27 - Shivan, der Mutterflüsterer
Shivan und Thorben klatschten, als ich in der zweiten Runde am Joint ziehen konnte ohne zu Husten.
„Jetzt bist du ein richtiger Mann", verkündete Thorben lachend.
„Übertreib mal nicht. Ein Teenager vielleicht", erwiderte Shivan. „Ab jetzt die übliche Regelung: Zwei mal ziehen, weitergeben."
Er nahm den Joint von mir entgegen, strich ihn im Aschenbecher ab und inhalierte.
„Wie fühlst du dich?", fragte er mich mit einem prüfenden Blick.
„Ganz normal eigentlich", erwiderte ich nach einem kurzen Moment, in dem ich in mich ging. Tatsächlich fühlte ich keine großen Veränderungen. Oder?
„Beim ersten Mal merkt man meistens noch nichts", meinte Thorben und hob seine Bierflasche an die Lippen, während Shivan ein zweites Mal zog. Er nickte zustimmend.
„Solang du dich nicht scheiße fühlst ist alles bestens", lächelte er und reichte den Joint weiter, ehe er einen der Plastikbecher ergriff, eine nur noch zu einem Viertel gefüllte Rumflasche öffnete und sich einen Fingerbreit eingoss. Suchend schaute er sich um.
„Die Cola ist noch unten, oder?", fragte er.
Thorben nickte und führte seinen Zeigefinger an die Nasenspitze.
„Muss nicht!", rief er und Shivan drückte sich aus dem Polster hoch.
„Ich geh schon, fauler Sack", lachte er und verließ das Zimmer.
„Gefällt's dir hier?", fragte Thorben mich und reichte mir den Joint.
Ich nickte.
„Ist echt gemütlich", meinte ich und konzentrierte mich darauf den Rauch zu inhalieren. Er kratzte immer noch in meinem Hals, aber ich konnte dem Hustenreiz widerstehen. Vorsichtig sog ich den Rauch in meine Lungen und pustete ihn wieder aus.
„Ich bin echt froh, dass du so'n korrekter Typ bist", grinste Thorben. „Man weiß ja nie, was für Spinner sich so im Internet rumtreiben."
Ob er wusste, dass Shivan sich anfangs als Mädchen ausgegeben hatte?
Ich nickte lächelnd und zog nochmal.
„Ich will mich nicht einmischen oder so, wirklich nicht." Thorben hob abwehrend die Hände. „Aber ... magst du Shivan? Also ... du weißt schon."
Neugierig schaute er mich an.
Ich pustete den Rauch aus und hielt den Joint in einer unnatürlichen Pose in der Luft.
„Ja", sagte ich. „Er ist ... er ist schon cool."
„Klar doch, aber ... also ..."
Bevor er sich in weiteren Erklärungen verlieren konnte, kam Shivan mit zwei Flaschen Cola ins Zimmer.
„Wäre ich cool würde ich jetzt einen Salto über den Tisch machen", verkündete er und umrundete ebenjenen Tisch, um sich wieder auf seinen Platz fallen zu lassen. Er stellte die Flaschen ab und pflückte mir den Joint aus der Hand. Er steckte ihn sich zwischen die Lippen und drehte eine der Flaschen auf, um seinen Becher zu füllen.
„Mach mir auch mal 'ne Mische", bat Thorben. „Denny?"
Shivan schüttelte den Kopf, ehe ich was sagen konnte. Er stellte die Flasche ab, nahm den Joint zwischen den Lippen hervor und schaute mich an.
„Ich halte es für keine gute Idee, wenn du jetzt Alkohol trinkst. Wir wissen nicht, wie dein Körper darauf reagiert und Mischkonsum an sich ist immer ein höheres Risiko. Würd ich dir für dein erstes Mal echt nicht empfehlen."
„Keine Sorge, ich möchte eh nicht", lächelte ich. War irgendwie lieb von ihm, dass er sich Gedanken machte.
Er erwiderte mein Lächeln, dann inhalierte er erneut den Rauch und fertigte eine zweite Mische an. Becher und Joint reichte er weiter, Thorben zog noch zwei schnelle Male und drückte die Zigarette dann aus.
Wir aßen Tiefkühlpizzen zu Abend und schauten FailArmy auf Youtube. Thorben und Shivan kamen kaum zum Essen, so wie sie von einem Lachflash in den nächsten rutschten. Von ihnen angesteckt verdrückte auch ich meine Pizza sehr viel langsamer als gewöhnlich.
Als wir irgendwann auf die Couch zurückwanderten, setzte Shivan sich näher neben mich. Unsere Oberschenkel berührten sich fast, viel fehlte nicht mehr.
„Ich find's wirklich toll, dass du hier bist", sagte Shivan mit einem breiten Grinsen. Er beugte sich zu mir und umarmte mich fest. „Ich hoffe dein Abend ist mindestens so schön wie meiner."
„Es ist echt toll hier", bestätigte ich – und dann fiel mir ein, dass ich die Zeit vollkommen vergessen hatte. „Wie spät ist es?", fragte ich ein wenig hektisch und versuchte, die Hand in meine Hosentasche zu bekommen.
Shivan löste sich wieder von mir. Er hatte sein Handy schneller hervorgeholt.
„Zwanzig vor zwölf, wieso?", sagte er und drehte mir den Bildschirm zu.
„Verdammt, ich muss nach Hause! Sofort!"
„Ganz ruhig", sagte Thorben. „Wieso musst du nach Hause?"
„Meine Mutter bringt mich um!"
Der Gedanke an die Standpauke, die mich erwartete, ließ den ganzen schönen Abend in den Schatten rücken.
„Du fährst jetzt nicht mehr nach Hause, das ist viel zu gefährlich!", sagte Shivan bestimmt. „Außerdem fährt bestimmt eh nichts mehr."
„Und was soll ich deiner Meinung nach tun?", fragte ich verzweifelt.
„Du pennst bei mir", sagte er. „Du kannst mein Bett haben, ich schlaf auf der Couch oder so."
„Darum geht's nicht, meine Mutter –"
Er ließ mich nicht ausreden.
„Gib mir dein Handy", forderte er mich auf und hielt mir seine geöffnete Hand hin.
„Wieso?"
„Ich klär das mit deiner Mutter, gib schon."
Das war absolut keine gute Idee. Shivan war bekifft und betrunken. Wer wusste, was er sagen würde? Außerdem würde meine Mutter bestimmt sogar durch den Telefonhörer mitbekommen, was wir hier machten, auch wenn man Shivans Stimme den Alkohol nicht anhörte.
Er bewegte die Finger auffordernd auf und ab.
„Gib jetzt!"
„Tu, was der Mann sagt!", unterstützte Thorben ihn und da ich so oder so einen Heidenärger kriegen würde, ließ ich mich weich klopfen und überreichte Shivan mein Smartphone.
Er öffnete die Kontakte, scrollte zum M runter und tippte den Kontakt meiner Mutter an.
„Bis gleich", grinste er, stand auf und bewegte sich Richtung Zimmertür.
„Guten Abend Frau Dennys Mutter", hörte ich ihn sagen, während er auf den Flur trat, und vergrub mein Gesicht in den Händen.
Zu meiner Überraschung kam Shivan vielleicht zwei Minuten später grinsend ins Zimmer zurück.
„Alles geklärt", sagte er, warf mir mein Handy zu und ließ sich neben mich sinken.
„Echt jetzt?", fragte ich skeptisch.
„Ja." Er nickte. „Du pennst heute bei mir und fährst morgen irgendwann wieder nach Hause. Na ja, pünktlich zum Abendessen."
„Echt jetzt?", wiederholte ich und warf einen ungläubigen Blick auf das Display meines Smartphones.
„Ja, wenn ich's doch sage", bestätigte Shivan und lächelte.
Irgendwann im Laufe des Abends war die Welt aus den Fugen geraten, anders konnte es nicht sein. Aber gut, der morgige Tag war noch nicht da und mich konnte immer noch eine Standpauke und Hausarrest für den Rest meines Lebens erwarten.
Wir blieben noch bis halb eins bei Thorben, dann machten wir uns auf den Weg zur Bushaltestelle, von der ein Nachtexpress uns in die Nähe von Shivans Zuhause bringen würde. Er ließ es sich nicht nehmen noch einmal bei Jeffrey vorbei zu schauen, ehe wir uns auf den Weg machten.
„Danke, war echt cool bei dir!", sagte ich zu Thorben, als wir am Tor standen, dass dieser glücklicherweise für uns geöffnet hatte. „Wir sehen uns bestimmt nochmal!"
„Das hoff' ich doch", grinste Thorben. Er umarmte Shivan zum Abschied, dann zog er auch mich an sich ran. „Na, komm her!"
Seine Umarmung war nicht so lang und herzlich wie die von Shivan, aber trotzdem von Freundschaftlichkeit durchzogen.
„Kommt gut nach Hause!", verabschiedete er uns, dann liefen wir den düsteren Feldweg in Richtung Straße hinab.
Mit einem Mal waren wir allein in der Stille der Nacht. Unsere Schritte waren unnatürlich laut, das Geräusch von Shivans Reißverschluss, als er seine Jacke schloss, noch lauter.
„Ist frisch geworden", stellte er fest.
„Geht", erwiderte ich. Kälte machte mir für gewöhnlich nicht allzu viel.
„Ich hol schnell den Rum, dann wird mir auch warm", scherzte Shivan. Unsere Finger berührten sich, als ich auf eine Unebenheit auf dem Boden trat und einen Schritt nach rechts machen musste.
Wir liefen weiter.
Wie zufällig berührte Shivan ein zweites Mal meine Hand.
„Ich find's echt schön, dass du dich mit Thorben verstehst", sagte er.
„Ich auch", stimmte ich zu.
Wir waren eine Weile lang die einzigen Fahrgäste im Bus, später stiegen noch ein paar Betrunkene zu, die uns nicht weiter beachteten. Von der Haltestelle des Nachtexpress' aus mussten wir einem Radweg folgen, der auf beiden Seiten von stickfinsterem Wald eingerahmt wurde. Ganz geheuer war mir dieser Weg nicht, aber wenn wir außen rum gingen würden wir fast eine Stunde länger brauchen. Ich biss die Zähne zusammen, würde schon nix passieren.
Wir sprachen nicht miteinander, während wir durch die Nacht liefen. Der Schotter knirschte unter unseren Schuhen, die Blätter der schwarzen Bäume raschelten im Wind. Der Mond stand so, dass er uns silbern den Weg leuchtete.
Es war so friedlich. So besinnlich. Dieser Moment war einer derjenigen, die ich in mein Herz schloss, um sie für immer dort aufzubewahren.
Shivans Wohnung lag im Dunkeln, als wir sie erreichten.
„Meine Familie schläft schon", flüsterte er, als wir auf Socken in den Wohnungsflur traten. Er winkte mir ihm ins Bad zu folgen und schloss die Tür hinter uns.
„Warte, ich such dir eben eine Zahnbürste raus", sagte er leise und öffnete den Spiegelschrank. Aus einer Pappverpackung holte er eine Bambuszahnbürste hervor und drückte sie mir in die Hand.
„Wollen wir zusammen Zähne putzen?", fragte er und ich nickte.
„Danke", sagte ich.
Shivan tat uns Zahnpasta auf, wir befeuchteten unsere Bürsten und steckten sie uns dann in den Mund. Eine Weile war nur das gleichmäßige Schrubben zu hören, dann spuckte Shivan aus und spülte mit klarem Wasser nach.
„Ich bereite schon mal das Bett vor", lächelte er und ich nickte, den Mund noch voller Schaum.
Er ließ mich im Bad allein und ich machte mich bettfertig, ehe ich durch die leise klimpernden Perlenvorhänge in Shivans Zimmer trat.
„Ich hab alles frisch bezogen", sagte er und schaute auf das Bett. „Brauchst du noch was?"
Ich schüttelte den Kopf.
„So viel Mühe hättest du dir gar nicht machen brauchen", erwiderte ich.
„Ach, ist doch kein Problem", winkte Shivan ab. „Also, wenn du alles hast ... geh ich noch eben ins Bad und schlaf dann drüben im Wohnzimmer."
Ich nickte und Shivan lächelte nochmal, ehe er seine Tür ansteuerte.
„Schlaf schön, Denny."
„Du auch."
Ich zögerte.
Shivan näherte sich dem Vorhang. Streckte die Hand aus, um ihn beiseite zu streichen.
„Aber ... Du musst nicht auf der Couch schlafen."
Shivan hielt in der Bewegung inne und drehte sich zu mir.
„Was?", fragte er und hob die Augenbrauen.
Ich biss mir auf die Unterlippe.
„Also ... Du kannst auch hier schlafen. Wenn du willst."
Keine Ahnung woher diese Worte kamen. Ob ich Shivan nicht aus seinem eigenen Bett vertreiben wollte oder ... ich seine Nähe inzwischen eigentlich ganz gern mochte.
Er lächelte.
„Wenn's wirklich okay für dich ist."
Das war es. Das war es wirklich.
Ich nickte und Shivan lächelte ein wenig breiter, ehe er sich ebenfalls bettfertig machen ging.
In meinen Klamotten legte ich mich schon mal hin, Portemonnaie und Handy platzierte ich auf dem Boden neben dem Bett. So wartete ich auf Shivan, der wenig später zurückkam, das Fenster kippte und über mich drüber kletterte, um sich zwischen mich und die Wand zu legen. Er hob die Decke an und kroch vorsichtig darunter, bemüht, mich nicht versehentlich zu berühren. Klappte nicht ganz.
Ich drehte mich zu ihm um, auch wenn ich im Dunkeln nicht viel von ihm sehen konnte.
„Es war ein wirklich schöner Abend", sagte Shivan zum wiederholten Mal und klang irgendwie aufgeregt.
„Ja", stimmte ich zu und spürte, wie seine Aufregung auch auf mich überging. Es war kein negatives Gefühl, keines, das meine Handflächen feucht werden ließ. Es war vielmehr vergleichbar mit Vorfreude.
„Hast du genug Decke?", fragte Shivan.
„Hab ich und du?"
„Na ja. Aber ist egal", grinste er.
„Du kannst auch näher kommen."
Er rutschte an mich heran. Sein Knie berührte meins, seine Hand meinen Arm, den ich unter das Kissen geschoben hatte, um meinen Kopf darauf zu betten.
Ich roch den Alkohol in seinem Atem, vermischt mit der Frische der Zahnpasta.
Shivan streckte seine Hand aus. Langsam und vorsichtig berührte er mich an der Wange. Strich sanft darüber. Er näherte sich mir, ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Hörte ihn, wie er ein wenig schneller wurde. Noch bevor Shivan seine Lippen auf meine legte, schloss ich die Augen.
Diesmal stieß ich ihn nicht von mir.
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