8 - Ein Café mit Glöckchen
Die halbe Nacht lang schaute ich immer wieder auf mein Handy, entsperrte es, aber der angezeigte Chatverlauf mit Shiva änderte sich nicht.
Sie hatte nicht geantwortet. Noch immer war meine Frage nach einem Treffen das letzte was dort stand.
Die Stunden zogen ins Land, die Nacht schritt voran und ich konnte einfach nicht schlafen. Zerbrach mir den Kopf darüber, ob ich nicht doch einen Fehler gemacht hatte. Offensichtlich wollte sie mich nicht treffen, sonst hätte sie geantwortet, oder? Oder sie hielt mich für einen Mörder oder einen Perversen und antwortete deshalb nicht mal mehr. Ein einfaches Nein hätte ja gereicht.
Todmüde stand ich viel zu spät auf und kam sogar noch nach Syl in der Schule an. Für ihn war diese Überraschung von allen Anwesenden wohl am größten.
„Vergiss sie", sagte er in der Pause zu mir. „Sie ist ein Idiot."
Ich zuckte die Schultern. Heute saß ich auf der Tischtennisplatte, die sonst immer Syls Hintern tragen musste.
„Vielleicht bin ich auch der Idiot", erwiderte ich. „Es war einfach zu früh."
„Unsinn", widersprach Syl. „Sie hätte nein sagen können, aber so ist sie ein Idiot." Er nahm einen Schluck aus seiner Energydrink Dose.
Ich zuckte erneut die Schultern, denn meine Antwort würde nur dafür sorgen, dass das Gespräch sich im Kreis drehte. Syl konnte noch so aufmunternde Worte finden, im Moment würden sie nichts ändern.
Unauffällig holte ich mein Handy hervor, startete die xBox App und warf erneut einen Blick auf den Chat, in dem sich nichts getan hatte.
„Soll ich ihr vielleicht nochmal schreiben?", fragte ich. „Vielleicht hat sie nur ..."
„Vergessen zu antworten?", beendete Syl meinen Satz.
Ich sah ihn an, er zog skeptisch die Augenbrauen hoch.
„Plötzlich einen Schlaganfall bekommen?", fügte er an.
Jetzt war es an mir die Augenbrauen hochzuziehen.
„Laber keinen Scheiß."
„Wer hat denn angefangen?" Syl leerte seine Dose und warf sie dann neben den Mülleimer, der wenige Schritte entfernt stand.
„Das", sagte ich und grinste leicht, „hätte selbst meine Mutter geschafft."
„Ja ja", grummelte Syl, ging zum Mülleimer und hob die Dose auf, um sie mit Wucht hineinzupfeffern. „Halt die Klappe."
Am nächsten Nachmittag gingen wir schießen, aber auch das konnte mich nicht richtig aufheitern. Halbherzig und mit den Gedanken weit weg durchlöcherte ich eine Dose nach der anderen, während Syl zwei Drittel seiner Munition in den Sand setzte.
Er redete, ich hörte zu. Unterhalten taten wir uns nicht wirklich, aber das war meine Schuld und ich fühlte mich schlecht deswegen. Es war nicht fair Syl gegenüber, hier so miese Laune zu schieben, er konnte immerhin nichts dafür und sie war kein Teil meines Lebens. Sie war nicht mehr als ein paar Zahlen und Buchstaben in einer Spielkonsole.
Ich hatte mir nur gewünscht, dass sie zu meinem realen Alltag gehören würde.
Aber es sollte nicht sein, damit musste ich mich abfinden. Sie wollte es nicht, wahrscheinlich waren die Gespräche mit mir für sie nur Zeitvertreib gewesen. Wahrscheinlich schrieb sie mit hunderten Typen, die alle viel witziger und schlauer waren als ich. Viel besser beim Zocken. Besser aussehen taten sie wahrscheinlich auch, aber wenigstens konnte das nicht der Grund sein, aus dem sie mich ignorierte.
Syl hingegen war mein bester Freund und immer für mich da. Er hatte es nicht verdient, dass ich die ganze Zeit so abwesend war, während wir Zeit verbrachten. Wegen einer Frau, wer hätte das gedacht.
Die Schultage verstrichen, das Wochenende flog dahin und plötzlich war es wieder Montag. Ausgerechnet an diesem Abend, eine Woche nach meiner letzten Nachricht, meldete Shiva sich wieder.
hey
Mehr schrieb sie nicht. Keine Antwort auf meine Frage, keine Entschuldigung. Nichts. Nur ein „hey".
Eigentlich sollte ich ihr gar nicht antworten.
„Sie verdient dich nicht", hatte Syl mir immer wieder zugeredet und verdammt, er hatte Recht. Ich ließ sie nicht einfach mit mir umspringen, wie sie wollte.
hey, schrieb ich zurück.
wie gehts dir?
gut
freut mich
Dieser Chat war unfassbar seltsam und fühlte sich an wie die Momente, in denen man auf seine Verwandten traf, die man vielleicht einmal im Jahr sah. Im Grunde hatte man sich nichts zu erzählen und führte deshalb leeren Smalltalk.
Aber Shiva und ich hatten uns immer gut unterhalten.
Während ich noch überlegte, was ich schreiben könnte, um das Gespräch in Gang zu bringen, ging plötzlich ein ganzer Textblock von ihr ein.
tut mir verdammt leid dass ich einfach nicht geantwortet habe letzte woche. ich wusste ehrlich gesagt nicht was ich antworten soll das kam so überraschend. hätte nie damit gerechnet. aber falls du noch willst würde ich dich gerne treffen.
Beim Lesen der Zeilen stahl sich ein Grinsen auf meine Lippen. Die Last der vergangenen Tage fiel von meinem Herzen ab und Erleichterung ließ mich aufatmen.
Ich war ihr nicht egal, sie hatte nicht nur mit mir gespielt.
Sie war nur überfordert, mehr nicht. So überfordert, wie ich an ihrer Stelle wahrscheinlich auch gewesen wäre.
würde ich gerne :), schrieb ich und lehnte mich lächelnd in meinem Sessel zurück.
wo wohnst du überhaupt?, fragte sie und erst da wurde mir bewusst, dass wir auch am komplett anderen Ende von Deutschland wohnen konnten. Dann wäre der ganze Stress ohnehin sinnlos gewesen.
Wir stellten fest, dass uns glücklicherweise nur zwei Stunden Zugfahrt voneinander trennten. Wenn jeder eine Stunde auf sich nahm, könnten wir uns irgendwo in der Mitte treffen, in einem Café vielleicht. Irgendeinem Ort, an dem sich eben keiner von uns so leicht als Mörder entpuppen konnte und wenn doch zumindest Probleme haben würde, seinen Plan durchzuziehen.
Meine Eltern weihte ich nicht in ein, die hätten ohnehin was einzuwenden. Aber Syl erzählte ich alles. Wo und wann wir uns treffen wollten und ich versprach ihm, dass ich ihm eine Nachricht schicken würde, wenn ich da und sie aufgetaucht war.
„Wenn ich nichts von dir höre", sagte Syl, der auf seinem Schreibtischstuhl saß und eines der Luftgewehre in der Hand hielt. Jetzt tat er, als würde er es nachladen, machte dazu die entsprechenden Geräusche und schaute dann mit bösem Blick nickend zu mir rüber.
Ich grinste.
„Keine Sorge, du wirst mich nicht retten kommen müssen. Ich heiße ja nicht Prinzessin Peach."
„Will ich mal hoffen, Mann, aber sonst sei dir sicher, ich werde ich mich wie Mario auf den Weg machen und keine Mühen scheuen, um dich wieder in meinen starken Armen halten zu können!", verkündete Syl und warf mir einen Kuss zu.
„Mein heldenhafter Klempner", lachte ich und Syl nickte bedeutungsschwer.
Zwei Wochen später war es soweit. Shiva und ich hatten uns für Samstagmittag in einem Café in Bahnhofsnähe verabredet und ich stand um halb elf zusammen mit Syl bei uns auf dem Bahnsteig.
Nervös wischte ich meine schwitzigen Hände an meiner Hose ab.
„Wird schon", grinste Syl und klopfte mir auf die Schulter. „Hau sie einfach um."
Sein Selbstbewusstsein hätte ich gerne, er würde dieses Treffen bestimmt mit links meistern. Ich hingegen hatte nicht gefrühstückt, weil mir übel war.
Was, wenn es vollkommen schrecklich lief? Sie vielleicht gar nicht auftauchte oder mich auslachte, wenn sie mich sah? Wenn sie dann doch nichts mit mir zu tun haben wollte und einfach wieder ging?
Der kühle Herbstwind pfiff die ersten gefallenen Blätter an uns vorbei und ich zog den Reißverschluss meiner Jacke über das COD-Shirt, das ich zu Erkennungszwecken angezogen hatte. Die Stimme aus dem Lautsprecher kündete die Einfahrt meines Zuges an und ich schaute das Gleis hinab. Noch war nichts zu sehen.
„Vergiss nicht mir zu schreiben", erinnerte Syl mich.
Ich schluckte und lächelte ihn dann an. Er war wirklich der Beste.
Rauschend fuhr der Zug vor und kam zum Stehen. Syl zog mich in eine kurze Umarmung, dann klopfte er mir erneut auf die Schulter.
„Danke, Mann, bis später", sagte ich leise und konnte das leichte Zittern in meiner Stimme nicht unterdrücken. Ich war wirklich froh, nichts gefrühstückt zu haben, das mir jetzt schwer im Magen liegen könnte.
Ich stieg ein, lief den Gang hinab und suchte mir einen Platz am Fenster. Der Zug setzte sich in Bewegung und Syl winkte mir noch, bis der Zug den Bahnhof verlassen hatte. Ich konnte noch beobachten, wie er seine Hände in die Hosentaschen steckte und sich zur Treppe umwandte, dann schoben sich die Mauern des Gebäudes ins Bild, da die Gleise eine leichte Kurve beschrieben.
Tief durchatmen.
Nochmal die Hände abwischen.
Ich holte meine Kopfhörer aus meiner Hosentasche und stöpselte sie in mein Handy. Eine Stunde noch, dann würde ich endlich MissMolotov kennenlernen.
Ich fand das Café nach kurzer Suche mithilfe eines Online Kartendienstes. Vorsichtig stieß ich die braune Holztür auf und ein kleines Glöckchen ertönte. Ein paar der Tische waren besetzt und ich suchte mir einen am Rand, von dem ich das Treiben im Auge behalten konnte. Auch ein guter Blick auf die Tür war mir von meinem Platz aus sicher, so würde ich auf keinen Fall verpassen, wenn Shiva auftauchte.
Ich hänge meine Jacke über die Stuhllehne und ließ mir von der Kellnerin ein Wasser bringen.
Es war zehn vor zwölf und ich ließ die Tür die nächsten zwanzig Minuten nicht aus den Augen.
Eine Frau im schwarzen Kostüm mit einem großen Hut trat ein, gefolgt von einem Mann im Trainingsanzug. Als nächstes kam eine Frau mit Einkaufstaschen, Kind und Hund herein, dann ein Junge in meinem Alter in weiten Klamotten mit ausrasierten Seiten. Ein Mädchen im roten Kleid, ein Mann im Anzug.
Sie verteilten sich auf die Tische, andere Gäste zahlten und verließen das Café wieder. Manche bestellten einen Kaffee, andere Saft und Kuchen.
Dem Hund wurde eine Schale Wasser vom Personal gebracht, dann trat wieder ein Mädchen in meinem Alter ein. Gespannt beobachtete ich, wie sie ihren Blick über das Interieur schweifen ließ. Kurz blieb er an mir hängen, dann schaute sie wieder weg und setzte sich alleine an einen Tisch.
Ich zog mein Handy hervor, warf einen Blick auf die Uhr und öffnete dann den Chat mit MissMolotov. Keine neue Nachricht war eingegangen, aber sofern sie unterwegs war, konnte sie mir ohnehin nicht schreiben.
Als ich wieder aufschaute, stand der Typ mit den ausrasierten Seiten an meinem Tisch. Er hatte eine Hand auf den freien Stuhl mir gegenüber gelegt.
„Hey", sagte er und lächelte verlegen. „Hey, Denny."
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