12.
„Kanzlei Dr. Schmidtmann und Partner, was kann ich für Sie tun?", ratterte die Empfangsdame ihren gewohnten Spruch herunter und sofort fühlte Jessica sich zu ihrem ersten, unerfreulichen Besuch hier zurückversetzt.
Ihrem Herrn Kollegen waren solche Empfindungen natürlich gänzlich fremd.
„Plattenberg, Kriminalpolizei. Wir hatten bereits letzte Woche das Vergnügen."
Jessica bezweifelte es stark, dass die Empfangsdame ihre erste Begegnung als Vergnügen ansah, doch diese blieb trotzdem höflich und professionell:
„Es tut mir leid, Herr Plattenberg, ich habe die Anweisung erhalten, Sie nicht mehr hereinzulassen. Sie haben bis auf weiteres Hausverbot in unserer Kanz..."
„Es tut mir leid, meine Liebe, doch ich habe hier einen Durchsuchungsbeschluss, der Ihr lächerliches Hausverbot vollständig außer Kraft setzt. Wenn Sie die Tür also jetzt nicht öffnen, werden wir uns gewaltsam Zutritt verschaffen müssen. Wäre es nicht schade um diese wunderschöne, verzierte Holztür?"
Eisiges Schweigen auf der anderen Seite.
„Einen Moment, Sie können gleich eintreten, ohne Gewalteinwirkung."
Diesmal dauerte der Moment auch wirklich nur einen Moment und bald darauf wurde die Tür geöffnet. Sie traten ein, dicht gefolgt von mehreren weiteren Beamten in Zivilkleidung und in Uniform, die in Kürze die gesamte Kanzlei auf den Kopf stellen würden.
Nachdem sie am Sonntagabend die Fahndung nach Luisa Steinfeld eingeleitet hatten, hatten sie sich auf die Suche nach ihrer Halbschwester gemacht, diese jedoch weder bei ihrem Freund noch in ihrer WG aufgefunden. Allem Anschein nach hatte Florentine die zu ihr beorderte Streife irgendwie, wahrscheinlich durchs Fenster, bemerkt und war über den Keller durch einen Hinterausgang aus ihrem WG-Zimmer geflohen. Nun fehlte von beiden Schwestern jede Spur. Auch in ihrem jeweiligen Heimatort im Saarland waren sie noch nicht aufgetaucht, somit liefen derzeit die Fahndungen auf Hochtouren.
Da Schmidtmanns Kanzlei das verbindende Glied zwischen Luisa und Daniel zu sein schien, hatten sie zwischenzeitlich von der Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbeschluss angefordert und diesen glücklicherweise direkt am Montagmorgen auch bekommen.
Neben der Empfangsdame hatte sich bereits auch Schmidtmanns Vorzimmerkobra Monika Koch postiert. Ehe sie irgendetwas sagen konnte, drückte Plattenberg ihr einfach wortlos den Durchsuchungsbeschluss in die Hand, wandte sich zu den Kollegen um und breitete theatralisch die Arme aus.
„Lassen Sie sich nicht aufhalten, meine Damen und Herren."
Die Beamten schwärmten aus und verschwanden im Inneren der Kanzlei.
„Würden Sie vielleicht erklären, was...", fing die Koch an, doch Plattenberg fiel ihr brüsk ins Wort:
„Sie haben doch sicherlich einen Konferenzraum oder etwas in der Art? Zeigen Sie uns, wo der ist und bringen Sie dann Ihren Chef dorthin. Wir hätten ihn gerne gesprochen."
„Selbstverständlich, folgen Sie mir bitte."
So aufrecht, als hätte sie buchstäblich einen Stock im Arsch, eilte die Koch voraus und führte sie den bereits bekannten Weg entlang, an mehreren Büros vorbei, die bereits von den Kollegen auseinander genommen wurden. Im Vorbeigehen hielt Plattenberg einen von ihnen an. „Holen Sie aus der Personalabteilung die Akten von Daniel Hubner und Luisa Steinfeld und bringen Sie diese dann in den Besprechungsraum. Aber etwas flott!"
Der uniformierte Beamte sah zwar nicht sehr begeistert über den unfreundlichen Befehlston aus, trottete aber ohne Widerrede davon.
Bevor sie in dem VIP-Bereich der Kanzlei ankamen, wo die Partner und Schmidtmann selbst ihre Büros hatten, öffnete die Koch eine Tür zu ihrer Rechten.
„Dies ist der Konferenzraum. Herr Dr. Schmidtmann kommt gleich zu Ihnen."
„Nicht gleich, sondern jetzt sofort", berichtigte Plattenberg sie und stiefelte an ihr vorbei durch die offene Tür.
Monika Koch bedachte ihn mit einem finsteren Blick und stöckelte hoch erhobenen Hauptes davon.
Jessica betrat ebenfalls den Besprechungsraum. Er wurde von einem langen Konferenztisch aus hochwertigem, dunklen Holz beherrscht, um den herum ein dutzend lederbezogener Stühle standen. Die hohen Altbaufenster offenbarten einen Blick in den Hinterhof, in dem ein kleiner, hübscher Garten angelegt war.
„Sie sind heute ja mal wieder besonders freundlich", bemerkte Jessica und betrachtete das Bild an der Wand, das den Prinzipalmarkt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zeigte.
„Mit Freundlichkeit allein kommt man meistens nicht sehr weit, meine Liebe", entgegnete Plattenberg, setzte sich auf den Stuhl am Kopfe des Tisches, lehnte sich zurück und schlug ein Bein über das andere.
Jessica fand, dass er so ein bisschen wie ein Mafiaboss wirkte. Fehlte nur noch eine fette Zigarre in der Hand und man konnte ein Remake vom Paten drehen. Na gut, vielleicht passte die dunkelorange, weiß gepunktete Krawatte, die er in einer gewagten Kombi mit einem dunkelblauen Anzug mit dezentem Karomuster trug, nicht unbedingt zum Mafia-Image.
Schmunzelnd setzte sie sich ebenfalls an den blank polierten Tisch. Die ganze Einrichtung des Raumes strotze nur so vor Angeberei, wie auch der Rest der Kanzlei.
Das Wort ‚Durchsuchungsbeschluss' schien wahre Wunder zu bewirken, denn Jörg Schmidtmann tauchte nur wenige Augenblicke später auf, seine treue Assistentin im Schlepptau. Diese schloss die Tür zum Konferenzraum hinter sich und blieb stocksteif davor stehen, wie ein Wächter.
„Wie ich sehe, haben Sie es sich bereits gemütlich gemacht", stellte Schmidtmann trocken fest.
„Ja danke, wir sitzen sehr bequem. Nehmen Sie doch ebenfalls Platz und fühlen Sie sich wie zu Hause", entgegnete der Kommissar frech, ganz so, als wäre er hier der Chef.
Langsam setzte Schmidtmann sich Jessica gegenüber an den Tisch.
„Entschuldigen Sie, Herr Plattenberg, doch Ihr unmögliches Betragen geht meiner Meinung nach entschieden zu weit! Auch ein Durchsuchungsbeschluss rechtfertigt nicht den respektlosen Umgang, den Sie mir und meinen Mitarbeitern gegenüber an den Tag legen. Mir scheint, als wären sämtliche Erziehungsversuche während Ihrer Kindheit ergebnislos an Ihnen vorbeigegangen."
„Na, Sie wissen ja, bei wem Sie sich diesbezüglich beschweren können", meinte Plattenberg gleichmütig. „Aber um mich soll es hier sowieso nicht gehen. Unterhalten wir uns doch lieber über Sie und Ihre Kanzlei."
Schmidtmann strafte ihn mit einem verächtlichen Blick.
„Ich frage mich, was dieser ganze Aktionismus am frühen Montagmorgen soll und wieso der Staatsanwalt bei diesem Blödsinn mitwirkt."
„Sieht ganz danach aus, als hätten Sie den Staatsanwalt nicht oft genug zum Essen eingeladen. Oder es hat ihm schlicht und einfach nicht geschmeckt", spöttelte Plattenberg. „Ein weiterer Grund, weshalb er die Durchsuchung Ihrer Kanzlei angeordnet hat ist, dass deren Name etwas zu häufig im Zusammenhang mit unseren Ermittlungen im Mordfall Daniel Hubner auftaucht."
„Das müssen Sie mir genauer erklären."
„Nichts lieber als das!"
In diesem Augenblick flog die Tür zum Besprechungsraum auf. Die Kobra konnte gerade noch zur Seite springen, um sie nicht gegen den Schädel geknallt zu bekommen.
„'tschuldigung", murmelte der Polizist von vorhin und trat mit zwei Aktenordnern unterm Arm ein.
„Die Personalakten Hubner und Steinfeld", sagte er und legte die Ordner auf den Tisch.
„Ah, perfekt! Genau im richtigen Moment, vielen Dank!"
Der uniformierte Kollege verschwand wieder nach draußen.
Plattenberg zog einen der Ordner zu sich heran und betrachtete die darauf vermerkte Kennzeichnung.
„Mein lieber Herr Dr. Schmidtmann, beantworten Sie mir doch bitte folgende Frage: Wie kommt es, dass Sie in Ihrer Kanzlei eine Personalakte von Daniel Hubner haben?"
„Das müssen Sie Frau Eisner, unsere Personalreferentin fragen. Mit Personalangelegenheiten beschäftige ich mich nicht", erwiderte der Anwalt ungerührt.
„Aha", kommentierte Plattenberg, öffnete den Ordner, zog mehrere zusammengeheftete Blätter heraus und schmiss sie in maximal respektloser Manier direkt vor Schmidtmann auf den Tisch. „Können Sie beschreiben, was das ist?"
Schmidtmann beugte sich vor und warf einen kurzen, desinteressierten Blick darauf.
„Sieht aus, wie ein Arbeitsvertrag für ein Praktikum."
„Exakt. Daniel Hubner, zufälligerweise genau der Daniel Hubner, der letzte Woche ermordet wurde, hatte also im November letzten Jahres ein Praktikum hier bei Ihnen absolviert. Waren allerdings nicht Sie es, der bei unserem ersten Besuch noch ganz ahnungslos fragte, woher er besagten Daniel Hubner denn bitte schön kennen sollte?"
„Ich kann nicht jeden kennen, der hier ein Praktikum absolviert. Die Praktikanten werden von meinen Mitarbeitern betreut. Häufig kriege ich sie während ihres Praktikums nicht einmal zu Gesicht", setzte Schmidtmann sein Spielchen weiter fort.
„Von diesem Praktikanten wussten Sie aber ganz bestimmt, denn Ihr Sohn Dennis hat Daniel die Praktikumsstelle beschafft, als Gegenleistung dafür, dass dieser seine Studienarbeiten geschrieben hat", ergriff Jessica das Wort.
„Haben Sie Beweise dafür?"
„Wir haben Zeugenaussagen, die das bestätigen."
„Und Ihre Zeugen haben mit eigenen Augen gesehen, wie ich höchstpersönlich den Praktikumsvertrag unterschrieben habe? Soweit ich das sehe, ist darauf die Unterschrift von Frau Eisner zu sehen."
Herausfordernd schaute Schmidtmann Jessica an. Dieser Mistkerl! In Sachen Arroganz stand er Plattenberg wirklich in nichts nach. Eigentlich war er sogar noch schlimmer, auch wenn das nur schwer möglich war.
„Es ist also reiner Zufall, dass Hubner, dessen enger Freund ‒ oder soll ich besser sagen Klient? ‒ Ihr Sohn war, ausgerechnet bei Ihnen in der Kanzlei ein Praktikum gemacht hat", kam Plattenberg Jessica nun zu Hilfe.
„Zufälle gibt es", war Schmidtmanns schlichter Kommentar dazu.
„Die gibt es in der Tat. Kommen wir also zum nächsten Zufall: Sagt Ihnen der Name Luisa Steinfeld etwas?"
„Ja, das tut er. Sie war bis vor Kurzem noch eine Mitarbeiterin bei uns. Aber das wussten Sie sicher bereits, sonst hätten Sie sich nicht Ihre Personalakte bringen lassen."
Spöttisch klatschte Plattenberg in die Hände.
„Sehr beeindruckend kombiniert, Herr Dr. Schmidtmann. Frau Steinfeld hat ihre fristlose Kündigung letzten Donnerstag eingereicht, zufälligerweise nur einen Tag, nachdem Hubners Leiche gefunden wurde. Können Sie sich das erklären?"
Der Rechtsanwalt zuckte mit den Schultern. „Bedaure, da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Über Frau Steinfelds genauen Kündigungsgrund müssen Sie sich mit Frau Eisner unterhalten. Oder mit Frau Steinfeld selbst."
„Wussten Sie, dass Luisa Steinfeld die Halbschwester von Florentine, der Freundin Ihres Sohnes ist?"
„Das war mir bis gerade eben nicht bekannt."
Aufmerksam musterte Jessica ihr Gegenüber und versuchte in seinem Gesicht zu erkennen, ob er log oder etwas über Luisas Verbleib wusste. Doch Schmidtmanns Gesichtsausdruck blieb völlig regungslos. Der Mann war wirklich verdammt gut.
„Und was genau hat Luisa Steinfeld hier gemacht?", fragte sie. „Soweit wir wissen, hat sie ihr zweites Staatsexamen nicht bestanden und war somit keine Volljuristin."
„Genaueres kann Ihnen, wie gesagt, Frau Eisner sagen, oder Sie werfen einen Blick in die Personalakte, die vor Ihnen auf dem Tisch liegt. Soweit ich weiß, war Frau Steinfeld als Assistentin für einen unserer angestellten Anwälte, Herrn Rohrbach, tätig."
Bei dem Namen klingelte sofort etwas bei Jessica.
„Rohrbach? Martin Rohrbach? Der selbe, der als Betreuer in Daniels Praktikumsbericht eingetragen ist?"
Sie schnappte sich Daniels Personalakte und überflog den nicht sehr umfangreichen Inhalt. Tatsächlich wurde er während seines Praktikums scheinbar im Büro dieses Rohrbachs eingesetzt. Da hatten sie also die Verbindung!
„Merkwürdig", murmelte Plattenberg, lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und bildete mit den Fingern ein Zelt. „Das sind schon sehr viele Zufälle auf einmal: Daniel Hubner und Luisa Steinfeld arbeiten beide gleichzeitig in Ihrer Kanzlei für einen Ihrer Anwälte. Dann wird Hubner ermordet und Luisa Steinfeld kündigt Hals über Kopf ihren Job und verschwindet spurlos. Gleichzeitig finden wir ihre Spuren am Tatort. Zu allem Übel ist sie auch noch die Halbschwester der Freundin Ihres Sohnes, die außerdem mit dem Mordopfer befreundet oder seine Geliebte war. Wenn sich die Zufälle derart häufen, sind es meiner Meinung nach keine Zufälle mehr. Oder sehen Sie das anders, Herr Dr. Schmidtmann?" Er fixierte den Rechtsanwalt mit bohrendem Blick.
Betont gleichgültig schnippte dieser einen imaginären Fussel von seinem Ärmel und antwortete wie nebenbei:
„Bedauerlicherweise kann ich Ihnen da nicht weiterhelfen. Das ist Ihr Mordfall, nicht meiner."
„Ach ja? Das werden wir noch sehen, ob es nicht auch Ihr Mordfall ist", entgegnete der Hauptkommissar bedeutungsschwer. „Dieser Martin Rohrbach, ist er heute hier im Haus? Wir würden uns sehr gerne mit ihm persönlich unterhalten."
„Ich fürchte, das wird leider nicht möglich sein", erwiderte Jörg Schmidtmann und zum ersten Mal während ihres Gesprächs konnte Jessica einen ganz leichten Anflug von Nervosität in seiner Stimme bemerken.
„Und wieso nicht? Hat er etwa auch ganz zufällig plötzlich gekündigt?"
„Nicht direkt. Er ist vor einiger Zeit einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen."
Was ging hier eigentlich vor? Jessica warf ihrem Kollegen einen überraschten Blick zu. Sollte er ebenfalls überrascht sein, wusste er das natürlich wie immer gut zu verbergen.
„Und wann genau ist er nicht mehr aufgetaucht?"
Schmidtmann wandte sich fragend an seine Assistentin.
„Vor etwa zwei Wochen ist Herr Rohrbach das letzte Mal zur Arbeit erschienen. Seitdem ist er nicht mehr erreichbar. Er antwortet weder auf Anrufe noch ist er in seiner Wohnung anzutreffen", antwortete diese.
„Und niemand sucht nach ihm? Was ist mit seiner Familie?"
„Herr Rohrbach ist geschieden. Seine Exfrau weiß nicht, wo er ist, ebenso seine Eltern. Er ist ein erwachsener Mensch und kann selbst über seinen Aufenthaltsort bestimmen", ergriff nun wieder Schmidtmann das Wort. „Wir konnten ihn ebenfalls bisher nicht finden. Frau Eisner hat bereits einen Aufhebungsvertrag für das Arbeitsverhältnis aufgesetzt. Sollte Herr Rohrbach weiterhin unauffindbar bleiben, wird dieser auch ohne seine Zustimmung gültig, schließlich können wir nicht jemanden beschäftigen, der physisch nicht anwesend ist."
Das wurde alles immer merkwürdiger. Nun waren Luisa, Florentine und dieser Rohrbach alle verschwunden und Daniel war tot. Wer hier noch an einen Zufall glaubte, dem war echt nicht mehr zu helfen.
Plattenberg stand auf, ging langsam um den Tisch herum, blieb am Fenster stehen und blickte hinaus in den Garten.
„Herr Dr. Schmidtmann, nennen Sie mir bitte einen guten Grund, weshalb ich nicht annehmen sollte, dass Sie etwas mit dem plötzlichen Verschwinden all dieser Leute, beziehungsweise dem gewaltsamen Tod Hubners, zu tun haben."
„Nennen Sie mir einen guten Grund, weshalb Sie das annehmen sollten", drehte Schmidtmann den Spieß sofort um. Er trieb es mit seinen Anwalts-Spielchen richtig auf die Spitze. Wahrscheinlich war er es gewohnt, die Polizei für dumm zu verkaufen und hielt sie alle sowieso nur für Idioten. Doch da hatte er sich gewaltig geschnitten.
„Alle vier haben entweder in Ihrer Kanzlei gearbeitet oder standen irgendwie mit Ihnen in Verbindung. Alle vier sind nun verschwunden oder tot. Sie versuchen uns offensichtlich Informationen vorzuenthalten und flüchten sich in fadenscheinige Ausreden. Wie gesagt, ich glaube nicht an derartige Zufälle."
„Nun, Herr Plattenberg, das alles reicht mitnichten für eine Verhaftung, geschweige denn eine Anklage."
„Da mögen Sie recht haben. Noch reicht das nicht." Plattenberg drehte sich wieder vom Fenster weg und wandte sich an Monika Koch: „Ich möchte eine Liste aller Mandanten, die Herr Rohrbach betreut hat, inklusive der zugehörigen Akten und allen sonstigen Aufzeichnungen. Unsere Kollegen werden zwar sowieso alles mitnehmen, doch damit es schneller geht, seien Sie doch so gütig und suchen das von mir Gewünschte vorher heraus."
„Das wird bedauerlicherweise nicht gehen", antwortete Schmidtmann an Kochs Stelle.
„Wir haben einen Durchsuchungsbeschluss!", erinnerte Jessica ihn. „Der gilt auch für die Mandantenakten."
Für wen hielt dieser aufgeblasene Fatzke sich eigentlich? Da konnte der sich seine anwaltliche Schweigepflicht sonst wohin schieben!
„Sie haben mich falsch verstanden, Frau Schillert", fuhr der Anwalt fort. Nun hörte er sich doch merkbar unbehaglich an. Die selbstsichere ihr-könnt-mir-eh-nichts-Fassade schien offensichtlich leicht zu bröckeln. „Es ist nicht so, dass wir Ihnen die gewünschten Informationen nicht geben wollen. Wir können es schlichtweg nicht."
„Und weshalb?", wollte Plattenberg nun wissen.
„Die Akten, an denen Herr Rohrbach gearbeitet hat und all seine Aufzeichnungen... nun ja, sie sind... verschwunden."
„Was?", rief Jessica ungläubig. „Und das sagen Sie uns erst jetzt?"
„Sie haben vorher nicht danach gefragt."
„Herr Schmidtmann, Sie erstaunen mich immer mehr", mischte sich Plattenberg wieder ein, trat vom Fenster weg und baute sich direkt vor dem Anwalt auf. „Ich fürchte, Sie werden schon sehr bald Ihren Laden hier dichtmachen müssen. Und das nicht, weil Sie keinen Nachfolger mehr haben werden, da Ihr Sohn zu blöd ist und ohne Abschluss von der Universität fliegt, sondern weil Sie, und möglicherweise auch ein Teil Ihrer Belegschaft, vorher schon in den Knast wandern."
Der Kommissar schlenderte zur Tür, vorbei an Monika Koch, deren vernichtender Schlangenblick ihm folgte, und öffnete diese.
„Sie da, kommen Sie her!", rief er einen weiteren uniformierten Beamten herbei. „Schaffen Sie den Mann hier aufs Präsidium."
„Wie bitte?" Völlig entgeistert sprang Schmidtmann auf.
„Wir nehmen Sie jetzt vorläufig fest, Herr Schmidtmann." Der Doktortitel hatte sich inzwischen endgültig aus der Anrede verabschiedet.
„Und mit welcher Begründung?"
„Wegen des Verdachts der Beihilfe zum Mord an Daniel Hubner", erklärte Plattenberg seelenruhig.
Der herbeigeholte Kollege lief zu dem Anwalt hinüber und holte seine Handschellen heraus. „Die Hände auf den Rücken, bitte."
„Sie sind doch nicht mehr bei Trost! Sie haben keinen einzigen Beweis gegen mich!", zeterte Schmidtmann weiter, doch das brachte nicht mehr viel.
Die Handschellen schnappten zu und der Beamte schob ihn sanft aber bestimmt Richtung Tür, während die Koch das Ganze Schauspiel entsetzt beobachtete.
„Glauben Sie ja nicht, dass Sie damit durchkommen, Plattenberg! Ich werde gegen Sie vorgehen!", drohte der Anwalt weiter. „Ihre Personalakte besteht sowieso schon zum größten Teil aus Dienstaufsichtsbeschwerden, da werden Sie diesmal nicht mehr so einfach davonkommen!"
„Oh, Sie haben sich ja über mich schlau gemacht", stellte Plattenberg mit süffisantem Lächeln fest. „Welch eine Ehre! Aber auf eine Dienstaufsichtsbeschwerde mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an. Das einzige, was man damit machen kann ist, sie als Toilettenpapier zu benutzen."
Darauf hatte Schmidtmann nichts mehr zu erwidern. Nachdem er weggeführt wurde, wandte Plattenberg sich an die Koch:
„Sie können vorerst gehen, aber halten Sie sich zu unserer Verfügung."
Die Frau warf ihm einen letzten, grimmigen Blick zu und verschwand.
„Der Staatsanwalt wird Schmidtmann direkt wieder laufenlassen", meinte Jessica bedauernd. Schließlich hatten sie eigentlich wirklich keine ausreichenden Beweise für eine Verhaftung. Das käme bei keinem Haftrichter durch.
„Soll er doch. Aber zuerst wird er uns einen Beschluss für die Durchsuchung der Wohnung von diesem Martin Rohrbach ausstellen. Und Sie leiten eine Fahndung nach dem Herren ein und schicken schon einmal eine Streife hin. Vielleicht hat unser allerliebster Rechtsanwalt uns angelogen und der sitzt ganz gemütlich bei sich zuhause."
Kaum hatte Jessica ihr Handy hervorgekramt, begann es in ihrer Hand zu klingeln. Auf dem Display wurde die Nummer des kriminaltechnischen Labors angezeigt.
„Ja?"
„Hofkamp hier. Wir haben noch etwas Interessantes in Hubners Krempel gefunden."
„Moment, ich stelle auf Laut."
„Och, nö! Ich habe keinen Bock auf das Arschloch!"
Leider hatte Jessica die Lautsprechertaste bereits gedrückt, sodass besagtes Arschloch den letzten Satz laut und deutlich mitbekommen hatte.
„Herr Hofkamp, wie nett! Das beruht natürlich wie immer auf Gegenseitigkeit."
„Was haben Sie für uns?", beeilte Jessica sich zu sagen, bevor die beiden sich wieder in die Haare kriegen konnten. Für diesen Kindergarten hatten sie gerade nun wirklich keine Zeit.
„In dem Gehäuse eines Gameboys, den wir in Hubners Jugendzimmer im Haus seiner Eltern gefunden haben, war ein kleiner Schlüssel versteckt. Sieht aus, wie von einem Schließfach, oder so. Aber nicht von einem Bankschließfach, und die vom Bahnhof haben auch andere Schlüssel. Bisher konnten wir nicht feststellen, wozu der Schlüssel passen könnte. Vielleicht fällt Ihnen ja was ein. Ich schicke Ihnen ein Foto, das Original können Sie sich ja irgendwann selbst ansehen. Jetzt habe ich erstmal anderes zu tun. Also Tschüss."
Und schon hatte der Kriminaltechniker aufgelegt.
„Unser Daniel war ja ein ziemlich schlauer Bursche", meinte Plattenberg. „Wer sucht schon in einem Gameboy nach einem Schlüssel, nicht wahr? Außer den KT-Leuten, natürlich."
„Muss aber der Schlüssel zu etwas Wichtigem sein, wenn er ihn so umständlich versteckt hat."
„Vielleicht zu dem Aufbewahrungsort der verschwundenen Akten?"
„Scheiße, dann hat dieser Rohrbach Daniel vielleicht umgebracht, um an den Schlüssel zu kommen!", spekulierte Jessica.
„Rohrbach ist, wenn man Schmidtmann Glauben schenkt, jedoch bereits verschwunden, bevor Daniel getötet wurde", gab Plattenberg zu bedenken.
„Mist! Es passt mal wieder nichts zusammen!"
Draußen hörte man irgendeinen Krach und anschließendes Geschimpfe von der Kobra. Scheinbar hatten die Kollegen irgendeine teure Vase oder etwas Ähnliches zerdeppert. Umso besser.
Jessica rief die Dienststelle an, um die Fahndung nach Rohrbach einzuleiten, während ihr Kollege bei der Staatsanwaltschaft den Durchsuchungsbeschluss für dessen Wohnung beantragte.
Als sie wieder auflegte, kam ihr eine weitere Theorie:
„Oder Luisa hat Rohrbach und Daniel umgebracht, um an den Schlüssel und die Akten zu kommen. Oder sie und Rohrbach stecken unter einer Decke."
„Diese ganzen Spekulationen bringen herzlich wenig, solange wir nichts genaueres wissen."
In dem Moment machte sich Jessicas Handy erneut mit einer Benachrichtigung bemerkbar. Hofkamp hatte endlich das Bild geschickt. Es zeigte tatsächlich einen kleinen Schlüssel an einem schwarzen Stoffband.
„Sieht ein bisschen so aus wie die Schlüssel für die Schließfächer im Schwimmbad", sagte Plattenberg nach einem Blick darauf.
„Die kenne ich nur mit rotem Bändchen, damit man die im Wasser besser sieht, falls sie abgehen", widersprach Jessica.
Doch dann stutzte sie.
„Ich habe sowas schonmal gesehen!" Angestrengt überlegte sie, woher sie den Schlüssel kannte. Nach wenigen Augenblicken kam ihr die Erleuchtung: „Die Schließfächer in der Unibib!"
„Sie haben die Unibibliothek von innen gesehen? Kaum zu glauben."
„Jetzt lassen Sie doch diesen Scheiß!", schimpfte sie verärgert. „Während meines BWL-Studiums bin ich schließlich dort gewesen. Man kann sich so ein Dauerschließfach sogar für längere Zeit mieten. Und Jurastudenten leben quasi in der Bibliothek."
„Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Dann sollten wir uns den Schlüssel wohl holen und ihn danach direkt in der Bibliothek ausprobieren, oder? Ein bisschen Bildung schadet Ihnen sicher nicht."
„Arschloch", flüsterte Jessica fast lautlos, während sie ihm nach draußen folgte.
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