18 - Sprite und Aspirin
Es war halb eins und ich stand seit fünf Minuten vor der Tür des Mehrfamilienhauses, in dem Shivan wohnte. Ich war ein bisschen stolz, dass ich es geschafft hatte, den Weg zu ihm zu rekonstruieren und mich auch nur einmal kurz verlaufen hatte. Eigentlich sollte der schwierigste Teil damit hinter mir liegen – aber auf die Klingel zu drücken erschien mir mit einem Mal eine viel größere Herausforderung zu sein.
Bevor ich in den Zug gestiegen war, hatte ich Shivan eine Nachricht geschickt, die er bis jetzt noch nicht gelesen hatte. Vielleicht wollte er doch nicht, dass ich vorbeikam?
Plötzlich ging die Haustür auf und ich ging eilig einen Schritt zurück, als eine Frau mit einem Babykörbchen in der Hand auf den Bürgersteig trat.
„Möchtest du hier rein?", fragte sie und stützte die Tür mit den Fingern ihrer ausgestreckten Hand ab.
„Ja, danke", sagte ich schnell und machte einen Schritt nach vorn, um die Klinke zu ergreifen. Ich war hier, jetzt konnte ich auch hoch gehen. Wenn Shivan mich nicht sehen wollte, konnte er mich immer noch wegschicken, ganz einfach. Ich stieg also die Treppen hinauf und drückte dann auf die Klingel vor Shivans Tür. Mit etwas Abstand blieb ich auf dem Absatz stehen und wartete.
Seine Mutter öffnete.
„Denny, Schätzchen, schön dich zu sehen", begrüßte sie mich und schob den klimpernden Vorhang bei Seite. Der einnehmende Geruch der Räucherstäbchen strömte auf den Flur und leise Musik war im Hintergrund zu hören. Indische Musik, was sonst.
„Guten Tag, ich wollte gerne Shivan besuchen", sagte ich und warf unscheinbar einen Blick über ihre Schulter in den leeren Flur. War er womöglich gar nicht da?
„Komm rein, aber Shivan schläft noch", teilte seine Mutter mir mit. „Er hat gestern ein bisschen zu tief ins Glas geschaut, also wunder dich nicht, wenn er schlechte Laune hat."
Sie lachte und ich war mir sicher, dass meine Mutter in keinem vorstellbaren Szenario so reagieren würde, wenn ich betrunken nach Hause kam.
„Danke", antwortete ich und zog meine Schuhe aus, ehe ich durch den Vorhang hindurch Indien betrat. Shivans Mutter warf ich noch ein kurzes Lächeln zu, ehe ich sein Zimmer ansteuerte und das Paravent zur Seite schob, um einzutreten.
Shivan lag tatsächlich noch schlafend im Bett. Er hatte mir den Rücken zugedreht, die Decke verdeckte seinen nackten Oberkörper nur zur Hälfte. Durch das gekippte Fenster strömte kühle Luft in den Raum, aber es roch trotzdem nach Alkohol, gepaart mit Salbei und Zwiebeln.
Schon wieder blieb ich unschlüssig stehen. Sollte ich ihn wecken oder warten, bis er von alleine aufwachte? Wann würde das sein?
Fürs erste ließ ich mich auf dem Boden nieder und schickte Syl eine Nachricht.
Ich hab den weg gefunden aber shivan schläft noch. Was soll ich machen?
Weck ihn, schlug Syl postwendend vor und ich richtete meinen Blick wieder auf das Bett.
Vielleicht ist er noch müde, warf ich ein.
Scheißegal mann der hat eh nen kater also weck ihn einfach besser wirds nicht
Vermutlich hatte Syl Recht. Es brachte nichts hier rumzusitzen, das war höchstens creepy, wenn er von seiner Mutter erfuhr, wann ich hier angekommen war. Also rappelte ich mich wieder auf, trat an Shivan heran und rüttelte ihn vorsichtig an der Schulter.
Er grummelte etwas, wachte aber nicht auf.
Ich rüttelte fester.
„Shivan? Ich bin's, Denny", murmelte ich leise und fand es immer noch schrecklich, dass es in diesem Haus nur eine richtige Tür gab.
Shivan rollte sich auf den Rücken und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, ehe er ein Auge öffnete und mich zwischen zwei Fingern hindurch anblinzelte.
„Denny?", murmelte er mit rauer Stimme und verzog das Gesicht. „Wie spät isses denn?"
„Zwanzig vor eins", erwiderte ich und verschränkte meine Finger ineinander.
Shivan stöhnte, drehte sich auf die Seite und setzte sich dann auf. Vollkommen zerstört saß er auf seiner Bettkannte, das braune Haar hing ihm wirr ins Gesicht, welches er wieder in seinen Händen vergrub.
„Gib mir 'ne Minute", murmelte er und blieb reglos sitzen, ehe er aufstand sich eine Jogginghose und einen Pulli überzog und dann ans Fenster trat. Er nahm die Figürchen von der Fensterbank, legte sie auf den Boden und öffnete es dann. Ein paar tiefe Atemzüge später setzte er sich wieder auf sein Bett, strich sich das Haar, das ich zum ersten Mal nicht zu einem Zopf gebunden sah, aus dem Gesicht und schaute mich an.
Er war blass und unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.
„So, jetzt", sagte er und setzte ein schwaches Lächeln auf. „Hey."
„Hey", erwiderte ich und schaute ihn forschend an.
„Falls du dich das fragst: Ja, ich erinner' mich noch dran, dass ich dich gestern angerufen hab'", sagte er und griff nach der Wasserflasche, die neben dem Bett stand. In großen Schlucken trank er daraus.
„Gut", murmelte ich und wusste nicht recht, was ich sagen sollte.
Shivan stellte die Flasche wieder weg und rieb sich die Stirn.
„Bevor wir irgendwas anderes tun, geh ich pissen", teilte er mit, stand wieder auf und ging an mir vorbei aus seinem Zimmer heraus.
„Namasté", hörte ich seine Mutter sagen. „Hat da etwa jemand einen Kater?"
„Ich doch nicht", grummelte Shivan. Perlenvorhänge klirrten, dann war wieder Ruhe und ich ließ mich auf der Bettkante nieder. Betrachtete das Chaos auf seinem Schreibtisch, auf dem auch das Headset noch lag. Nicht mehr an der Stelle, an der ich es zurückgelassen hatte, aber es war noch da.
Als Shivan zurückkam, hatte er zwei Gläser dabei. Eines drückte er mir mit dem Kommentar „Sprite" in die Hand, in dem anderen löste sich gerade eine Tablette im Wasser auf. Er ließ sich neben mich sinken und betrachtete den aufsteigenden Sprudel, während ihm das Haar immer wieder ins Gesicht fiel.
Ich verkniff mir die Frage, wie es ihm ging, denn das war für jeden ersichtlich. Von der Seite schaute ich Shivan an und überlegte, wie ich das Gespräch beginnen könnte. Als ich mir gerade die passenden Worte zurecht gelegt hatte, platzte plötzlich ein kleiner Junge in den Raum. Er war neun, vielleicht zehn Jahre alt und blieb nun neben dem Paravent stehen, den Blick auf mich fixiert.
„Was willst du, Nil?", murrte Shivan ohne aufzusehen.
„Machen wir was?", fragte Nil und ließ seinen Blick zwischen mir und seinem Bruder hin und her gleiten.
„Nein, du siehst doch, dass ich Besuch hab", fuhr Shivan ihn unerwartet heftig an. Das Getränk in seiner Hand schwappte fast über.
„Kein Grund gleich zu meckern", murmelte Nil, drehte sich aber um. Mit einem Klimpern des Vorhangs war er verschwunden.
„Sorry", seufzte Shivan, ehe er den Inhalt seines Glases hinunterkippte. Ich war mir nicht sicher, wen er gemeint hatte. „Also. Reden wir."
Ich nickte und wusste wieder nicht, was ich sagen sollte. Gestern war es irgendwie noch leichter gewesen, als die Initiative von Shivan ausgegangen war und er all die Probleme angesprochen hatte. Jetzt hing das irgendwie an mir.
„Es tut mir Leid, dass ich vor dir zurückgewichen bin", begann ich schließlich mit dem Offensichtlichen.
„Tut mir leid, dass ich dich überrumpelt habe", erwiderte Shivan.
Er entschuldigte sich nicht für den Kuss.
Ich nickte.
„Du bist für mich kein Monster", sagte ich leise und warf einen Blick auf das Paravent. Warum gab es keine Tür, warum nur? Wenn ich die Musik seiner Mutter hören konnte, hörte sie uns auch reden.
Shivan warf mir ein ehrliches Lächeln zu, auch wenn er dadurch nicht weniger leidend aussah.
„Ich war einfach nur total überfordert mit der Situation, das ... das war mein erster Kuss", fuhr ich fort und vermied es, ihn anzusehen. Stattdessen schaute ich auf das Glas in meinen zitternden Fingern. Wenn ich nicht aufpasste, würde die Sprite über den Glasrand schwappen. Schnell trank ich einen kleinen Schluck.
„Den hast du dir wahrscheinlich anders vorgestellt, hm?" vermutete er und stellte sein leeres Glas auf dem Boden ab.
Ich zuckte mit den Schultern, denn ich wollte ihm nicht die Wahrheit sagen. Wie auch?
Ja, ich dachte, er würde mit einem Mädchen stattfinden?
Das wäre nicht fair und ich war kein Arschloch! Jeder konnte lieben und küssen, wen er wollte. Nur ob ich jemand war, der Männer küsste, das wusste ich nicht.
„Du hast ihn dir anders vorgestellt", stellte Shivan fest. Er beugte sich vor und nahm sich ein Haargummi von seinem Schreibtisch, mit dem er seine Haare unordentlich zurückband.
„Liegt es an mir?", fragte er weiter und fuhr fort, bevor ich widersprechen konnte. „Oder daran, dass ich ein Junge bin?"
Ich zögerte, die Worte blieben mir im Hals stecken.
Shivan reichte das wohl als Antwort.
„Stehst du auf Mädchen?", fragte er und ich zog die Schultern hoch.
„Keine Ahnung", gestand ich. „Ich ... weiß es einfach nicht, aber ..." Ich schluckte, trank einen Schluck Sprite und schaute überall hin, solange es nicht Shivans Richtung war. „Ich meine, ich ..."
Er unterbrach mich nicht. Ließ mir alle Zeit, die ich brauchte.
Sag es einfach. Sei einfach ehrlich. Alles andere bringt euch nichts, ihr seid doch hier, um zu reden.
„Ich ... mag dich und ich möchte nicht ... also ..."
Jetzt unterbrach er mich doch. Lächelte mich an.
„Keine Sorge, Denny. Ich kann warten."
Auch meine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und erst jetzt merkte ich, welche Last mir von den Schultern fiel.
„Danke", sagte ich und konnte nicht verhindern, dass ich ihn anstrahlte.
„Umarmen darf ich dich aber schon noch, oder?", grinste Shivan und ich nickte.
„Klar", erwiderte ich und gleich darauf legte Shivan die Arme um mich und drückte mich fest und herzlich, wie er es immer tat.
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