15.
Unglücklich betrachtete Kathy ihr Spiegelbild im Badezimmerspiegel und dieses starrte aus roten, verheulten Augen zurück. Warum hast du mir das angetan, Daniel? Was hat dir nicht an mir gepasst?
Vermutlich würde sie das nie mehr erfahren, denn Daniel war einfach gestorben und hatte sich so ganz leicht aus der Affäre gezogen. Okay, das war jetzt vielleicht etwas unfair. Wahrscheinlich hatte er nicht darum gebeten, brutal ermordet zu werden, nur um sich nicht vor ihr für seine Seitensprünge rechtfertigen zu müssen.
Kathy war klar, dass sie aufhören musste, sich in Selbstmitleid zu suhlen und sie wieder zu ihrem normalen Leben zurückkehren sollte. Sie hatte sich auch fest vorgenommen, am Montag wieder in die Uni zu gehen, ihre Veranstaltungen zu besuchen, mit ihren Kommilitonen in die Mensa zu gehen und all die normalen Dinge zu tun, die sie getan hatte, bis dieser elende Kommissar bei ihr aufgetaucht war.
Jetzt war Montag und sie war weder zur Uni gefahren, noch hatte sie sonst irgendetwas normales getan. Sie hatte sich nicht einmal den Schlafanzug ausgezogen und sich auch nicht die Haare gewaschen. Gut, wenigstens die Zähne hatte sie sich geputzt, aber das war es auch schon mit der Normalität.
Frustriert wandte Kathy sich vom Spiegel ab, öffnete den Wasserhahn und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, verließ sie das Badezimmer, ohne noch einmal in den Spiegel zu sehen und schlurfte in die Küche. Dort öffnete sie den Kühlschrank und schaute hinein. Wenigstens Hunger hatte sie noch. Immerhin etwas.
Allerdings ließ der Inhalt ihres Kühlschranks zu wünschen übrig, denn Einkaufen war sie seit ein paar Tagen auch nicht mehr gewesen und ernährte sich fast ausschließlich von Cornflakes, Knäckebrot und kalten Dosenravioli. Nun erblickte sie einen nicht mehr ganz frischen Frischkäseaufstrich, einen abgelaufenen Joghurt und eine Packung mit eingetrockneten Goudascheiben. Resigniert ließ sie die Kühlschranktür wieder zufallen und öffnete das Tiefkühlfach. Dort empfing sie eine längst vergessene Tiefkühlpizza. Nicht schlecht. Schnell zog sie den Karton heraus, öffnete ihn und schob die steinharte Pizza in den Ofen. Das war zwar alles andere, als eine gesunde Ernährung, es war ihr aber inzwischen scheißegal, ob sie fett werden würde. Schließlich gab es sowieso niemanden mehr, dem sie gefallen wollen würde. Und Daniel hatte ja scheinbar ohnehin einen ganz anderen Frauentyp bevorzugt.
Schwermütig seufzend, setzte Kathy sich an den Küchentisch, stützte ihren Kopf auf die Hand und saß einfach da, darauf wartend, dass ihre Pizza fertig wurde. Immer noch lag das Mathebuch ihres Bruders auf dem Tisch. Sie sollte es ihm zurückbringen. Mit der Nachhilfe würde es wohl nichts mehr werden, dafür hatte sie zurzeit einfach keinen Nerv.
Glücklicherweise hatte Melanie sich seit Samstag nicht mehr gemeldet. Vermutlich hatte ihr Vater seinen Betrieb wieder geöffnet und sie hatte anderes zu tun, als Hobbydetektiv zu spielen. Umso besser. Langsam ging sie Kathy richtig auf die Nerven. Bevor Melanie wieder nach Billerbeck aufgebrochen war, hatte sie natürlich noch die Frage aufgeworfen, ob Daniels unbekannte Geliebte etwas von dem Geld wissen könnte. Woher sollte Kathy das denn wissen? Das Geld interessierte sie gar nicht. Was sie wissen wollte war, wer diese Frau ist. Und warum Daniel sich so lange mit ihr abgegeben hatte, während er noch zig andere Frauen nebenher hatte. Vielleicht waren Florentine und die andere Tussi ja bei weitem nicht die einzigen? Vielleicht gab es noch viele, viele mehr?
Ein würziger Geruch stieg ihr in die Nase und erinnerte sie an die Pizza. Gerade als sie aufstehen wollte, um den Karton noch einmal aus dem Müll zu holen und nachzusehen, wie lange die Pizza im Ofen bleiben musste, klopfte es leise an der Tür.
Nicht schon wieder! Warum zogen die Bullen nicht direkt in ihre Wohnung, wenn sie schon ständig bei ihr ein und aus gingen?
Doch dann stutzte sie. Die Polizei klingelte doch meistens Sturm, als gäbe es kein Morgen mehr. Und das hier war ein vorsichtiges Klopfen, direkt an ihrer Wohnungstür. Womöglich doch nur ein Nachbar?
Kathy stand auf, ging zur Tür und versuchte durch den Spion zu sehen, konnte aber niemanden erkennen. Stand derjenige, der geklopft hatte einfach nur nicht im Blickfeld des Türspions? Oder war er schon wieder weg? Sollte sie es einfach darauf beruhen lassen oder lieber nachsehen?
Die Neugier siegte und sie öffnete vorsichtig die Tür ‒ und blickte in das engelsgleiche Gesicht von Florentine.
„Kann ich reinkommen?", fragte diese und drängte sich, ohne Kathys Antwort abzuwarten, einfach an ihr vorbei in die Wohnung. Sie war jedoch viel zu schockiert, um sie daran zu hindern.
Leise schloss Florentine die Tür hinter sich und ließ ihre große Umhängetasche auf den Boden fallen.
„Waren die Bullen heute bei dir?"
Immer noch sprachlos, schüttelte Kathy den Kopf.
„Gut, hoffentlich bleibt es auch so. Aber hier sollten sie mich ja eigentlich nicht vermuten."
Was redete sie da? Es klang verdächtig danach, als wäre Florentine auf der Flucht, und zwar vor der Polizei.
„Was... was willst du hier?", fand Kathy endlich ihre Sprache wieder.
„Du musst mir helfen."
Fast hätte Kathy laut aufgelacht, als ihr die Bedeutung dieses Satzes klar wurde.
„Ich soll dir helfen? Hast du sie noch alle? Nachdem du meinen Freund gevögelt hast?" Sie musste sich stark zusammenreißen, um ihre Stimme nicht allzu hysterisch klingen zu lassen. Oder, um nicht auf Florentine loszugehen, sie an den blonden Haaren zu packen und sie ihr büschelweise herauszureißen.
„Ich habe ihn nicht gevögelt", beteuerte Florentine und nestelte nervös an ihrem geflochtenen Armband herum. „Ich... Ich weiß vielleicht, wer ihn getötet hat." Ihre Stimme wurde zum Ende des Satzes hin immer schwächer, bis sie schließlich ganz erstarb.
Völlig verdattert starrte Kathy sie an. Hatte sie nicht erst kürzlich etwas Ähnliches von Daniels Schwester gehört? Warum wussten alle etwas, nur sie nicht?
Vielleicht hat Florentine ihn selbst getötet!, flüsterte eine warnende Stimme in ihrem Kopf und sie dachte an den DNA-Test, den die Polizei anscheinend durchgeführt hatte. Aus irgendeinem Grund mussten sie ja hinter Florentine her sein.
„Warum sucht die Polizei dich?", fragte Kathy misstrauisch.
Florentine sah sich etwas verloren um. „Können wir vielleicht ins Zimmer gehen? Es macht mich ganz nervös, wenn wir hier so herumstehen." Sie schnupperte prüfend in der Luft. „Was riecht hier so komisch?"
„Ach, Scheiße! Die Pizza!"
Schnell rannte Kathy zurück in die Küche und stellte den Ofen aus. Als sie ihn öffnete, war die Pizza natürlich schon verkohlt. Na prima. Jetzt hatte sie aber sowieso keinen Hunger mehr.
Florentine war ihr in die Küche gefolgt und stand nun verlegen neben dem Küchentisch.
„Sorry, das wollte ich nicht."
„Ich hab dich was gefragt", erinnerte Kathy sie und war selbst erstaunt darüber, wie gefasst sie dabei klang.
Während sie auf Florentines Antwort wartete, hämmerte ihr Herz jedoch wie verrückt. Um sich zu beschäftigen, streifte sie sich einen Ofenhandschuh über, zog das Ofenblech heraus und ließ die verbrannte Pizza in den Mülleimer rutschen. Diese Pizza schien ihr Leben zu diesem Zeitpunkt perfekt zu symbolisieren.
„Das ist eine lange Geschichte", wich Florentine aus.
„Ich habe Zeit." Kathy setzte sich an den Tisch und sah ihre vermeintliche Nebenbuhlerin abwartend an.
Angespannt setzte diese sich ebenfalls an den Tisch, warf Kathy einen vorsichtigen Blick zu und senkte ihn sogleich wieder auf die Tischplatte.
„Daniel kannte meine Schwester."
„Was? Welche Schwester?"
Kathy hatte gar nicht gewusst, dass Florentine eine Schwester hatte. Allerdings hatte ihr Leben sie auch nicht sonderlich interessiert. Das einzige, was sie immer wollte war, dass Florentine ihre Finger von Daniel ließ. Ihr fiel Lukas' Beschreibung der unbekannten Frau wieder ein. Sie passte zwar auf Florentine, könnte aber auch genauso gut auf deren Schwester passen, wenn diese ihr ähnlich sah. Hatten sie also beide mit Daniel rumgemacht? Sich ihn, sozusagen, schwesterlich geteilt?
„Ich wusste ja selbst bis vor ein paar Jahren nichts von ihr", fuhr Florentine fort und kratzte an der Ecke von Niklas' Mathebuch herum. „Meine Oma hat mir das erzählt. Mein Vater war früher schonmal verheiratet, als er noch ganz jung war und die Frau ist irgendwie schwanger abgehauen und hat sich nie mehr gemeldet. Er hat das Kind nie gesehen und es interessierte ihn wohl auch nicht wirklich. Aber meine Oma hat das nicht mehr losgelassen, all die Jahre lang. Sie ist der Meinung, dass Schwestern voneinander wissen müssen. Aber das ist alles nicht so wichtig..."
Sie unterbrach sich kurz und atmete tief ein. Die Wörter kamen wie ein Wasserfall aus ihrem Mund, sie konnte ihren Redefluss gar nicht mehr bremsen.
„Jedenfalls habe ich herausgefunden, dass meine Schwester hier in Münster studiert und habe mich dann selbst vor zwei Jahren an der WWU fürs Studium beworben, um unter diesem Vorwand her zuziehen und in Ruhe nach ihr zu suchen. Und dann hab ich sie auch schnell gefunden. Und so Daniel kennengelernt."
„Wie jetzt?", fragte Kathy verständnislos. „Deine Schwester hat Daniel zuerst gekannt? Ich dachte, du hast ihn durch Dennis kennengelernt."
Florentine schüttelte den Kopf.
„Luisa, also meine Schwester, war eigentlich fast schon mit ihrem Jurastudium fertig, als Daniel gerade mit seinem angefangen hat vor zwei Jahren. Sie hat irgendein Buch verkauft, das sie nicht mehr brauchte und er wollte es ihr abkaufen. Und so haben sie sich kennengelernt. Und ich war gerade bei ihr zu Besuch, als er kam, um das Buch abzuholen. Im Wohnheim war das damals, da hat er zu Beginn seines Studiums auch noch gewohnt, bevor er das WG-Zimmer gefunden hat."
Das wusste Kathy auch. Daniel hatten die ständigen Partys im Wohnheim genervt. Lukas war zwar ein Chaot, aber die meiste Zeit nicht zuhause, deswegen hatte Daniel meistens seine Ruhe gehabt und konnte störungsfrei lernen. Er war schon ein kleiner Streber gewesen. Kathy schniefte und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase.
„Also hast du Daniel schon gekannt, bevor ich mit ihm zusammenkam?" Sie konnte es immer noch nicht fassen. Warum hatte er ihr nie etwas gesagt?
Florentine nickte. „Ich habe Dennis erst durch ihn kennengelernt. Die Idee mit den Hausarbeiten hatte Luisa. Sie hat das auch gemacht. Hausarbeiten waren kein Problem für sie, aber Prüfungen. Sie hatte immer schreckliche Prüfungsangst und das erste Examen nur mit Ach und Krach bestanden. Und beim zweiten ist sie dann endgültig durchgefallen. So kurz vor dem Ziel."
Das alles interessierte Kathy nicht wirklich. Ihr brannte nur eine Frage auf der Zunge:
„Hatte deine Schwester jemals was mit Daniel?"
„Nein. Ich bin sicher, da war nichts. Genauso wie mit mir. Er hat dich geliebt."
Na, klar! Und das soll ich dir glauben?, dachte Kathy verbittert. Doch sie schluckte die erneut aufkommende Wut wieder hinunter.
„Deine Schwester war in seinem Zimmer, nachdem er ermordet wurde. Lukas hat sie gesehen. Sie wollte irgendetwas holen. Hat sie ihn umgebracht?"
„Natürlich nicht!", rief Florentine aufgebracht.
Erschrocken bemerkte Kathy, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten, die sie nur mit Mühe zurückhalten konnte. Sie begann wieder manisch an ihrem Armband herumzufummeln.
„Luisa und Daniel, die haben irgendeine Scheiße gemacht", brabbelte sie weiter vor sich hin.
„Welche Scheiße?"
„Ich weiß nicht genau. Die haben damit angefangen, als Daniel das Praktikum in der Kanzlei von Dennis' Vater gemacht hat. Luisa arbeitet auch dort."
„Moment, warte!" Kathy hielt sich die Finger an die Schläfen. Langsam kam sie nicht mehr mit. „Luisa hat doch das Studium nicht bestanden. Wie konnte sie dort arbeiten?" Sie konnte sich nicht vorstellen, dass man in so einer Schickimicki-Kanzlei für die bessere Gesellschaft eine Studienabbrecherin beschäftigte.
„Dieser Typ, ein Anwalt dort, hat sie als seine Assistentin eingestellt. Daniel hatte durch Dennis von der Stelle erfahren und es ihr dann erzählt. Eigentlich ist das ein Job für eine Anwaltsgehilfin, aber die stellen wohl auch gerne Studierte ein, die nur das erste Staatsexamen haben. Die wissen schließlich mehr und können auch Sachen übernehmen, die so eine Anwaltsgehilfin nicht hinkriegt. Und außerdem... also... na, ja... ich glaube, Luisa hatte eine Zeitlang auch was mit dem Typen, bevor sie mit ihrem Freund zusammenkam. Ein absoluter Volltrottel. Nur wegen dem hat sie diesen ganzen Mist überhaupt gemacht."
Erneut brach Florentine ihre Erzählung ab und starrte auf das Mathebuch auf dem Tisch. Zwar wusste Kathy immer noch nicht, wohin diese ganze Geschichte führen sollte, aber langsam wurden die Zusammenhänge klarer. Falls Florentine die Wahrheit sagte. Andererseits, so etwas konnte man sich eigentlich gar nicht ausdenken.
„Aber was hat das alles jetzt mit dem Mord an Daniel zu tun?"
„Genau weiß ich das doch auch nicht!" Florentine hörte sich nun wirklich an, als würde sie jeden Moment losheulen. Noch konnte sie sich allerdings zusammenreißen. „Jedenfalls hat Luisa irgendwann herausgefunden, dass dieser Anwalt da irgendwelchen illegalen Scheiß abzog. Genau hat sie mir das nicht erzählt, aber er hat sie dann wohl auch eingeweiht. Ich glaube, er half seinen Mandanten bei irgendwelchen Machenschaften und beschiss sie auch noch zusätzlich irgendwie. Na, ja, gleichzeitig erfuhr Luisa von ihrem blöden Freund, dass er angefangen hatte, bei so Online-Casinos zu zocken und haufenweise Schulden hatte. Und anstatt sich von dem Arsch zu trennen, wollte sie ihm auch noch helfen!"
Gebannt hörte Kathy weiter zu. Ihre Wut auf Florentine war längst vergessen. Sie wollte einfach nur wissen, wo das Ganze endete.
„Luisa heulte sich ständig bei mir aus, dass sie nicht so viel Kohle hatte, um seine Schulden zu bezahlen. Und dieser Idiot konnte auch gar nicht aufhören! Wahrscheinlich ist der spielsüchtig, oder so. Irgendwann hat Daniel mal nach Luisa gefragt, denn so viel Kontakt hatten sie gar nicht mehr, seit sie nicht mehr an der Uni war. Und dann hab ich ihm halt alles erzählt. Und er kam dann auf die Idee, sich diese Sache mit Luisas Chef zunutze zu machen, um an Geld zu kommen."
Sofort zählte Kathy eins und eins zusammen: „Sie haben diesen Anwalt erpresst."
„So einfach ist es nicht", widersprach Florentine. „Wie gesagt, ich war gar nicht so genau eingeweiht. Luisa und Daniel haben nur über mich miteinander kommuniziert, damit ihre Verbindung nach seinem Praktikum in der Kanzlei nicht so auffiel. Deswegen die ganzen SMS und Nachrichten. Daniel hat sich gar nicht mit mir getroffen, sondern mit Luisa."
Je mehr Kathy erfuhr, desto mehr hatte sie das Gefühl, ihren Freund gar nicht gekannt zu haben. Warum hatte er sich in diese Sache reinziehen lassen? Woher kam diese ganze kriminelle Energie? Es kam ihr vor, als hätte es zwei Daniels gegeben: Den stinknormalen, fleißigen Jurastudenten und den abgebrühten, hinterhältigen Verbrecher.
Abermals riss Florentines Stimme sie aus ihren Gedanken:
„Das Praktikum war ja auch nur dazu da, um Daniel in die Kanzlei zu schleusen. Luisa hat diesen Anwalt überredet, einen Praktikanten einzustellen. Angeblich, damit der die ganzen unwichtigen Sachen erledigen konnte, während sie beide sich voll ihren Machenschaften widmen konnten. Und dann haben wir Dennis dazu benutzt, dass er seinen Vater bittet, ausgerechnet Daniel die Praktikumsstelle zu geben. Und als er dann tatsächlich in der Kanzlei war, nutzte er die Gelegenheit, um Kopien von Akten und so zu machen, also das ganze Erpressungsmaterial zu sammeln. Aber weißt du, was ich glaube? Dass sie gar nicht den Anwalt erpresst haben, sondern seine Mandanten!"
„Und einer von denen hat ihn umgebracht?", vermutete Kathy. Das war doch alles einfach nicht zu glauben!
„Nein, die konnten das alles doch nicht wissen! Ich denke eher, dass es dieser Anwalt war. Der ist nämlich irgendwann einfach verschwunden. So, vor paar Wochen. Wahrscheinlich hat er alles rausbekommen und... und Daniel dann erledigt. Und jetzt... jetzt..." Nun konnte Florentine die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie liefen ihr aus den Augen und hinterließen schwarze Mascara-Schlieren auf ihrer makellosen Haut. Sie schluchzte laut auf. „Jetzt ist Luisa auch verschwunden!"
Und dann vergrub sie das Gesicht in ihren Händen und begann hemmungslos zu weinen.
Hilflos saß Kathy da und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr war selbst zum Heulen zumute. Warum war Florentine ausgerechnet zu ihr gekommen und hatte ihr das alles erzählt? Sie wollte das alles doch gar nicht wissen! Wieso kamen sie alle immer zu ihr? Melanie, Florentine... Moment!
„Wenn das erpresste Geld dafür gedacht war, dass Luisa davon die Schulden ihres Freundes bezahlen konnte, warum hatte Daniel seiner Schwester dann erzählt, dass es für die Behandlung ihrer Mutter war?", sprach sie aus, was ihr gerade durch den Kopf ging.
„Was?" Florentine wischte die Tränen mit dem Ärmel ihrer Jeansjacke fort und verschmierte dabei die Wimperntusche über ihr ganzes Gesicht. „Er hat seiner Schwester davon erzählt?"
„Nur, dass er eine große Geldsumme besaß, um die Behandlung seiner Mutter in Amerika bezahlen zu können. So hat Melanie das zumindest erzählt."
„Also wollte er sich die ganze Kohle selbst unter den Nagel reißen!", hauchte Florentine ungläubig.
„Dann hat vielleicht doch deine Schwester ihn getötet, nachdem sie das erfahren hat", merkte Kathy vorsichtig an und wusste gar nicht, woher ihre plötzliche Gelassenheit kam. Als würde gar nicht sie das sagen, sondern eine völlig unbeteiligte Person.
„Das kann nicht sein!"
„Was macht dich da so sicher?"
„Weil er schon tot war, als wir bei ihm ankamen!", schrie Florentine ihr mit hysterischer Stimme entgegen.
Mit offenem Mund starrte Kathy sie an. „Ihr seid bei ihm gewesen, als er schon tot war?" Sie spürte, wie ihre Hand anfing zu zittern. Die Gelassenheit von vorhin war ein Trugbild, die Ruhe vor dem Sturm. Sie klemmte ihre Hand zwischen ihren Knien ein, um sie ruhig zu halten.
„Der Anwalt hat Luisa angerufen und sie bedroht!", heulte Florentine schluchzend. „Sie wollte Daniel warnen, aber er ist nicht ans Handy gegangen. Sie ist zu mir gekommen und wir sind hingefahren. Es war schon Mittwoch, so drei Uhr Nachts. Wir haben den Ersatzschlüsselbund genommen, den sein blöder Mitbewohner in dem Blumenkübel vor der Haustür versteckt hat, weil er seinen ständig vergessen hat. Und dann fanden wir ihn in der Küche... wie er da lag! In der Blutlache!" Der Rotz floss Florentine aus der Nase, während sie unkontrolliert schluchzte. Dann verschluckte sie sich und begann zu husten.
Endlich löste sich Kathys Schockstarre. Sie stand auf, nahm ein Glas aus dem Küchenschrank, füllte es mit Wasser und hielt es Florentine hin. Dankbar griff sie danach und trank, wobei die Hälfte über ihr Kinn lief und auf ihre Jacke heruntertropfte.
„Warum habt ihr nicht die Polizei gerufen?", wollte Kathy wissen. Wie konnte man nur so blöd sein?
„Ich wollte das doch! Aber Luisa hielt mich ab und meinte, dass die sofort uns verdächtigen würden. Und genau das tun sie ja jetzt auch! Und außerdem... Außerdem wollte sie das Geld finden..."
Schon wieder! Alle wollten sie nur dieses gottverdammte Geld! War es denn wirklich ein Menschenleben wert? Daniels Leben?
„Und jetzt ist Luisa verschwunden", wimmerte Florentine leise. „Wahrscheinlich hat er ihr auch etwas angetan!"
Ein eiskalter Schauer lief Kathy über den Rücken. Da lief also nun dieser mordende Anwalt herum, der alle Mitwisser tötete und womöglich auch hinter dem Geld her war. Hinter demselben Geld, hinter dem auch Melanie her war. Wer würde da wohl den Kürzeren ziehen, ein eiskalter Mörder oder ein neunzehnjähriges Mädchen? Sie musste Melanie warnen!
„Du musst zur Polizei gehen, Florentine!" Hatte sie nicht den gleichen Satz kürzlich erst schon einmal gesagt?
„Damit sie mich verhaften? Sie denken doch, dass Luisa und ich das waren! Irgendwie müssen wir dort Spuren hinterlassen haben, sonst wären die gar nicht auf uns gekommen. Der Anwalt hat nämlich aufgeräumt. Da war alles sauber, außer der Blutlache auf dem Boden. Sogar dieser Fleischhammer, der in der Spüle lag und mit dem er Daniel wahrscheinlich erschlagen hat. Da war kein Blut dran!"
Mittlerweile schien sich Florentine wieder etwas beruhigt zu haben. Zumindest hatte sie aufgehört zu schluchzen und zu husten. Doch Kathy wuchs das alles langsam über den Kopf. Erst Melanie und jetzt das.
„Und was willst du jetzt tun? Warum bist du hergekommen?"
„Ich... ich wusste nicht wohin! Zu Dennis kann ich nicht, der wird von den Bullen beobachtet. Er hat sowieso schon für mich gelogen und mir ein falsches Alibi gegeben. Zu meinen Eltern kann ich auch nicht, ich kann sie nicht mal anrufen, weil sie bestimmt abgehört werden!", rief Florentine verzweifelt. „Ich dachte, ich könnte mich bei dir verstecken. Fürs erste zumindest. Die Bullen denken doch, dass wir uns hassen und würden mich hier nicht suchen!"
Jetzt waren sie also wieder am Anfang ihres Gesprächs angekommen.
„Irgendwann werden die auch hier auftauchen", sagte Kathy trocken. „So doof sind die nicht."
„Und was soll ich deiner Meinung nach machen?"
Ins Präsidium gehen, dich stellen und alles erklären! Aber Kathy war natürlich klar, dass Florentine das nicht hören wollte. Du musst sie aus deiner Wohnung rausbekommen, um nicht ins Fadenkreuz zu geraten!, meldete sich ihr Selbsterhaltungstrieb zu Wort. Dann kam ihr eine Idee:
„Wir könnten Melanie fragen, ob sie uns hilft, dich zu verstecken. Du hast doch nie mit ihr zu tun gehabt, oder? In Billerbeck würde dich die Polizei doch noch weniger vermuten. Vielleicht kennt sie irgendein gutes Versteck."
Genau! Und dann können die beiden tun, was sie wollen, nach dem Geld suchen und sich in Gefahr bringen, oder was auch immer. Und du hältst dich fern von ihnen! War das nicht ein guter Plan?
„Und du meinst, dass Melanie mir helfen würde?", fragte Florentine zweifelnd und strich die an ihrer feuchten Wange klebenden Haare zurück.
„Wenn du ihr hilfst, das Geld zu finden, oder wenigstens so tust, macht sie das ganz bestimmt", meinte Kathy zuversichtlich.
Und wenn sie Florentine bei Melanie abgeliefert hatte, würde sie so schnell wie möglich von dort verschwinden, zu ihrer Mutter und ihrem Bruder fahren und dort bleiben, bis dieser ganze Alptraum endlich vorbei war.
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