herüber, stellte sich neben sie und schaute auf ihren Monitor. Nachdenklich hob er eine Augenbraue. Die merkwürdige Zahlenreihe schien auch ihn vor ein Rätsel zu stellen.
„Vielleicht noch ein Passwort? Oder irgendein Code?", überlegte Jessica. „Eine Geheimsprache, oder so?"
„Geheimsprache? Ich bitte Sie, wir sind doch nicht im Kindergarten!"
„Wieso? Wenn es eine geheime Nachricht an einen Komplizen ist? An Luisa, zum Beispiel."
Sie erinnerte sich, wie ihre beste Freundin und sie sich in der Schule eine Geheimsprache ausgedacht hatten, damit niemand die Zettel, die sie einander während des Unterrichts schrieben, lesen konnte. Zugegebenermaßen war sie nicht besonders kompliziert, sie benutzten für jeden Buchstaben lediglich die Zahl für die Stelle, an der er im Alphabet stand. Doch wenn der Lehrer den Zettel abgefangen und laut vorgelesen hatte, waren da nur aneinander gereihte Zahlen gewesen, die auf den ersten Blick keinen Sinn ergaben. Einfach, aber effektiv.
„Sie haben eindeutig zu viele Dan Brown-Romane gelesen, Frau Schillert."
Bla, bla. Sie mochte Dan Brown überhaupt nicht.
„Sollen wir das nicht lieber an die KTU schicken? Vielleicht wissen die, was das ist." Obwohl die sich zurzeit nicht unbedingt über ein Zahlenrätsel freuen würden.
„Das ist nicht nötig, ich weiß was das ist", entgegnete ihr Kollege und setzte seinen üblichen, besserwisserischen Gesichtsausdruck auf. „Das sind Koordinaten."
„Koordinaten?"
„Ja, geografische Koordinaten. Hatten Sie keinen Erdkundeunterricht in der Schule?"
Jessica blickte noch einmal auf den Bildschirm. „Doch, aber da schrieben wir die ganz anders. Breitengrad, Längengrad und dahinter den Buchstaben für Ost, West und so weiter."
„Das hier ist dasselbe, nur in einer anderen Schreibweise. In Dezimalgraden."
Was, zur Hölle, laberte er da? Sie starrte wieder auf die Zahlen.
„Sind Sie sicher? Da wäre ich ja gar nicht drauf gekommen", gab sie zu.
„Sehen Sie? Man wird alt wie eine Kuh und lernt trotzdem noch dazu. Das soll jetzt natürlich nicht heißen, dass Sie eine Kuh sind. Schon gar keine alte..."
„Aber eine junge, oder was?"
„Das haben Sie jetzt gesagt, nicht ich."
„An Ihrer Stelle würde ich jetzt ganz schnell die Fressluke halten!"
Verärgert wandte Jessica sich wieder ab, kopierte die Koordinaten aus der Datei und fügte sie in das Suchfeld von Google Maps ein.
„Oh, das liegt ja in Billerbeck!", rief sie erstaunt aus.
„Hubners Heimatstadt? Was genau befindet sich dort?"
„Da ist ein Haus auf dem Satellitenbild. Ein ziemlich großes, eher eine Villa, oder so." Sie zoomte heran, aber irgendwann verschwamm das Satellitenbild, ohne dass man etwas genaueres erkennen konnte. „Das liegt am Stadtrand. Recht nah an einem Waldgebiet, in der Nähe der Berkelquelle."
„Was für eine Quelle?"
„Die Berkel. Das ist ein Fluss. Sagen Sie bloß, Sie kennen die Berkel nicht!"
Etwas irritiert schaute Plattenberg sie an. „Nie gehört."
„Das ist aber eine gewaltige Wissenslücke für jemanden, der so gerne klugscheißt. Hier steht, ‚die Berkel gehört zum Flusssystem des Rheins'. Vom Rhein haben Sie aber schonmal gehört, oder?"
„Vom Rhein?" Er tat so, als müsste er überlegen. „Warten Sie mal... Da klingelt tatsächlich was bei mir."
„Da gibt's 'ne ganz schöne Stadt am Rhein. Nennt sich Köln", meinte sie mit einem breiten Grinsen.
„Das habe ich jetzt aber nicht gehört!", sagte er empört. „Um mal auf das Wesentliche zurückzukommen: Warum speichert Hubner die Koordinaten zusammen mit dem ganzen kompromittierenden Material ab? In diesem Haus muss doch irgendetwas sein..."
„Ein Versteck? Ich meine, wenn er tatsächlich jemanden erpresst hat, muss er irgendwo das Geld versteckt haben. Bisher haben wird weder in seiner Wohnung, noch in dem Haus seiner Eltern etwas gefunden. Und auch keine schwarzen Konten in der Schweiz oder auf den Bermudas."
„Das wäre zumindest eine Erklärung", stimmte Plattenberg ihr zu und blickte nachdenklich auf das Satellitenbild auf dem Bildschirm. „Was meinen Sie, wie lange brauchen wir dorthin?"
„Halbe Stunde etwa? Aber am besten über die Landstraße, auf der Autobahn ist jetzt bestimmt Stau." Menschen mit normalen Arbeitszeiten hatten um diese Uhrzeit meistens schon Feierabend und die ganzen Pendler würden jetzt aus Münster zurück in die Orte drumherum fahren. „Wollen Sie ernsthaft jetzt dahinfahren, ohne zu wissen, ob in diesem Haus überhaupt etwas von Bedeutung ist?"
„Wenn wir nicht nachsehen, werden wir es auch nicht erfahren." Das stimmte auch wieder. „Oder wollen Sie lieber Schmidtmanns Vernehmungsprotokoll schreiben?"
„Nee, eigentlich nicht." Zwar würde sie das irgendwann sowieso tun müssen, aber jetzt hatte sie gerade überhaupt keine Lust da drauf.
„Na, also! Was du heute kannst besorgen, das verschieb auf übermorgen. So ein Ausflug in die Natur ist ja auch viel schöner, als hier herumzuhocken. Besonders, wenn man in so guter Gesellschaft ist." Er nahm Jessicas Jacke von der Stuhllehne und hielt sie ihr galant hin.
„Sie sind ja vielleicht in guter Gesellschaft, ich ja eher nicht so", erwiderte sie, schmiss das Papier von dem Riegel in den Abfalleimer und riss ihm ihre Jacke aus den Händen.
„Ach, was! Sie haben die beste Gesellschaft, die man sich wünschen kann. Aber wenn Sie nicht mitwollen, können Sie auch hierbleiben, das Protokoll schreiben und darauf warten, dass der Kriminalrat mit Schmidtmanns nächster Beschwerde hereinschneit."
Damit hatte er sie endgültig überredet.
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