34 - Mein allerliebster Gegner

Als meine Mutter mich zum Essen ruft, gehe ich sofort runter. Mein Vater kommt kurz nach mir zum Tisch, nachdem er sich im Schlafzimmer etwas Bequemes angezogen hat.

„Na, wie war euer Tag?", fragt meine Mutter, während sie uns Nudelauflauf auftut.

Mein Vater erzählt und ich höre nicht zu. Kratze den Käse von den Nudeln und schiebe sie auseinander. Eine landet in meinem Mund, aber ich kaue ewig darauf herum. Mir ist irgendwie schlecht und die Portion auf meinem Teller gleich einem unüberwindbaren Berg.

„Schmeckt es dir nicht, Denny?", reißt meine Mutter mich aus der Regenwolke meiner Gedanken.

„Ich hab keinen Hunger", murmele ich, ohne den Blick von meinem Teller zu heben.

„Geht's dir nicht gut?", fragt sie, und die Frage nervt mich. Ja, ich weiß, dass ich zu viel esse. Kann auch jeder sehen. Natürlich denkt sie direkt, dass ich krank bin, wenn ich mal keinen Hunger habe.

„Nee!", gebe ich zurück, und mein Vater schaut mich warnend an. „Ich hab einfach keinen Hunger! Soll auch bei mir mal vorkommen!"

„Denny. Nicht in dem Ton!", gibt mein Vater zurück, denn natürlich versteht er gar nichts. Natürlich muss er mir nur zeigen, dass er und meine Mutter hier das Sagen haben und es nur darum geht, dass ich mich benehme, wie sie es wollen. Was mit mir ist und was ich möchte, ist im Endeffekt doch völlig egal.

„Ich geh raus", sage ich und schiebe meinen Stuhl zurück.

„Wo willst du denn hin?", möchte meine Mutter wieder alles kontrollieren, aber ich bin es leid.

„Raus halt!" Schnell in den Flur, in meine Schuhe schlüpfen, Jacke mitnehmen. Zur Tür raus, ihre Rufe ignorieren. Ich habe selbst keine Ahnung, wo ich hinsoll, Hauptsache erstmal weg.

Ich durchquere die Siedlung und laufe Richtung Wald. Kam mir der Weg sonst lang vor, erreiche ich heute den Waldrand, bevor ich richtig weiß, was ich dort will. Den Waldweg runter erreiche ich nach einer Weile die Stelle, an der Syl und ich immer mit den SoftAirs geschossen haben. Finde dort Spuren unserer vergangenen Zeit und irgendwie auch meine verlorene Kindheit. Nicht, dass ich erwachsen geworden bin oder mich so fühle. Aber wie ein Kind fühle ich mich eben auch nicht mehr.

Ich nehme bald mein Handy raus und öffne Shivans Chat. Überlege, ihn anzurufen – aber er ist es nicht, mit dem ich sprechen will. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass mit ihm reden irgendwas besser machen könnte. Syl ist es, mit dem ich sprechen möchte. Den ich so scheiße sehr vermisse. Und während mir Tränen aus Schmerz und Angst über die Wangen laufen, tippe ich eine Nachricht an ihn:

Hey syl. Ich weiß du möchtest nichts mehr von mir wissen und es tut mir leid dass cih dir trotzdem schreibe. Du hast recht, ich hab keine ahnung was bei dir los ist. Und ich hab keine ahnung wie hart das alles ist weil mir alles in den arsch geschoben wird und ich irgendwie immer glück habe. Aber ich würde so gerne irgendwie für dich da sein. Du bist doch mein bester freund. Es tut mir so leid. Ich vermisse dich.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, drücke ich mit meinem zitternden Daumen auf Senden und sperre mein Handy. Mein Gesicht vergrabe ich in den Armen und lasse meinen Tränen freien Lauf. Denke daran zurück, wie ich vor einiger gefühlten Ewigkeit hier mit Syl saß und Angst davor hatte, in Zukunft ohne ihn klarkommen zu müssen. Es ist noch schlimmer, als ich es mir ausgemalt habe.

Das intensive Vibrieren meines Handys lässt mich den Kopf heben. Ich wische mir über die Augen, um sicher zu sein, dass mir der Tränenschleier keinen Streich spielt. Aber ich lese immer noch denselben Namen auf meinem Handydisplay: Syl.

Schnell nehme ich den Anruf entgegen. Meine Nase ist verstopft, mein Hals zieht sich zu und mein Herz klopft vor Angst.

„Ja?"

„Heulst du?" Es ist Syls Stimme und er klingt überrascht.

Ich zögere. „Ja", gebe ich dann zu. „Aber das ist nicht wichtig jetzt." Ich habe so viel Angst, etwas Falsches zu sagen. Das hier fühlt sich an wie meine allerletzte Chance, wie ein Level, für das ich nur einen einzigen Versuch habe. Das für immer gesperrt wird, wenn ich versage, und mir die Möglichkeit verwehren wird zu entdecken, was auch immer als nächstes kommt.

Syl sagt nichts dazu, aber es ist ohnehin an mir zu reden.

„Es tut mir leid!", sage ich.

Wieder höre ich nur Schweigen am anderen Ende der Leitung. So leise wie möglich ziehe ich die Nase hoch, während die Leitung vor Spannung zu knistern scheint.

„Mir auch", sagt Syl schließlich.

Mir fällt ein Stein vom Herzen. „Muss es nicht. Du hattest jedes recht, sauer auf mich zu sein."

„Na ja", sagt er, und dann erstmal nichts mehr. Mit klopfendem Herzen denke ich darüber nach, was ich sagen könnte. Da ist verdammt viel Angst davor, dass ich es ruiniere. Dass ich genau das Falsche sage. Während ich mich gleichzeitig stresse, weil ich so lange schweige. Es ist nicht Syls Aufgabe, dieses Gespräch am laufen zu halten, und wenn ich nicht bald etwas sage, legt er bestimmt – verständlicherweise – wieder auf.

„Darf ich fragen, wie es dir geht?", bringe ich schließlich so leise hervor, dass ich mir kurz nicht sicher bin, ob er mich verstanden hat.

„Wenn du's wirklich wissen willst."

„Will ich!" Ich habe seit Tagen über kaum was anderes nachgedacht.

Syl schnaubt. „Scheiße."

Mein Herz tut weh und mir wird kalt, während gleichzeitig eine kleine, unfaire Freude sich in meinem Herzen breit macht. Er hat mich nicht vergessen und führt nicht ein viel besseres Leben ohne mich. Das sollte mich nicht freuen und ich fühle mich dank meines beschissenen Egoismus direkt wieder schuldig – aber das seichte gute Gefühl vergeht nicht.

„Möchtest ... Hast du Lust, dass wir uns treffen? Ich lad dich zum Essen ein." Bitte sag ja. Bitte sag ja.

„Okay. Ist eh alles besser, als hier sein."

Wo hier ist und warum es dort so scheiße ist, werde ich ihn fragen, wenn wir uns endlich wieder gegenüberstehen. Auch wenn ich ein bisschen Angst habe, dass er gar nicht auftaucht, als wir uns am Hauptbahnhof verabreden.

„Du kommst doch, oder?", frage ich daher leise, bevor wir auflegen.

„Klar", sagt Syl, aber mein Herz ist trotzdem schwer, während ich die Bushaltestelle ansteuere und zum Bahnhof fahre. Doch meine Sorge ist unbegründet. Ich muss ein wenig warten, eigentlich nur zehn Minuten, doch sie kommen mir wie eine Ewigkeit vor.

Ich schreibe mit Shivan, um die Zeit zu überbrücken und meine Nervosität unter Kontrolle zu halten. Er freut sich für mich und wünscht mir viel Spaß und Erfolg. Als ich ihn nach Ratschlägen frage, rät er mir, Syl nicht zu überfordern und ihm Raum zu geben. Ihm einfach ein guter Freund zu sein, egal ob er reden möchte oder nicht.

Dann steigt Syl aus einem Bus und kommt auf mich zu. Mit klopfendem Herzen laufe ich ihm entgegen. Er sieht nicht gut aus, nicht glücklich. Seine Haut ist blass, sein Blick irgendwie traurig. Er wirkt nicht so aufgeweckt – trotz Müdigkeit – wie sonst, sondern in sich gekehrt. Ich lächele sanft und dann ziehe ich ihn in meine Arme. Ich hab ihn so verdammt sehr vermisst. Und ich bin so unendlich froh, ihn wiederzusehen, wieder mit ihm zu reden, dass ich es noch gar nicht richtig verarbeiten kann. In mir ist immer noch die Angst, dass er sich wieder von mir abwenden könnte. Ich darf auf keinen Fall wieder nur an mich denken.

Wir gehen in einen Burgerladen und bestellen Pommes und Cola dazu. Ich halte mich mit meinen Fragen noch zurück, weil Syl vielleicht von selbst anfangen oder nicht darüber reden möchte.

Eine Weile schweigen wir uns an. Syl hat seinen Blick auf die Tischplatte gerichtet und fährt mit dem Finger die Linien dort nach. Er ist bedrückt, das merke ich. Also versuche ich schließlich, ihn ein bisschen aufzuheitern: „Zocken ohne dich ist einfach nicht dasselbe", sage ich.

Syl grinst ein bisschen und hebt den Blick, aber sein Blick bleibt traurig. „Wieso nicht? Ein würdiger Gegner war ich dir doch eh nie."

„Du bist mein allerliebster Gegner. Ohne dich fehlt jedem Spiel einfach die Seele."

Er grinst und zuckt mit den Schultern. „Trotzdem. Gut war ich doch eh nie."

Es tut mir weh, ihn so zu sehen. Was hat ihn so zerbrochen?

„Es geht doch auch gar nicht darum, die meisten Kills und die wenigsten Tode zu haben, oder?"

„Sowas aus deinem Mund."

Auch ich muss grinsen. „Ja. Aber ist doch so. Du hast die Liste vielleicht nicht angeführt, aber du warst der Grund, warum es so viel Spaß gemacht hat. Und ohne dich ist es einfach nicht mehr dasselbe."

„Das war jetzt echt kitschig." Er lacht, aber ich glaube, meine Worte haben ihm gefallen.

Unser Essen wird uns an den Tisch gebracht.

„Möchtest du mir erzählen, was passiert ist? Wo du jetzt bist?", frage ich nach ein paar Bissen.

Syl isst noch ein paar Happen, ehe er tief einatmet und mich ansieht. „Die vom Jugendamt fanden, dass meine Mutter nicht richtig für mich sorgt. Ist ja auch irgendwie so ... aber, keine Ahnung, besser als das scheiß Heim, in das die mich jetzt gesteckt haben, war's eigentlich schon."

Es war also wirklich passiert. Fuck.

„Scheiße, tut mir leid." Die Worte kommen von Herzen und ich spüre, wie es schneller klopft. Das hätte nie so passieren dürfen, das hat Syl nicht verdient. „Wie ist es da?"

Syl zuckt mit den Schultern und schiebt sich ein paar Pommes in den Mund. „Ich hab kein eigenes Zimmer. 'ne Konsole sowieso nicht, also Zocken ist nicht mehr. Wir müssen auch selber kochen, dafür gibt's so'n Plan, jeder ist mal dran. Und auch das ganze Putzen drumherum machen, damit wir es lernen." Er schüttelt den Kopf. Sieht mich dann an. „Und weil die Scheiße am anderen Ende der Stadt ist, musste ich die Schule wechseln. Weil sie fanden, dass der Weg sonst zu weit ist. Wahrscheinlich haben die Angst, mich dann nicht genug unter Kontrolle zu haben, keine Ahnung. Gibt halt für alles irgendwelche Regeln und ich muss mich abmelden, wenn ich gehe ..." Er seufzt tief und tunkt eine weitere Pommes in Ketchup, ehe er sie sich in den Mund schiebt und abbeißt.

„Ich weiß, ich kann davon nichts besser machen ... und ... ich hab keine Vorstellung, wie beschissen das ist. Aber wenn du Lust hast, könnten wir zu mir gehen und du könntest zumindest mal wieder zocken, wenn du magst."

Während Syl von seinem Burger abbeißt, habe ich Angst, dass das ein scheiß Vorschlag war. Dass ich wieder irgendwas übersehen habe und ich ihm nur wieder unter die Nase reibe, wie gut es mir im Gegensatz zu ihm geht. Während er seinen großen Bissen zerkaut, werde ich immer nervöser.

„Also ... Wir m–", setzte ich gerade an, als er schluckt und nickt.

„Ja. Voll gern. Hab ich echt schon viel zu lang nicht mehr gemacht." Und dann schenkt er mir ein Lächeln und mein angespanntes Herz droht vor Erleichterung zu zerspringen.


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