Kapitel 2
„Entschuldigung, ist hier noch Platz?", fragte mich ein älterer Mann, als ich aus meinem Traum erwachte. Wie ich bereits vermutet hatte, war ich während der Busfahrt eingeschlafen. Meine Hände zitterten unkontrolliert und ich war noch immer völlig durch den Wind. Der Traum hatte mir ganz schön zu schaffen gemacht und hinterließ einen unangenehmen Nachgeschmack, den ich nicht so einfach los wurde. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich schuldig für die vielen Toten, die ich in meiner Traumwelt gesehen hatte. Ganz so, als wäre ich tatsächlich für ihren Tod verantwortlich. Erst als ich meine Hände ansah und feststellte, dass sie nicht blutbesudelt waren, konnte ich mich beruhigen und erleichtert aufatmen.
„Hallo? Ich rede mit Ihnen", versuchte es der ältere Herr noch einmal und klang dabei ungeduldiger als zuvor. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass ich noch einige Haltestellen zu fahren hatte, also entschuldigte ich mich bei ihm und nahm meine Tasche auf den Schoß, um den Platz neben mir frei zu machen. Sofort setzte er sich hin und murmelte etwas unverständliches, ehe er eine Zeitung aus seiner Tasche kramte und die aktuellen Nachrichten las. Der Bus war vollkommen überfüllt und es gab kaum genügend Sitzplätze für die ganzen Teenager, die ebenfalls auf dem Weg zur Schule waren. Einige von ihnen unterhielten sich lautstark miteinander, andere wiederum kreischten oder machten sich einen Spaß daraus, sich gegenseitig zu schubsen. Glücklicherweise musste ich mehrere Haltestellen vor ihnen einsteigen, sodass ich fast immer einen Sitzplatz ergattern konnte. Es gab wirklich nichts, was ich weniger leiden konnte, als das Gedrängel am frühen Morgen. Während ich aus dem Fenster blickte und dabei zusah wie die Umgebung an mir vorbei zog, schweiften meine Gedanken zurück zu jenem grünäugigen Raben, der mir wahnsinnige Angst eingejagt hatte.
Besonders seine letzten Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf und ich fragte mich, was er damit gemeint hatte, bald frei zu sein. Letztendlich gab ich es auf, nach einer Antwort auf meine Frage zu suchen und schüttelte innerlich den Kopf. Ich sollte aufhören, über diesen Traum nachzudenken und die Sache auf sich beruhen lassen. Das was wirklich zählte, war das Hier und Jetzt, und darauf sollte ich mich konzentrieren. Als der Bus schließlich in Bloomington ankam und die meisten Schüler bereits hinaus gestürmt waren, nahm ich meine Tasche und bat den Mann neben mir, mich ebenfalls aussteigen zu lassen. Es war ein kühler Oktobertag und kein einziger Sonnenstrahl drang durch das graue Wolkenmeer am Himmel, welches meine derzeitige Stimmung bestens wiederspiegelte. Lange würde ich auf jeden Fall nicht mehr ohne Schal und Handschuhe auskommen, denn Minnesota zählte nicht gerade zu den US-Bundestaaten, die einen warmen Winter zu erwarten hatten. Obwohl ich bereits seit meiner Geburt in Richfield lebte, einem Vorort der Zwillingsstädte Minneapolis und Saint Paul, hatte ich mich nie an die kalten Winter gewöhnen können. Ich war schon immer einer der Menschen gewesen, die jede Gelegenheit nutzten, um den eisigen Temperaturen zu entkommen.
Mit schnellen Schritten überquerte ich die Straße und schloss mich ein paar Schülern an, die auf das Schulgelände zu marschierten. Der Pausenhof war nicht sonderlich eindrucksvoll, genauso wenig wie die Schule selbst. Das riesige Gebäude sah alt aus und hätte schon vor längerer Zeit saniert werden müssen. Vor allem die Backsteine, welche die Schule zusammen hielten, waren teilweise beschädigt und hatten sich mit der Zeit dunkler gefärbt, als sie ohnehin schon waren. Gemeinsam mit dem Graffiti an der Frontwand und der heruntergekommenen Sporthalle, die sich rechts neben dem Hauptgebäude befand, wirkte die Bildungsstätte nicht gerade wie ein Ort, an dem man sich wohl fühlen konnte.
„Hey, pass doch auf", schnauzte mich ein Schüler an, als er mich zwei Mal in kürzester Zeit anrempelte. Gerade wollte ich zurückfluchen, da bemerkte ich, um wen es sich bei dem jungen Mann handelte.
„Hey Marc", begrüßte ich ihn, obwohl ich ihm am liebsten ordentlich die Meinung gegeigt hätte. Das Einzige, was mich davon abhielt war die Tatsache, dass er mich nicht zum ersten Mal provozierte und mit seiner Aktion garantiert einen Streit anzetteln wollte. Der braunhaarige und mehr als einen Kopf größere Marc ging ebenfalls in meine Klasse und wusste genau, dass ich leicht reizbar war. Vermutlich hatte er es deshalb ständig auf mich abgesehen. Erst vorletzte Woche, als wir einen Klassenausflug zum Mall of America gemacht hatten, dem größten Einkaufszentrum der vereinigten Staaten, war die Sache zwischen uns eskaliert. Wie ein Hündchen war er mir während des gesamten Ausflugs hinterher gelaufen und hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als mich gezielt zu nerven. Schließlich hatten mich seine Sticheleien zur Weißglut gebracht und ich verpasste ihm vor aller Augen eine Backpfeife. Leider nahm der Tag kein gutes Ende für mich und während er mit einer Entschuldigung davon gekommen war, war ich zu einer Woche Hofdienst verdonnert worden. Dumm gelaufen, würde ich sagen, aber er hatte es wirklich nicht anders verdient.
Marc war generell jemand, der seine schlechte Laune gerne an Anderen ausließ. Daher war es auch weniger verwunderlich, dass ich nicht sein einziges Opfer war. "Marc der Mürrische", so bezeichnete ihn meine beste Freundin Alina des Öfteren, wenn er mit dem falschen Fuß aufgestanden war und meinte, seine miese Laune verbreiten zu müssen. Ohne mich noch einmal nach ihm umzusehen, betrat ich das Gebäude und machte mich auf den Weg zum zweiten Stock. Normalerweise wartete Alina bereits vor dem Klassenzimmer auf mich, was heute aber nicht der Fall war. Gerade als ich den Klassenraum betreten wollte, hörte ich, wie sie hinter mir meinen Namen rief. Ich drehte mich zu ihr um und begrüßte sie, als sie völlig atemlos bei mir ankam.
„Sorry, ich habe heute verpennt. Eigentlich wollte ich schon vor zehn Minuten hier sein", entschuldigte sie sich und strich sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht. Amüsiert zog ich eine Augenbraue nach oben und wusste sofort, dass sie mir etwas verheimlichte, ich kannte sie einfach viel zu gut.
„Du hattest wohl eine lange Nacht, was? Erzähl schon, ist Chris ein Romantiker?", versuchte ich sie aus der Reserve zu locken, woraufhin sie knallrot anlief und sich vergewisserte, dass niemand unser Gespräch belauschte.
„Manchmal bist du echt unmöglich Clara, aber ja ich geb's zu, er war die ganze Nacht bei mir", antwortete sie und schaute peinlich berührt zu Boden. Ich schmunzelte und konnte es mir nicht verkneifen, nachzuhaken.
„Das habe ich mir auch eben schon gedacht, aber das beantwortet meine Frage trotzdem nicht", gab ich zurück und ihr Gesicht nahm den Farbton einer Tomate an. Rasch packte sie meinen Arm und zerrte mich in eine Ecke, in der wir ungestört reden konnten. Immerhin hatten wir noch fünf Minuten, bis die erste Unterrichtsstunde losging.
„Er ist genauso ein hoffnungsloser Romantiker wie ich", gab sie ehrlich zu und strahlte mich mit ihren braunen Augen an. Ich erwiderte ihr Lächeln und freute mich für sie, dass sie ihr Glück gefunden hatte. Während ich Alina ansah, erinnerte ich mich zurück an jenen Tag, an dem wir uns kennenlernten. Damals waren wir Beide noch ziemlich jung gewesen, vielleicht sieben Jahre. Ihre Eltern hatten sie ebenfalls zum Ballettunterricht im nahegelegenen Theater angemeldet, obwohl sie absolut keine Lust darauf hatte, genauso wenig wie ich. Aber die Tanzstunden wurden immer erträglicher, je besser wir uns kennenlernten. Nicht nur, dass wir uns auf Anhieb gut verstanden, nein wir hatten sogar dieselben Interessen. Irgendwann lernten sich dann auch unsere Eltern kennen und ab dem Zeitpunkt, trafen wir uns eigentlich jedes Wochenende. Wir spielten zusammen Badminton, verabredeten uns im Park, machten Campingausflüge und schmachteten angesagten Boybands hinterher, als wir älter wurden. Nun, wo wir auch noch in dieselbe Klasse gingen, konnte uns rein gar nichts mehr trennen und ich war wirklich froh darüber, eine so liebenswerte Freundin wie sie zu haben. Über die Jahre hinweg, hatte sich eine wundervolle Freundschaft zwischen uns entwickelt, bei der ich mir sicher war, dass sie niemals enden würde. Selbst wenn ich mal wieder Ärger mit meinen Eltern hatte, konnte ich mir sicher sein, dass sie ein offenes Ohr für mich hatte und für mich da war, wenn ich sie brauchte. Die Freundschaft zu ihr bedeutete mir viel und auch, dass sie mich mit all meinen Ecken und Kanten akzeptierte. Denn schon damals, als ich noch klein war, fand ich große Freude daran, Unruhe zu stiften und Streiche zu spielen. Meistens waren sie zwar harmlos, aber es kam durchaus mal vor, dass ich größeren materiellen Schaden anrichtete. Das Teuerste, was ich jemals zerstört hatte, war eine Blumenvase meiner Mutter gewesen, die mehr als dreitausend Dollar kostete und mir zwei Wochen Hausarrest bescherte. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wieviel Stress ich zu dieser Zeit mit meinen Eltern hatte, was nicht bedeutete, dass wir heutzutage weniger streiten.
„Also hast du doch noch deinen persönlichen Prinz Charming gefunden und musst nicht als alte Jungfer sterben, wie du bereits befürchtet hast", neckte ich sie schließlich und verzog die Lippen zu einem Grinsen.
„Sieht wohl so aus, und was ist mit dir?", fragte sie mich, obwohl sie wusste, dass ich keinen Freund hatte.
„Wir wissen doch beide, dass du die Einzige bist, die als Jungfer sterben wird, wenn es so weiter geht", fügte sie hinzu und streckte mir frech die Zunge raus, als wäre sie ein Kleinkind.
Dem konnte ich leider nicht widersprechen, denn ich hatte tatsächlich seit einer halben Ewigkeit keinen Mann mehr getroffen, der mich auch nur ansatzweise interessiert hätte. Das Aussehen spielte dabei keine große Rolle, wenn er mich mit seiner Art verzauberte. Männer, die intelligent waren und wussten was sie wollten, interessierten mich am meisten. Außerdem sehnte ich mich nach jemandem, dem ich mich ganz öffnen konnte. Jemandem, der mich führte und der sowohl liebevoll als auch streng sein konnte. Aber da wir nicht bei "Wünsch dir was" waren, konnte ich noch lange auf einen Mann warten, der die meisten meiner Kriterien erfüllte. Mit einem Seufzen kapitulierte ich vor Alina, gerade als die Schulglocke ertönte und den Beginn der ersten Stunde verkündete. Meine Freundin knuffte mir in die Seite und zwinkerte mir zu.
„Keine Sorge Clara, wir finden schon noch einen passenden Mann für dich, du musst dich nur noch ein kleines bisschen Gedulden", versuchte sie mich aufzumuntern, während wir uns auf den Weg ins Klassenzimmer machten. Auch wenn ich bezweifelte, dass sie Recht hatte, gab ich die Hoffnung nicht auf. Irgendwann würde ich schon noch jemanden kennenlernen.
Hätte ich zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst, dass diese Schulstunde eine der letzten friedlichen Momente meines Lebens sein würde, hätte ich sie vermutlich mehr genossen.
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