11.

Jessica döste friedlich vor sich hin, den Kopf auf die Hand und den Arm auf den Tisch gestützt, als plötzlich irgendetwas haarscharf an ihr vorbeiflog und klatschend auf ihrem Tisch landete. Erschrocken zuckte sie zusammen, die Hand rutschte ihr unter dem Kinn weg und fast wäre sie mit dem Kopf auf die Tischplatte geknallt.

„Zeit zum Aufstehen!", verkündete Plattenberg, blieb direkt neben ihrem Schreibtisch stehen und schaute von oben auf sie herab.

„Sind Sie jetzt vollkommen durchgeknallt?", fuhr Jessica ihn gereizt an und rieb sich müde die Augen.

Die Unmengen an Kaffee bewirkten irgendwann scheinbar genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich bewirken sollten und dieser verzwickte Mordfall raubte ihr den letzten Nerv ‒ und den Schlaf.

„Irgendwie musste ich Sie ja aufwecken. Oder wollten Sie lieber wach geküsst werden?"

Das unverschämte Grinsen in seiner Visage bettelte förmlich darum, mal so richtig eine reingehauen zu bekommen.

Bevor sie sich jedoch aufregen konnte, sprach er weiter:

„Ich hätte Ihren Schönheitsschlaf ja ungern unterbrochen, allerdings dachte ich, es könnte Sie interessieren, dass die DNA-Analyse fertig ist."

Er tippte mit dem Finger auf den dünnen, braunen Papierordner, der soeben die beeindruckende Bruchlandung auf ihrem Schreibtisch hingelegt hatte.

Sofort war Jessicas Aufmerksamkeit wieder auf den Fall gelenkt.

„So schnell?"

„Unsere Freunde im Labor können ziemlich schnell sein, wenn sie wollen."

„Wohl eher, wenn Sie wollen."

„Wenn ich will, wollen die auch."

„Und, welche der beiden ist es?", fragte sie gespannt.

„Keine."

Hä?"

Wie konnte das sein? Sie war überzeugt davon gewesen, dass die Spuren am Tatort zumindest von einer von Daniels Freundinnen stammen mussten.

„Also wissen wir immer noch nicht, von wem die Haare sind", stellte sie enttäuscht fest.

„Na ja, nicht ganz. Die Analyse hat durchaus etwas Interessantes ergeben."

Plattenberg schlug den Laborbericht auf und blätterte ein paar Seiten um, bis er fand, wonach er suchte.

„Die mit Textmarker markierte Stelle."

Jessica musste den grün markierten Absatz zweimal lesen, weil sie es beim ersten Mal nicht glauben konnte.

„Eine 25-prozentige Übereinstimmung der DNA mit Florentine Frost? Ist die Frau, von der die Haare stammen, etwa eine Verwandte von ihr?"

„Das Erbgut der beiden scheint zu 25 Prozent identisch zu sein, sieht also ganz danach aus."

Dieses Ergebnis brachte wieder einmal eine unerwartete Wendung mit sich, die nur noch mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete.

„Und in welchem Verwandtschaftsgrad stehen sie zueinander? Das steht da gar nicht."

Suchend blätterte Jessica weiter in dem Bericht, fand die gewünschte Information jedoch nicht.

„Nun, wie man mir im Labor freundlicherweise erklärte, ist das so einfach nicht feststellbar. Dafür müssen weitere, komplexere Testverfahren angewandt werden. Allerdings konnte ich aus der kleinen Nachhilfestunde in Genetik folgendes mitnehmen: Ein Verwandtschaftskoeffizient von 0,25 besteht in der Regel zwischen Großeltern und Enkeln, Tante, beziehungsweise Onkel, und Neffen oder Nichten oder auch bei Halbgeschwistern", erklärte Plattenberg. Irgendetwas auf Jessicas Schreibtisch schien ihn zu irritieren. Er griff nach einer Packung mit kreuz und quer reingesteckten Finelinern und begann, diese nach Farbe zu ordnen.

„Großmutter und Enkelin können wir wohl ausschließen. Laut Laborbericht muss die Frau zwischen 25 und 35 Jahren alt sein. Und eine Enkelin kann Florentine sowieso nicht haben", meinte Jessica.

„Davon ist stark auszugehen."

„Und eine Nichte dürfte sie ebenfalls nicht haben, da sie nur einen sechzehnjährigen Bruder hat. Wenn der schon ein Kind hätte, wäre es eindeutig zu jung", überlegte sie weiter.

„Auch das ist durchaus logisch."

Irgendwie hatte sie den Eindruck, dass seine Zwischenbemerkungen einen leicht spöttischen Unterton hatten. Wie immer, eigentlich.

Trotzdem dachte sie weiter laut nach:

„Und Florentines Tanten sind alle, soweit ich mich an die Infos von den Saarländer Behörden erinnere, deutlich älter als 35. Bleibt also eigentlich nur die Halbschwester."

„Bravo! Ich gratuliere zu dieser lückenlosen Argumentationskette."

Vorsichtig legte Plattenberg die Packung mit den nun farblich sortierten Stiften zurück auf den Tisch. „Bedauerlicherweise hat Florentine Frost offiziell jedoch keine Halbschwester. Es muss sich also um ein behördlich nicht erfasstes, uneheliches Kind ihres Vaters oder ihrer Mutter handeln. Letzteres wäre eher ungewöhnlich und deshalb weniger wahrscheinlich."

„Na toll, wenn es ein Produkt eines One-Night-Stands von Florentines Vater ist und der selber nichts von ihr weiß, können wir ewig nach ihr suchen", bemerkte Jessica frustriert.

Doch dann fiel ihr plötzlich etwas ein.

„Moment..."

Hektisch begann sie, in dem Chaos auf ihrem Tisch herumzuwühlen.

„Um hier etwas zu finden, muss man wahrscheinlich ein Ausgrabungsteam vom archäologischen Institut der WWU beauftragen", kommentierte Plattenberg, wobei er natürlich keine Anstalten machte, ihr seine Hilfe anzubieten.

„Bald können Sie mit Ihren unlustigen Witzen Mario Barth schon Konkurrenz machen", versetzte Jessica, ohne ihr Tun zu unterbrechen.

„Ich bin da außer jeglicher Konkurrenz."

Die Bescheidenheit in Person.

„Dürfte ich erfahren, wonach Sie suchen?"

„Nach den Infos über Florentines Familie, die ich am Anfang unserer Ermittlungen herausgefunden habe. Ich glaube mich erinnern zu können, dass ihr Vater schon einmal verheiratet gewesen ist, bevor er ihre Mutter heiratete..."

„Dann könnte aus dieser Ehe auch ein gemeinsames Kind hervorgegangen sein, ohne dass Herr Frost, warum auch immer, als Vater erfasst ist."

„Andererseits, wer ist denn so blöd, freiwillig auf Unterhaltszahlungen zu verzichten?"

Vor lauter Hektik stieß Jessica aus Versehen einen ganzen Papierstapel zu Boden. Seufzend beugte sie sich herunter, um ihn wieder einzusammeln, denn ihr feiner Kollege ignorierte den Papierberg gekonnt, obwohl dieser direkt vor seinen Füßen lag.

„Vielleicht wollte die Frau nichts mehr mit Herrn Frost zu tun haben. Oder sie hat wieder geheiratet und den neuen Mann als Vater eintragen lassen", vermutete er und sah ihr weiter unberührt mit vor der Brust verschränkten Armen zu.

„Hier ist es!", rief Jessica triumphierend, hob die betreffenden Papiere vom Boden auf und ließ alles andere einfach liegen. „Heike Frost, geborene Brackmann. Sie war erst siebzehn, als sie geheiratet haben und Frost nur ein Jahr älter."

„Wahrscheinlich ist es da unten gar nicht so unüblich, so jung zu heiraten. Vorzüglich seine Cousine oder seinen Cousin, damit alles schön in der Familie bleibt", ätzte Plattenberg verächtlich.

Genervt verdrehte Jessica die Augen. „Sie und Ihre Vorurteile! Na ja, jedenfalls wurde die Ehe nach nur einem halben Jahr wieder getrennt. Ob die Frau danach ein Kind bekommen hat, weiß man nicht. Das habe ich natürlich nicht recherchiert, da wusste ich ja nicht, dass das wichtig sein würde."

„Dann sollten Sie das wohl schleunigst nachholen und bei den Kollegen in Saarbrücken anrufen. Die müssten schnell an die gewünschten Infos kommen."

Schon wieder ich. Vielleicht war es aber auch besser, wenn sie mit den Kollegen sprach, damit er bloß nicht auf die Idee kam, denen gegenüber zu erwähnen, dass er alle Bewohner des Saarlandes für inzestuöse Hinterwäldler hielt.

Zehn Minuten später legte Jessica den Hörer wieder hin.

„Sie melden sich, sobald sie die Infos haben."

Natürlich war man in Saarbrücken nicht sehr erfreut darüber gewesen, am frühen Sonntagabend noch eine Anfrage aus NRW zu kriegen, aber sie konnten schließlich nicht bis Montag warten. Bei Mordermittlungen gab es eben kein Wochenende und keine Feiertage, dafür aber haufenweise Überstunden und uneingeplante Nachtschichten.

Und sie mussten Florentines geheimnisvolle Halbschwester so schnell wie möglich finden, schließlich war sie allem Anschein nach am Tatort gewesen...

„Aber was hatte diese Frau bei Daniel Hubner zu suchen?", stellte Jessica die alles entscheidende Frage in den Raum.

„So ist die Frage nicht ganz richtig formuliert."

Plattenberg schob einen Papierstapel beiseite, wodurch auf der anderen Seite des Tisches irgendetwas auf den Boden rutschte, und pflanzte seinen Hintern einfach dreist auf Jessicas Tisch.

„Die eigentliche Frage ist doch: Was hatte Sie kurz vor, während oder kurz nach Hubners Tod in dessen Wohnung zu suchen? Und gleichzeitig ist er offenbar auch noch ein Freund und/oder Liebhaber ihrer Halbschwester. Kann das Zufall sein? Ich denke, nicht."

„Also müssten sich Daniel und Florentines Schwester gekannt haben", schlussfolgerte Jessica. „Sie war in seiner Wohnung. Einbruchspuren gibt es nicht, also hat er sie wahrscheinlich hereingelassen."

Das frisch gespülte Glas, das sie zusammen mit der Tatwaffe in der Küchenspüle gefunden hatten, fiel ihr wieder ein. Hatte Florentines Schwester daraus getrunken, bevor sie Daniel den Schädel eingeschlagen hatte? Oder waren ihre Haare auf andere Weise auf seine Kleidung gelangt? Fragen über Fragen, aber keine Antworten...

„Auch Florentine muss ihre Schwester kennen. Es wäre doch auch ein zu großer Zufall, dass sie sich gleichzeitig in der selben Stadt aufhalten und Kontakt zu ein und dem selben Mann haben", überlegte sie weiter. „Sie könnte uns vermutlich sagen, wer ihre Schwester ist und wo sie steckt..."

Könnte, Konjunktiv. Denken Sie wirklich, Florentine würde ihre Schwester verpfeifen? Besonders dann, wenn sie womöglich beide etwas mit Hubners Tod zu tun haben?"

Eine neue, mögliche Täterkonstellation also: Florentine und ihre verschollene Halbschwester. Doch was war ihr Motiv?

„Von Florentine gibt es keine Spuren am Tatort", gab Jessica zu bedenken.

„Wie wir wissen, wurde der Tatort nach der Tat gesäubert. Mehr schlecht als recht zwar, aber immerhin. Die Haare an Hubners Kleidung wurden dabei vielleicht einfach nur übersehen. Und erinnern Sie sich an das merkwürdige Verhalten von Florentine und Dennis Schmidtmann und das fadenscheinige Alibi, das sie einander gaben? Wir gingen zunächst davon aus, dass Florentine ihren Freund schützen will, aber was ist, wenn es genau umgekehrt ist?"

Abermals hatten sie eine neue Theorie, die jedoch, wie die vorherigen auch, mehr aus Logiklücken, als aus Beweisen bestand. Immer mehr neue Informationsbruchstücke tauchten auf, die aber absolut nicht zusammenpassen wollten. Warum war Florentines Halbschwester in Daniels Wohnung gewesen? Warum gaben Florentine und Dennis sich gegenseitig ein Alibi? Warum hatte Jörg Schmidtmann Daniels Praktikum in seiner Kanzlei verheimlicht? Warum schienen ausnahmslos alle Beteiligten zu lügen oder zumindest mit irgendetwas hinterm Berg zu halten? Zum Beispiel die Freundin/Exfreundin des Toten und seine Schwester. Jessica hatte es förmlich riechen können, dass die beiden etwas verheimlichten, als sie am Vortag die Speichelprobe von Katharina Weißner genommen hatte. Was hatten sie überhaupt miteinander zu schaffen? Bis auf den Bruder, beziehungsweise Freund, schienen die beiden auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten zu haben. Außer der, die sie offensichtlich versuchten, vor der Polizei geheimzuhalten. Wie hing das alles zusammen? Gab es überhaupt einen Zusammenhang? Es fühlte sich an, als würden sie versuchen, ein kleinteiliges XXL-Puzzle zusammenzufügen, von dem mindestens die Hälfte der Puzzleteile fehlten.

Das Aufpoppen einer Benachrichtigung auf ihrem Computerbildschirm riss Jessica aus ihren Gedanken.

„Die Antwort aus Saarbrücken ist da!"

Aufgeregt öffnete sie die Email.

„Heike Frost hat 1979 eine Tochter bekommen, Luisa, die rein rechnerisch noch von ihrem ersten Ehemann sein könnte. Bald darauf hat sie einen Mann namens Heinz Steinfeld geheiratet, der die Tochter auch adoptiert hat und sie sind alle zusammen nach Saarlouis gezogen. Luisa Steinfeld hat 2002 ihren Hauptwohnsitz umgemeldet und die Adresse ihrer Eltern als Nebenwohnsitz behalten. Und jetzt raten Sie mal, wo sie hingezogen ist."

„In unsere wunderhübsche Domstadt?", fragte Plattenberg, obwohl die Antwort auf der Hand lag.

„So ist es. Die Adresse, wo sie ein paar Jahre gemeldet war, ist ein Studentenwohnheim, wenn ich mich nicht irre. Also hat sie wahrscheinlich auch hier in Münster studiert. Dann ist sie nach Gievenbeck gezogen und hat sich bis heute weder um- noch aus der Stadt abgemeldet."

Jessica blickte von ihrem Bildschirm auf. „Also wohnt sie immer noch hier in Münster!"

„Wundert Sie das? Mich würde eher wundern, wenn es anders wäre. Schließlich hat Luisa Steinfeld sich noch vor wenigen Tagen in Hubners Wohnung aufgehalten."

Prüfend strich Plattenberg kurz mit dem Finger über die perfekte Bügelfalte in seiner Anzughose, dann klatschte er sich die Hände auf die Oberschenkel und stand schwungvoll auf.

„Sieht so aus, als könnte sich Luisa Steinfeld heute noch über abendlichen Sonntagsbesuch freuen", meinte er, während er sich auf dem Weg zu seinem Schreibtisch im Vorbeigehen seinen schicken, dunkelgrauen Mantel vom Kleiderhaken schnappte und ihn überstreifte.

Am Ziel angekommen, nahm er seine Pistole aus der Schublade und steckte sie in das Waffenholster an seinem Gürtel. Die Handschellen wanderten in seine Manteltasche.

„Sollten wir uns vorher nicht einen Haftbefehl besorgen?", fragte Jessica und steckte ihrerseits Waffe und Handschellen ein.

„Wir unterhalten uns erst einmal ganz nett mit der Dame. Vielleicht hat sie ja eine gute Erklärung dafür, was sie in Hubners Wohnung verloren hatte. Außer ihren Haaren, natürlich."

Unheimlich lustig!

„Und wenn sie uns das nicht erklären kann?"

„Dann nehmen wir sie eben mit!"


In weniger als fünfzehn Minuten kamen sie bei dem Mietshaus, in dem Luisa Steinfeld gemeldet war, an. Das große, vierstöckige Gebäude mit mehreren Hauseingängen sah relativ neu aus und war in einem dunklen Rotton gestrichen. Zu jeder Wohnung schien ein großer Balkon zu gehören. Nicht schlecht. Dementsprechend waren bestimmt auch die Mieten hier nicht allzu niedrig, auch wenn Gievenbeck nicht mehr zum Stadtbezirk Mitte gehörte.

Fröstelnd versuchte Jessica im fahlen Licht der Straßenlaterne die richtige Türklingel auszumachen. Mittlerweile war es stockfinster und eisig kalt geworden.

Als auch nach dem zweiten Klingeln niemand die Tür öffnete, drückte Plattenberg seine Hand einfach auf mehrere Knöpfe gleichzeitig, sodass die Tür schließlich von irgendjemandem geöffnet wurde.

„Was soll der Scheiß?", motzte ein Typ sie an, der in der Tür einer Erdgeschosswohnung stand, doch der Anblick ihrer Dienstausweise brachte ihn augenblicklich zum Schweigen.

Im zweiten Stock fanden sie Luisas Wohnungstür. Plattenberg klopfte kräftig dagegen.

„Polizei! Machen Sie die Tür auf!"

Doch es rührte sich nichts. Aus der gegenüberliegenden Wohnung hörte man in ohrenbetäubender Lautstärke den Ton einer schnulzigen Vorabendserie.

„Scheiße", entfuhr es Jessica. „Wir müssen eine Fahndung nach ihr einleiten."

„Warten Sie kurz."

Der Hauptkommissar griff in seine Manteltasche, zog ein kleines, schwarzes Etui heraus und öffnete es. Darin befand sich ein ganzes Set unterschiedlich großer Dietriche, die perfekte Einbrecherausstattung.

„Sie wollen doch jetzt nicht das Schloss knacken?", wisperte Jessica fassungslos und musste an den wütenden Kriminalrat denken.

„Immer noch besser, als die Tür einzutreten. Oder wollen Sie das übernehmen?"

Dass Plattenberg nicht der Typ war, um in Dirty Harry-Manier Türen einzutreten, war klar. Wie denn auch, mit italienischen, 500-Euro-Markenschuhen an den Füßen?

Er überlegte kurz, zog dann einen der Dietriche aus dem Etui und packte es dann wieder weg. Dann steckte er es ins Türschloss und begann, darin herumzufummeln.

„Wir dürfen da nicht einfach so reingehen!", versuchte Jessica es noch einmal.

„Und wie wir dürfen, es herrscht Gefahr in Verzug", war seine knappe Antwort.

In dem Moment flog die gegenüberliegende Tür auf und eine ältere Frau schlurfte heraus. Ihre dicken, runden Brillengläser ließen ihre Augen unnatürlich groß und dadurch ein bisschen eulenhaft wirken. Misstrauisch blinzelnd beäugte sie sie damit.

„Was tun Sie denn da, junger Mann? Wenn Sie nicht sofort aufhören, rufe ich die Polizei!"

„Nicht nötig", meinte Jessica und hielt ihr ihren Ausweis unter die Nase. „Die ist schon da."

„Gehen Sie zurück in Ihre Wohnung, oder wir nehmen Sie wegen Störung einer Amtshandlung fest", setzte Plattenberg noch einen drauf, ohne sich vom Türschloss abzuwenden. Ein leises Knacken ertönte und wie durch Zauberhand ließ sich die Tür nun öffnen.

Beleidigt grummelnd, zog sich die Nachbarin in ihre Wohnung zurück, während die beiden Kommissare die von Luisa Steinfeld betraten.

„Frau Steinfeld?", fragte Plattenberg in die Dunkelheit hinein und knipste das Licht an.

Niemand antwortete. Die Wohnung schien verlassen zu sein. Trotzdem kontrollierten sie jeden Raum, die Waffen einsatzbereit in den Händen haltend. Wie erwartet, waren beide Zimmer sowie Bad und Küche menschenleer.

„Mist, die ist wohl abgehauen", stellte Jessica fest und sah sich in Luisas Schlafzimmer um.

Das Bett war ordentlich gemacht, über dem Schreibtischstuhl hing ein schicker, dunkelblauer Blazer. Nichts deutete darauf hin, dass die Bewohnerin die Wohnung Hals über Kopf verlassen hatte und trotzdem wirkte sie auf Jessica so, als hätte sich seit mehreren Tagen niemand mehr darin aufgehalten. So war ihr vorhin aufgefallen, dass die Zahnbürste im Badezimmer vollkommen trocken gewesen ist, als hätte sie in letzter Zeit niemand benutzt. Ebenso die Handtücher und der hellblaue Bademantel.

„Dann hat sie aber nicht viel mitgenommen, denn ihr Kleiderschrank ist voller Kleidung und ihr Reisekoffer liegt immer noch drin", entgegnete Plattenberg, der die Schranktür geöffnet hatte und hineinblickte.

Jessica trat neben ihn. Tatsächlich war der Schrank bis zum Bersten voller Klamotten. Einen großen Teil davon machten modische, aber konservative Blusen, Röcke, Hosenanzüge und Blazer aus. Die Kleidung einer Frau, die einen strengen Dresscode einzuhalten hatte.

Über dem Bett hingen einige Fotos. Manche davon zeigten eine junge Frau, die Florentine erstaunlich ähnlich sah. Sie hatte die gleichen, leicht gewellten, blonden Haare und strahlend blauen Augen. Nur schien ihr Gesicht etwas rundlicher zu sein und sie wirkte allgemein etwas üppiger gebaut als ihre Halbschwester, wobei sie alles andere als dick war. Auf einigen Fotos war sie zusammen mit anderen Frauen im selben Alter, vermutlich ihren Freundinnen, zu sehen, auf anderen auch mit einem jungen Mann, der aber nicht Daniel Hubner und Jessica völlig unbekannt war. Ein Foto zeigte sie zusammen mit Florentine, eindeutig irgendwo am Ufer des Aasees. Im direkten Vergleich fiel die Ähnlichkeit der Schwestern noch deutlicher auf.

Im Bücherregal entdeckten sie neben verschiedenen Romanen und zahlreichen Pferdesachbüchern auch einige Gesetzesbücher und Lehrbücher für Rechtswissenschaften.

„Möglicherweise ist das die Verbindung zu unserem Mordopfer", murmelte Plattenberg nachdenklich. „Sie haben wohl recht, wir müssen nach ihr fahnden lassen." Er griff in seine Manteltasche und zog sein Handy heraus, um die Dienststelle anzurufen.

Während er telefonierte, schaute Jessica sich weiter in Luisas Schlafzimmer um. Sie trat an den Schreibtisch, auf dem sich Schminkzeug, Stifte und weiterer Krimskrams wie Kleingeld, Notizzettel und ähnliches befanden.

Auf den ersten Blick war nichts Verdächtiges zu sehen und es deutete auch nichts darauf hin, dass Luisa Daniel gekannt oder irgendetwas mit seinem Tod zu tun hatte. Bis auf ihre Haare an der Kleidung, die er zum Zeitpunkt seines Todes getragen hatte, natürlich.

Auf gut Glück öffnete Jessica die einzige Schublade des Schreibtisches. An oberster Stelle lag ein umgedrehtes Blatt Papier. Sie nahm es heraus und drehte es um. Offensichtlich handelte es sich um die Kopie eines getippten Schreibens. Als Betreff stand ‚Fristlose Kündigung' drauf. Jessica atmete scharf ein, als sie den Adressaten sah.

„Haben Sie etwas gefunden?"

Plattenberg, der mittlerweile das Telefonat beendet hatte, stellte sich neben sie und folgte ihrem Blick. Ein paar Augenblicke lang, starrten sie beide das Schriftstück in Jessicas Hand an, ehe sie fast gleichzeitig wieder hochsahen und einander vielsagend anschauten.

Nun schien sich doch noch ein weiteres Puzzleteil in das Gesamtbild zu fügen. Denn die fristlose Kündigung, die Luisa Steinfeld erst vor wenigen Tagen bei ihrem Arbeitgeber eingereicht hatte, war nicht an irgendeine Firma gerichtet, sondern an die ihnen bereits wohlbekannte Anwaltskanzlei Schmidtmann & Partner.


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