16 - König der Tyrannen
Ich wich zurück und stand keinen Augenblick später wieder mitten im Raum.
„Was sollte das?", erklang meine erschrockene Stimme in meinen Ohren. Die Worte fielen einfach aus meinem Mund und übergingen meine Fähigkeit zu entscheiden.
Shivan sah nicht wie erwartet überrascht oder peinlich berührt aus. Auch nicht entschuldigend oder wütend. Er grinste mich nur an.
„Keine Ahnung", antwortete er und ließ sich wieder auf mein Bett fallen. „Ich sagte 'mach einfach' und das ist mir als erstes eingefallen."
Ich erinnerte mich an Syls und Mos Fragen, ob Shivan schwul sei oder bi. Erinnerte mich daran, wie Syl gesagt hatte, dass er auf mich stand und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mir der Bedeutung dieser Worte nie wirklich klar gewesen war.
Stand Shivan auf mich? So wie Mo auf ihren Freund oder mein Vater auf meine Mutter?
„Du kannst mich doch nicht einfach küssen!", erwiderte ich, bemüht meine Stimme leise klingen zu lassen. Was meine Mutter wohl sagen würde, wenn sie das gesehen hätte?
Um sicherzugehen, dass dem nicht so war, schaute ich kurz über die Schulter zu meiner Zimmertür. Verschlossen, gut.
„Du siehst doch, dass ich kann. Außerdem, was ist schon dabei?"
Er setzte sich wieder auf und zog die Beine in den Schneidersitz.
„Wie, was ist schon dabei?", wiederholte ich und meine Stimme überschlug sich. „Viel ist dabei, das ist voll die große Sache!"
Shivan zog eine Augenbraue hoch und sah nicht überzeugt aus.
„Lass einfach mal los, Denny. Ist doch echt kein Drama jetzt", sagte er wieder, aber ich schüttelte den Kopf und wich noch einen Schritt zurück, als Shivan aufstand, um an mich heranzutreten. Sein Blick veränderte sich.
„Oh, okay", sagte er. „Mein Fehler."
Er sah nicht mehr entspannt aus, aber auch immer noch nicht, als sei ihm sein Handeln unangenehm. Die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst hob er seinen Rucksack vom Boden auf und schulterte ihn, ehe er an mir vorbei zur Tür ging. Ich trat einen Schritt bei Seite und Shivan blieb mit der Türklinke in der Hand nochmal kurz stehen. Er warf mir einen Blick zu und sah aus, als wolle er etwas sagen, tat es aber nicht. Stattdessen zog er die Tür auf und hinter sich wieder zu. Ich hörte ihn die Treppe hinunterlaufen, dann war kurz Stille und schließlich wurde die Haustür ins Schloss gezogen.
„Denny?", hörte ich meine Mutter rufen und als ich auf die Treppe trat, sah ich sie im Flur stehen. „Na nu, bist du nicht gerade rausgegangen?"
„Nein, das war Shivan", erwiderte ich tonlos und schaute die Tür an. Vor wenigen Sekunden war er noch hier gewesen und jetzt war er weg. Einfach verschwunden, dabei kannte er sich hier doch gar nicht aus. Wo ging er denn jetzt hin?
„Wieso ist er schon wieder weg?", fragte sie weiter. „Habt ihr euch gestritten?"
„So ähnlich", murmelte ich abwesend und stieg dann die Stufen wieder hinauf. Ich schob die Tür hinter mir zu und setzte mich wieder auf die Kante meines Bettes, an die Stelle, auf der ich vorhin auch gesessen hatte. Die offene Chipstüte lag verlassen da, fast so, als hätte ich sie dort liegen lassen.
Aber dem war nicht so.
Ich rutschte über die Matratze zum Fenster und warf einen Blick hinaus, aber Shivan war natürlich längst verschwunden. Dafür begann es zu regnen, die dunklen Wolken hingen tief und verdeckten den blauen Himmel. Sie tauchten die Welt draußen in einheitliches Grau.
Was war da gerade passiert? Ich hatte kaum realisiert, was vor sich gegangen war, aber es war schon alles gelaufen. Ich dachte darüber nach ihm zu schreiben, aber ich tat es nicht. Was sollte ich auch sagen?
Das war mein erster Kuss gewesen, verdammt, und eigentlich hatte ich immer gedacht, den mit einem Mädchen zu haben. Das war doch so das Gängige, oder? Wer hatte denn seinen ersten Kuss mit einem Typen?
Nachdem ich den halben Tag einfach auf meinem Bett gesessen hatte, schaltete ich meine Konsole ein, um ein wenig den Kopf freizukriegen. Sofort lud Syl mich in eine Party ein.
„Was machst du denn hier, ich dachte, du hast Besuch", begrüßte er mich.
„Ja, na ja, nicht mehr", murmelte ich ausweichend.
„Hä, wieso?", fragte Syl weiter und ich zuckte die Schultern, während ich den Blick auf meinen Controller richtete. Mit dem Finger kratzte ich Staubkörnchen aus den Ritzen.
„Wieso?", wiederholte mein bester Freund, der meine Gesten natürlich nicht sehen konnte.
Was sollte ich sagen?
„Keine Ahnung."
Irgendwie lag eine seltsame Schwere auf dem Tag heute. Von Anfang an war alles schief gegangen, aber überraschenderweise war es nicht meine Mutter gewesen, die alles komplett ruiniert hatte. Sondern ... Shivan? Ich? Wer von uns eigentlich?
„Rühr dich nich' vom Fleck, ich komm rum", riss Syl mich aus meinen Gedanken. Bevor ich etwas erwidern konnte, war er offline.
Es fiel mir schwer, Syl von dem Kuss zu erzählen. Schwerer, als ich vermutet hatte. Er war mein bester Freund und ich vertraute ihm, aber diese Situation war so seltsam.
Für Syl schien sie allerdings weniger überraschend zu sein.
„Na ja, er steht halt auf dich. Warum wundert's dich dann so, dass er dich küsst?", fragte er und schlürfte einen Schluck aus seiner Energydrink Dose. „Gut, war vielleicht 'n bisschen überstürzt, er hätte sich schon noch ein bisschen Zeit lassen können ..."
Ich starrte Syl an und fragte mich langsam, ob ich wirklich überreagiert hatte.
„Aber", setzte ich an und schwieg.
„Aber?", wiederholte Syl.
„Na ja, er ... ich meine ..."
Syl drehte die Dose in seiner Hand und betrachtete mich nachdenklich.
„Wenn Shivan ein Mädchen wär'", sagte er langsam und schaute mir prüfend ins Gesicht, „Hätte dich dann auch gestört, wenn sie dich geküsst hätte?"
„Was soll die Frage, er ist kein Mädchen", erwiderte ich und zog die Augenbrauen zusammen.
„Egal, sag einfach mal. Stört es dich nur, weil er ein Kerl ist?"
„Denkst du, ich hab was gegen Schwule?", fragte ich, während mir gleichzeitig meine Gedanken wieder in den Sinn kamen. Die Vorstellung, dass mein erster Kuss mit einem Mädchen stattfinden würde, und dass es so normal wäre.
„Hast du denn?", fragte Syl.
Hatte ich?
„Nein!", bestimmte ich. „Wir kennen uns doch kaum, er kann mich doch nicht einfach so küssen."
Syl seufzte und trank einen Schluck aus seiner Dose, als sei Weisheitsserum darin.
„Deine Reaktion war trotzdem nicht nett. Ich mein, wahrscheinlich findet er dich echt toll und alles und du ... tust, als hätte er dir eine reingehauen oder so. Ist ja okay, wenn's dir nicht passt, aber was Schlimmes hat er echt nich' getan."
Es war selten, so ernste Worte von Syl zu hören. Oft dachte man gar nicht, dass er in der Lage dazu wäre, irgendwas anderes als Sprüche loszulassen.
„Ich hätte ihn nicht gehen lassen sollen, oder?", seufzte ich, denn er hatte Recht. Shivan hatte mich überrascht, aber er hatte nichts getan, das eine derart negative Reaktion rechtfertigte.
Syl schüttelte zustimmend den Kopf.
Ich ging auf Abstand. Ich meldete mich nicht bei Shivan und er sich nicht bei mir. Auf seinem Profil schaute ich nicht vorbei und sogar Syl verlor kein weiteres Wort über ihn. Er schien zu verstehen, dass seine Neugierde hier unangebracht war und fragte nicht. Vielleicht war ihm auch nur klar, dass ich ohnehin ein zu großer Feigling war, um irgendwas zu unternehmen, auch wenn ich nicht wusste, was das sein sollte. Ich wusste ja nicht mal, was ich wollte.
Ich merkte nur, dass Shivan irgendwie fehlte. Dass ich wissen wollte, wie es ihm ging und wie er mein Verhalten verarbeitet hatte. So selbstbewusst er auch schien, hatte ich trotzdem das Gefühl, dass er sensibel war. Immerhin merkte er jedes Mal, wenn er eine unpassende Bemerkung machte und entschuldigte sich dafür.
Ob er gut nach Hause gekommen war? Hatte der Regen ihn an dem Tag sehr durchnässt, war er jetzt womöglich krank?
Ich wusste es nicht und niemand außer Shivan könnte mir Antworten auf meine Fragen geben. Shivan, den ich nicht anschreiben würde. Nicht nach dem, was vorgefallen war. Das konnte ich nicht bringen, ich wusste nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Wusste nicht mal, wie ich zu ihm stand. Zu ihm und der Tatsache, dass ich für ihn mehr als ein Kumpel zu sein schien.
Eine Weile lang überlegte ich, unsere Bekanntschaft einfach im Sande verlaufen zu lassen, aber nur drei Tage später war mir klar, dass ich das nicht konnte. Nicht wollte, um es besser zu sagen. Ich mochte Shivan, das stand außer Frage. Ihn, seine verrückten Hobbys und das Lama, das er adoptiert hatte.
Auch Syl hatte Recht mit der Aussage, dass die Sache weniger schlimm wäre, wenn Shivan ein Mädchen wär und das war nicht fair. Ich sollte ihn nicht auf sowas wie sein Geschlecht reduzieren, wenn mir doch ganz offensichtlich was an ihm lag. Deshalb griff ich zu meinem Handy und wählte seine Nummer. Mit klopfendem Herzen saß ich in meinem Sessel und hielt die Luft an. Unerträglich laut durchschnitt das Freizeichen die Stille.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
„Was geht ab, Tyrannosaurus Rex, erbarmungsloser König der Tyrannen-Echsen?"
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