10 - Ein äußerst hässliches Lama
„Wie fandest du's?", fragte Shivan, während wir den Hinterhof verließen.
„War interessant", gab ich zurück. „Cool."
Es hatte mir wirklich gefallen, ich hatte über einige der Texte sogar herzlich gelacht, aber es fiel mir schwer meine Begeisterung in Worte zu fassen. Wenn Shivan erst mal seine Nervosität abgelegt hatte, wirkte er anders. Selbstsicher und irgendwie alternativ. Niemand, mit dem ich sonst in meinem Leben was zu tun hätte.
Er hatte nicht dieses nach außen gerichtete Selbstbewusstsein, das Syl immer gerne zur Schau trug, er schien eher in sich zu ruhen und daraus seine Energie zu ziehen. Allein dieser Gedanke klang seltsam und nach irgendwelchem Yoga-Unsinn.
„Cool", stimmte Shivan zu und lächelte. „Willst du noch was Essen gehen, bevor wir wieder nach Hause fahren? 'Ne Pommes oder so? Ich hab heute noch nichts gegessen."
„Ich auch nicht", sagte ich und fühlte mich plötzlich von ihm verstanden. Ich war nicht der Einzige gewesen, der unfassbar aufgeregt war, Shivan hatte genau so wenig einen Bissen herunter bekommen.
Er lachte kurz.
„Perfekt, da hinten ist 'ne Pommesbude. Da sind wir vorhin schon dran vorbei gekommen."
Wir blieben zwischen zwei am Straßenrand geparkten Autos stehen, schauten kurz nach rechts und links und überquerten dann die Straße.
„Geht auf mich", sagte Shivan, während er die Tür aufstieß.
Ich wollte eigentlich protestieren und ihm sagen, dass er nicht alles für mich zahlen brauchte, aber er trat bereits an den Tresen heran, bestellte und holte seinen Geldbeutel aus seiner Hosentasche.
Ich ließ mich an einem der drei Tische im Inneren des Lokals nieder und Shivan kam mit den beiden Pommesschalen zu mir. Auch zwei kleine Falschen Sprite hatte er dabei, stellte etwas umständlich alles ab und setzte sich dann.
„Guten Appetit", grinste er, stach seine Plastikgabel in die oberste, über und über mit Mayonnaise bedeckte Pommes und steckte sie sich in den Mund.
„Du musst dir Mayonnaise für die anderen Pommes aufheben", meinte ich ein wenig fassungslos und pikste meinerseits eine Pommes vom Rand auf. Ich tauchte sie in die Mayo, die an einer anderen Pommes klebte, ehe ich sie mir in den Mund steckte.
„Nein, zuerst isst man die mit der ganzen Mayo, dann die Salzigen und dann die kleinen Knusprigen", widersprach er und aß demonstrativ die nächste Pommes voller Soße.
Ich schüttelte grinsend den Kopf.
„Keine Ahnung hast du", meinte ich und Shivan lachte nur, ehe er sich die letzten drei Pommes mit Mayo in den Mund schob. Die in der Schale verbliebenen waren nackt und soßenlos.
„Das schmeckt doch so trocken gar nicht", sagte ich, aber Shivan zog nur amüsiert die Augenbrauen zusammen.
„Trocken? Die Dinger schwimmen im Fett, wenn die gemacht werden, trocken ist daran gar nichts."
Eine Stunde später regnete es in Strömen. Die Pommesbude erschien plötzlich wie ein sicherer Hafen in der Dunkelheit des Nachmittags. Lautstark trommelten die Tropfen gegen die Scheibe, die Autos, die draußen vorbeifuhren, hatten ihre Scheinwerfer eingeschaltet und wenn Menschen vorbei eilten, dann nur mit Schirm.
„Genau so muss der Herbst sein", meinte Shivan und trank den letzten Schluck aus seiner Sprite. „'nen Schirm hast du nicht zufällig dabei, oder?"
Ich tat, als taste ich meine Taschen ab.
„Nee, sorry, ausnahmsweise nicht."
„So'n Mist aber auch", lachte er. „Aber besser wird's glaube ich auch nicht mehr so schnell. Wollen wir los?"
Ich betrachtete das Sauwetter draußen und schaute dann auf mein Handy. Inzwischen war es kurz nach sechs und ich sollte mich tatsächlich besser bald auf den Heimweg machen, um unangenehmen Fragen seitens meiner Eltern vorzubeugen.
„Besser is'", gab ich zurück und stand auf.
Shivan stellte unsere leeren Pfandflaschen auf dem Tresen ab und der Verkäufer nahm sie dankend entgegen, ehe er uns noch einen schönen Tag wünschte.
„Ebenso", gab Shivan zurück, dann zog er den Reißverschluss seiner Kapuzenjacke bis zum Kinn hoch und öffnete die Imbisstür. Sofort peitschte der Regen das Wasser auf die leicht schmuddeligen Fliesen.
„Raus mit dir", grinste Shivan und zog sich die Kapuze auf den Kopf.
Ich seufzte, blieb kurz im Eingang stehen und warf einen Blick in den grauen Himmel, ehe auch ich mir die Kapuze überzog und in den Regen hinaustrat. Im nächsten Augenblick schob mich jemand vorwärts.
„Renn, Denny, renn!", brüllte Shivan mir ins Ohr, dann überholte er mich und joggte den Bürgersteig hinab. Das Wasser vom Boden spritzte seine Beine hinauf, aber bei den Massen, die uns von oben bereits jetzt durchnässt hatten, war das egal.
Ich gab mir einen Ruck und folgte ihm, auch wenn ich jetzt schon vor mir sah, wie ich versagen würde. Ausdauer hatte ich keine, zumindest im Laufen nicht.
Ich schaffte es die Straße hinab und um die nächste Ecke, dann spürte ich das altbekannte Stechen in meinen Seiten, das mich gerne im Sportunterricht heimsuchte, und verfiel ins Gehen.
Shivan bemerkte meine Tempoänderung erst, als er schon einige Meter weiter war. Postwendend kam er zu mir zurück, auch er war außer Atem.
„Irgendwie auch geil das Gefühl, oder?", fragte er und streckte sein Gesicht dem Himmel entgegen. Die Kapuze blieb auf seinem Kopf kleben.
„Na ja", erwiderte ich. Es gab tausend schönere Gefühle, die ich mir vorstellen konnte.
Endlich im trockenen Bahnhof angelangt, holte Shivan sein Handy aus der Tasche. Er versuchte, es mit seinem Tank Top trocken zu wischen, aber da der Stoff feucht war, funktionierte das nicht.
„Muss halt so gehen", sagte er und entsperrte das nass gewordene Gerät. „So, Denny, um mein Versäumnis hier mal auszubessern: Magst du mir deine Nummer geben? Dann können wir schreiben, falls du überhaupt noch Bock auf mich hast, obwohl ich Pommes esse wie ein Gestörter."
„Wenigstens gibst du's endlich zu", grinste ich, dann holte ich mein eigenes Handy hervor, suchte meine Nummer aus dem Telefonbuch und diktierte sie ihm.
„Denny", murmelte Shivan und wischte auf seinem Bildschirm herum. „Denny mit einem T-Rex dahinter."
„Ein T-Rex?", fragte ich.
Er drehte sein Handy zu mir, sodass ich den Smiley sehen konnte, den er hinter das Ypsilon gesetzt hat.
„Ja, ein T-Rex."
„Wieso?"
„Keine Ahnung", lachte Shivan, zog die Schultern hoch und warf dann einen Blick auf die elektronische Anzeigetafel, die die nächsten Züge auflistete. „So, ich muss los, Gleis zwölf. Das ist hinten am anderen Ende."
Er kam auf mich zu und schloss mich herzlich in die Arme. Ekelhaft angewärmter, nasskalter Stoff presste sich gegen meine Haut.
„Mach's gut, kannst mir ja schreiben", fuhr er fort und ließ mich wieder los. „Danke auf jeden Fall für die Chance und falls ich dich nicht überzeugen konnte, scheu dich nicht mir eine verhasste Nachricht zu schicken." Rückwärts gehend bewegte er sich zwischen den herumstehenden Menschen.
„Komm gut nach Hause", erwiderte ich, dann suchte ich meinen Zug auf der Tafel.
Syls grinsendes Gesicht war das erste, was ich erblickte, als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete.
„Woah, was machst du denn hier?", fragte ich. Schon viel wacher, als ich direkt nach dem Aufwachen sein sollte, richtete ich mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen.
„Deine Mutter ein bisschen ärgern", lachte Syl. „Die fand's gar nicht so witzig, dass ich Sonntagmorgens unangekündigt hier auftauche."
„Glaub ich", murmelte ich und gähnte. „Aber reingelassen hat sie dich ja scheinbar trotzdem."
„Meinem Charme kann eben keiner widerstehen. Rutsch mal."
Ich machte Platz und er ließ sich sich auf meiner Bettkante nieder.
„Dich wollte ich eigentlich nicht in meinem Bett", grinste ich und streckte mich, ehe ich mein T-Shirt zurechtzog und ein Stückchen von Syl wegrutschte.
„Mister Molotov aber schon?", kam er gleich zur Sache.
„Ach, deswegen biste hier, hätt ich mir auch gleich denken können."
„Klar, jetzt erzähl mal. Was habt ihr gemacht, wie wars, wie war er?" Überdreht wie eh und je fing Syl an herumzuzappeln, aber ich schwang meine Beine aus dem Bett.
„Ich erzähl dir alles", grinste ich. „Aber zuerst geh ich aufs Klo."
Unter Syls Protest stand ich auf und flüchtete lachend ins Badezimmer. Warten war echt nicht seine Stärke.
Wir saßen mit belegten Broten und einer Tasse heißem Kakao in meinem Zimmer auf dem Boden. Draußen war noch dasselbe nassgraue Wetter wie gestern, aber hier drinnen war es gemütlich.
„Er ist eigentlich ganz cool", erzählte ich zwischen zwei Bissen. „Wir waren bei einem Poetry Slam."
„Was'n das?", fragte Syl mit vollem Mund. Er trank einen Schluck Kakao und schaute mich skeptisch an.
„Da tragen Leute selbstgeschriebene Texte vor. Das können Gedichte oder Kurzgeschichten sein, die sind manchmal witzig oder traurig oder sowas. Ist eigentlich ganz cool."
„Klingt lame."
„Dir ist auch alles zu langweilig, das nichts mit Action zu tun hat", lachte ich.
„Richtig. Aber weiter. Wie ist er, wie sieht er aus?"
Ich beschrieb Shivan, erzählte von seiner anfänglichen Nervosität aber auch davon, dass er ansonsten ziemlich selbstbewusst schien.
„Für so'ne Aktion braucht man halt schon richtig Eier in der Hose", meinte Syl und nickte anerkennend. „Er wusste ja nicht, was du für einer bist, du hättest ihm ja auch auf die Fresse hauen können."
Ich zog amüsiert die Augenbrauen hoch.
„Ja, ich weiß, dass du das nicht tun würdest. Aber er doch nicht", verteidigte er seine Aussage.
„Stimmt schon."
„Triffst du ihn nochmal?", fragte Syl schließlich. Inzwischen standen unsere Teller leer vor uns, auch in den Tassen war nichts mehr außer ein wenig Schokolade am Rand.
„Keine Ahnung", gab ich zu und griff instinktiv nach meinem Handy. Nachdem wir uns verabschiedet hatten, war von Shivan eine Nachricht mit nichts weiter als seinem Namen darin eingegangen, seine Nummer hatte ich also. Ansonsten hatte er mir nicht mehr geschrieben.
„Zeig mal sein Bild", sagte Syl und hatte mir mein Smartphone schon aus der Hand gerissen. Brachte ihm allerdings nicht viel, denn auf Shivans Profilbild war lediglich ein äußerst hässliches Lama zu sehen.
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