19 - Kater und Kaki
„Willst du noch bleiben, wo du schon mal da bist?", fragte Shivan, nachdem er mich wieder losgelassen hatte. „Mit mir ist heute allerdings nicht sonderlich viel anzufangen."
Wie um seine Aussage zu unterstreichen hob er seine Beine wieder ins Bett und ließ sich ins Kissen zurücksinken.
„Willst du nicht lieber deine Ruhe haben?", fragte ich mit einem Blick auf seine geschlossenen Augen.
„Ich hab dich gerne bei mir", lächelte er und ich schüttelte grinsend den Kopf. Er war echt eine Nummer für sich, das stand außer Frage.
Hier zu bleiben wäre eigentlich wirklich eine Überlegung wert. Dann würden das Ticket und die lange Fahrt sich mehr lohnen, als wenn ich gleich wieder heimfuhr, wo ich ohnehin nur vor der Konsole sitzen und mit Syl reden würde. Da erschien es mir verlockender, den Tag bei Shivan zu verbringen.
„Wenn ich dich wirklich nicht störe ...", antwortete ich also und er schlug die Augen auf.
„Keineswegs", lächelte er. „Ich hab mir bloß nichts für heute überlegt, dazu war ich gestern nicht mehr unbedingt in der Lage."
„Machst du das öfter?", fragte ich. „Also Alkohol trinken."
Noch etwas, das ich noch nie getan hatte.
„Ab und zu", erwiderte Shivan. „Gestern haben wir den König gestürzt, da gab's dann ordentlich was zu feiern im Sherwood Forest", grinste er und tastete nach der Wasserflasche.
Ich beugte mich vor und reichte sie ihm an.
„Danke", sagte er, drehte den Deckel ab und kippte sich beim Trinken die Hälfte ins Gesicht. Prustend richtete er sich auf.
„Das Trinken üben wir nochmal, was?", grinste ich, während Shivan sich mit seinem Pulliärmel abtrocknete.
„Ja, wär besser", erwiderte er und nahm dann die letzten Schlucke, ehe er die Flasche zudrehte und in die Zimmerecke warf. „Hast du eigentlich Hunger?"
Bei Syl war keine Zeit mehr zum Frühstücken gewesen und auch, wenn meine Aufregung bisher keinerlei Hungergefühl zugelassen hatte, wäre etwas im Magen nicht zu verachten.
„Ich könnte schon was essen", erwiderte ich und Shivan nickte.
„Gut, ich denke danach geht's mir auch'n bisschen besser", grinste er und kämpfte sich wieder auf die Füße. Unsicher schaute ich vor mich hin, bis er mir anbot, dass ich auch mitkommen könne. Gemeinsam durchquerten wir die Vorhänge und traten in die Küche, wo Nil gerade dabei war, den letzten Teller aus der Spülmaschine in den Schrank zu stellen.
„Wehe du machst wieder alles dreckig und lässt alles rumstehen, ich hab gerade aufgeräumt!", sagte er zu Shivan, während er den Küchenschrank schloss.
„Entspann dich mal", seufzte Shivan.
„Nein, es nervt dauernd hinter Mama und dir herzuräumen", beschwerte Nil sich, machte aber Platz, als Shivan ihn zur Seite schob, um an den Schrank zu gehen.
„Du nervst auch", sagte er und stellte zwei Schüsseln auf die Ablagefläche.
Nil verließ mit verschränkten Armen die Küche und erinnerte mich dabei ein bisschen an Syl, wenn der seinen Willen nicht bekam. Nutzlos stand ich in der Küche herum, während Shivan Joghurt aus dem Kühlschrank nahm, in die Schüsseln verteilte, und dann begann einen Apfel hineinzuschneiden.
Als er mit der Hälfte fertig war, hielt er inne und sah mich an.
„Magst du überhaupt Obst in Joghurt?", fragte er und schaute überrascht drein.
„Ja, ist okay", erwiderte ich, auch wenn ich Obst Zuhause eher mied. Meist frühstückte ich einfach Brot mit Belag, aber ich wollte Shivan nicht vor den Kopf stoßen.
„Sorry, war echt etwas viel gestern", sagte er und fuhr mit dem Zerschneiden fort. Auch eine Birne und eine Frucht, die ich nicht kannte, fanden ihren Weg in unser Essen. Dann nahm Shivan zwei Löffel, reichte mir einen, ließ die Reste der Apfel- und Birnenkitsche auf der Ablage liegen und machte sich mit seiner Schüssel auf den Weg zurück in sein Zimmer.
Ich folgte.
Wir kamen an Shivans Mutter vorbei, die auf der Couch saß und, wie ich vermutete, einen Joint in der Hand hielt, während sie ein Buch las.
In seinem Zimmer setzten wir uns aufs Bett, Shivan lehnte sich mit dem Rücken gegen die Decke, die von der Wand hing und begann zu essen. Auch ich versenkte meinen Löffel im Joghurt und fischte vorsichtig ein Apfelstückchen heraus, ehe ich mir den ersten Bissen in den Mund schob.
Ein paar Minuten lang herrschte Schweigen, dann stellte Shivan seine noch gut gefüllte Schüssel neben sich ab und legte sich eine Hand auf den Bauch.
„Alter, ich kotz gleich", seufzte er, ließ sich wieder in sein Kissen fallen und schmiss dabei fast die Schüssel um.
Ich aß in kleinen Bissen weiter, auch wenn das Zeug irgendwie seltsam schmeckte. Nicht unbedingt schlecht, aber anders als das, was ich gewohnt war.
„Was ist das hier überhaupt?", fragte ich und hielt auf meinem Löffel ein Stück des unbekannten Obsts hoch.
„Kaki", murmelte Shivan nach einem kurzen Blick.
Ich nickte, auch wenn mir dieser Name genau so wenig sagte, wie die Frucht selbst. Aber sie schmeckte ganz gut, stellte ich fest, nachdem ich mich überwunden hatte, sie in meinen Mund zu stecken und misstrauisch zu zerkauen.
„Willst du Fernsehen oder so?", fragte Shivan mit geschlossenen Augen.
„Von mir aus", stimmte ich zu.
„Du kannst auch zocken oder so", bot er an, nahm seine halbvolle Schüssel und reckte sich, um sie neben dem Bett auf den Boden zu stellen.
„Nein, Fernsehen ist okay", erwiderte ich und holte die Fernbedienung, die ich auf der Konsole liegend entdeckt hatte. Mit einem Druck auf die rote Taste erwachte das schwarze Bild zum Leben und anschließend dauerte es nicht lange, bis Shivan wieder eingeschlafen war.
Lange hatte ich keinen Spaß am Fernsehprogramm, denn es lief nichts was mich interessierte. Ich schaltete durch die Sender und wählte schließlich den HDMI-Port aus, ehe ich die Konsole anschmiss. Shivans Profil loggte ich aus und meldete mich als Gast an, ehe ich COD startete.
Shivan verschlief den ganzen Nachmittag und erst, als ich mich langsam auf den Heimweg machen musste, weckte ich ihn.
„Bin ich eingepennt?", murmelte er schlaftrunken und suchte nach seinem Handy, fand es aber nicht. „Wie lange hab ich geschlafen?"
„Ungefähr den ganzen Tag", grinste ich.
Shivan stöhnte auf.
„Fuck, tut mir leid. Warum hast du mich nicht geweckt?"
Ich zuckte mit den Schultern. Er hatte ausgesehen, als bräuchte er den Schlaf und dabei hatte ich ihn nicht stören wollen.
Shivan richtete sich auf, rieb sich die Augen und schwang dann seine Beine aus dem Bett, wobei er fast in seine halbvolle Frühstücksschüssel trat. Das Obst hatte inzwischen eine bräunliche Farbe angenommen.
„Ich muss jetzt los", teilte ich ihm mit.
„Ich bring dich zum Bahnhof", murmelte Shivan, aber ich schüttelte den Kopf.
„Ist nicht nötig, ich find den Weg zurück alleine. Ruh dich lieber noch aus, du siehst aus, als hätte dich eine Herde Lamas über den Haufen gerannt", grinste ich.
Wir diskutierten ein wenig hin und her, aber schließlich begleitete Shivan mich nur bis zur Bushaltestelle und verabschiedete mich mit einer innigen Umarmung, ehe ich den Heimweg allein antrat.
Es war zwanzig Uhr, als ich unsere Haustür aufschloss.
„Ich bin wieder da", verkündete ich halblaut, während ich eintrat und das Licht im Flur einschaltete. Die Tür war noch nicht ins Schloss gefallen, da tauchte meine Mutter bereits mit verschränkten Armen in meinem Blickfeld auf.
„Komm bitte ins Wohnzimmer, wenn du deine Schuhe ausgezogen hast", sagte sie kalt und mir war klar, dass das Ärger bedeutete.
Ganz langsam schnürte ich meine Senkel auf, zog mir die Schuhe vom Fuß und stellte sie in den Schuhschrank. Meine schwitzigen Hände wischte ich an meiner Hose ab und einen tiefen Atemzug später trat ich zu meinen Eltern.
„Setz dich", forderte meine Mutter mich auf. Sie und mein Vater hatten auf einem der Stühle am Tisch Platz genommen, die Couch war leer, der Fernseher ausgeschaltet.
„Was gibt's denn?", fragte ich mit aufgesetzter Verwunderung, während ich einen Stuhl vorzog und mich ebenfalls niederließ.
„Wo bist du gewesen?", wollte meine Mutter wissen.
„Bei Syl", erwiderte ich ein wenig zögerlich, denn irgendwie war mir schon klar, dass sie von meiner Lüge wussten.
„Denkst du nicht, es ist ein bisschen spät? Wir haben Sonntag, Denny, morgen ist wieder Schule."
Oder ging es ihnen doch nur darum, dass wir bereits zwanzig Uhr durch hatten?
„Ja, tut mir leid, wir haben beim Zocken die Zeit vergessen", murmelte ich. Ich rieb meine Hände über meine Oberschenke, wollte aufstehen und in mein Zimmer gehen, wusste aber, dass ich hier noch nicht fertig war. Der strenge Blick meiner Mutter fesselte mich an den Stuhl, während mein Vater wie so oft nichts sagte und ihr das Reden überließ. Auf ihrer Seite war er trotzdem stets, bei mir Zuhause war es nicht wie bei vielen anderen, die ihren Vater fragten, wenn ihre Mutter nein sagte und umgekehrt. Meine Eltern hielten zusammen, nur leider gegen mich.
„So, so. Du und Sylvester habt also beim Zocken die Zeit vergessen", hakte sie nach, als wolle sie mir nochmal die Möglichkeit geben, die Wahrheit zu sagen, aber das wäre ja schön blöd. Ich würde bei meiner Geschichte bleiben, bis sie mir das Gegenteil bewies.
„Ja, hab ich doch gesagt", erwiderte ich also und verschränkte die Arme vor der Brust, während ich Mamas Blick standhielt.
„Lüg uns nicht an, Denny", warnte sie.
„Mach ich doch gar nicht! Ruf doch Syl an und frag ihn, wenn du mir nicht glaubst."
„Als wüsste ich nicht, dass Sylvester dich deckt, ich war auch mal jung, Denny! Aber das ist dennoch eine gute Idee, ich werde mich bei seiner Mutter erkundigen", sagte sie und mein Herz pochte schneller, ehe ihr Blick zur Uhr schweifte. „Morgen, ich werde sie morgen anrufen."
„Kann ich jetzt gehen?", fragte ich und war schon im Begriff aufzustehen.
„Ab auf dein Zimmer", meldete mein Vater sich zuWort, während meine Mutter mich weiterhin prüfend ansah und wahrscheinlichhoffte, meine Maske würde unter ihren Blick zusammenfallen und ich ihr dieWahrheit sagen, die sie hören wollte. Aber ihre Wahrheit war nun mal, dass ichbei Syl gewesen war und daran würde ich auch nichts ändern.
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