Kapitel 42

„Bingo!", flüstert Blaire nach zwei Stunden endlich. Ich habe das Gefühl jeden Instagram-Account dieser Schule tausendfach angesehen zu haben, aber Mathilda ist nur auf den wenigsten Posts zu sehen, und wenn sie einmal auf einem zu sehen ist, dann nur verschwommen oder so stark im Hintergrund, dass man nichts richtig erkennen kann. Wes und ich rücken beide näher zu Blaire und starren auf ihren Bildschirm. Ich suche nach Mathildas kurzen Haaren, aber ich kann sie schon wieder nur verschwommen am Rand des Bilds erkennen. „Was hast du gefunden?", frage ich deshalb vorsichtig. Blaire deutet mit dem Finger auf die andere Seite des Bildes, wo Mathildas Vater steht. „Es war Elternbesuchstag", beginnt sie schließlich. Wes seufzt nur. „Ich dachte, dass du diese Sache hier ernst nimmst, Blay. Wir wussten schon von Anfang an, dass Besuchstag war. Das war der ganze Punkt, wieso du überhaupt bei diesem Komitee nach Bildern gesucht hast." Doch unsere Freundin schüttelt nur den Kopf.

„Lass mich ausreden und dann kannst du deine Meinung äußern, ja?" Sie wendet sich wieder dem Bildschirm zu, aber mir entgeht nicht, wie sie unauffällig ein wenig von ihm abrückt und in meine Richtung rutscht. „Gab es da nicht Stress mit ihm?", ruft sie Wes in die Erinnerung. „Sie war wütend, weil sie...das mit uns herausgefunden hat. Danach hatte sie noch einen Streit mit ihrem Vater, aber wir haben nie erfahren, was Henry damals mit ihr besprochen hat." Ich brumme zustimmend, denn das habe ich auch so erfahren, als ich mit verschiedenen Menschen aus diesem Kochkurs über Mathilda gesprochen habe. „Sie war so wütend an dem Tag. Und vielleicht ist das nicht nur unsere Schuld gewesen."

Für einige Momente ist es still, dann reibt sich Wes über den Nasenrücken und seufzt. „Ist dir klar, was du hier tust, Blaire? Du versuchst einen Weg zu finden, wie du dich selbst besser fühlen kannst. Wir beide haben sie am letzten Tag ihres Lebens schlimm verletzt. Sich Hoffnungen zu machen, dass das vielleicht doch nicht so ist, bringt niemandem hier etwas. Verstehst du das? Es macht alles nur noch schlimmer." Dann erhebt sich Wes ruckartig, entschuldigt sich und verschwindet in einem Zimmer. Aber er hat es nicht geschafft, die Tränen in seinen Augen zu verstecken, ehe er gegangen ist. Ich denke, dass ich unterschätzt habe, wie sehr diese Sachen die beiden mitnehmen muss. Wieso sie nicht damit abschließen können, zumindest nicht so recht. Sie geben sich selbst die Schuld daran, dass sie nicht gemerkt haben, was noch bei ihr losgewesen ist und sie können sich nicht verzeihen, dass Mathilda gestorben ist, noch bevor sie die Gelegenheit hatten, sich bei ihr zu entschuldigen und die Wogen zu glätten. Blaire atmet zittrig ein, aber ich halte sie auf, bevor auch sie losstürmen kann.

„Ich glaube dir. Ich habe auch gehört, dass etwas zwischen Henry und ihr im Busch war. Und ohnehin stimmt in der ganzen Geschichte etwas mit ihren Eltern nicht." Ich habe gesehen, wie sehr sich Violet und Henry verändert haben. „Es sind merkwürdige Dinge geschehen im Zusammenhang mit diesem Haushalt, Blaire. Und ich habe das die ganze Zeit über ignoriert, weil ich dachte, dass sie das ihrer Tochter niemals antun würden." Ich schlucke tief und reibe mit übers Gesicht. Auch wenn ich die ganze Zeit über die Wahrheit erfahren wollte, kann ich nicht leugnen, wie verdammt anstrengend das alles für mich ist. Ich hasse, dass ich mir die Wahrheit nicht selbst aussuchen kann, sondern etwas akzeptieren muss, was mir höchstwahrscheinlich nicht gefallen wird. „Was meinst du damit?"

„Ephraim und ich haben dort Kartons abgesetzt, in denen Mathildas Sachen eigentlich sein sollten. Aber sie waren mit einem Haufen altem Kram gefüllt, wobei nichts davon ihr gehört hat." Blaire runzelt die Stirn, aber ich winke ihr ab. „Aber das ist nicht einmal das Schlimmste. Ich wollte mich mit Violet treffen und mit ihr über die merkwürdige und für uns beide schlimme Situation sprechen. Aber als ich dort hingefahren bin, wurde ich mitten auf dem Weg überfallen. Niemand außer ihr und möglicherweise auch Henry wussten, dass ich dort sein würde. Man hätte mein Handy zwar abhören können, aber sonst sind es nur diese zwei Personen. Aber dort hört die Geschichte nicht auf. Violet hat mitten in der Nacht irgendetwas in der Küche getrieben und als ich nachsehen wollte, was los ist, hat sie blind mit einem Messer auf mich geworfen. Und das nicht aus Wut oder Rachesucht, sie hatte Angst. Das war blinde Panik, Blaire. Sie hat mir gesagt, dass sie nachts Schritte, Stimmen und Autos hört. Es klang ein wenig, als wäre sie dabei, den Verstand zu verlieren, aber dem war vielleicht gar nicht so. Vielleicht war das alles real für sie. Denn sie hat nach Mathildas Tod noch immer versucht, mit mir zu reden, aber Henry stand da irgendwie immer dazwischen. Sie hat außerdem betont, wie sehr er sich verändert hat und dass er von diesem Tod mitgenommen ist."

Blaire stößt ein leises Pfeifen aus und blinzelt einige Male, wobei sie versucht, das Gesagte zu verarbeiten. „Also weiß er vermutlich mehr. Oder vielleicht hatte er etwas damit zu tun." Ich nicke zustimmend und deute dann auf das Bild, welches sie mir gezeigt hat. „Das hier ist nur der kleine Schubser gewesen, den wir gebraucht haben. Denn ist dir klar, was heute für ein Tag ist?" „Der zweite Weihnachtstag?", rät sie und ich nicke zustimmend. „Genau. Und so wie ich Henry kenne, wird er seine persönliche Tradition besonders heute weiterführen wollen." „Was für eine Tradition?", runzelt Blaire die Stirn. „Zu trinken, bis ihn das Morgengrauen einholt. Normalerweise macht er das mit all seinen Freunden in einem Pub. Wenn er schuldig ist, wird er erst recht aus dem Haus verschwinden wollen. Und Violet wird mit uns reden." Blaire sieht mich kritisch an, aber dann nickt sie. „Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert. Aber sei vorsichtig, Helena. Wir wissen nicht, was sie genau vorhat. Wenn sie und Henry gemeinsam in dieser Sache stecken, werfen wir uns selbst vor die Wölfe."

„Sie ist anders als Henry. Und ich denke nicht, dass wir so etwas von ihr zu vermuten haben, verstehst du? Aber das ist im Moment unsere einzige Chance. Wir müssen sie nutzen. Je länger dieser Fall nicht gelöst wird, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass er geschlossen wird, ohne den richtigen Mörder aufzudecken. Das dürfen wir nicht zulassen", beschließe ich. Ich greife nach meinem Handy und wähle Violets Nummer, noch bevor ich es mir anders überlegen kann. Blaire seufzt, aber bedeutet mir, das Handy auf Lautsprecher zu stellen. Ich sehe ihr an, dass sie mit dieser Methode nicht einverstanden ist, aber jetzt ist es dafür schon ein wenig zu spät. Ich suche seit Monaten nach einer Antwort und langsam reißt mein Geduldsfaden. Die vorsichtigen Vorgehensweisen haben diesen Fall nicht gelöst. Also muss ich den Tatsachen ins Auge sehen.

„Helena?", höre ich Violets Stimme am Ende der Leitung. Okay, vielleicht war das doch nicht so schlau von mir. „Hi, Violet", bringe ich hervor. Ich grabe meine Finger in das kalte Leder der Couch, weil ich mich an etwas festhalten muss, um die Nerven nicht schon nach ein paar Worten zu verlieren. „Frohe Weihnachten nachträglich", füge ich hinzu. Natürlich fange ich somit an, um den heißen Brei zu reden, aber das lässt sich jetzt auch nicht mehr verhindern. Einige Sekunden lang ist es totenstill. Dann: „Ja, dir auch." Es fühlt sich merkwürdig an, dass ich Violet vor einigen Wochen noch aus Versehen Mom genannt habe, aber jetzt keine Ahnung mehr habe, wie ich mit dieser Frau reden sollte. „Bist du allein zuhause?" Wieder sagt sie lange nichts, ehe sie seufzt. „Ja. Es gibt einige Traditionen, von denen er sich wohl niemals trennen wird." Gut. Blaire wirft mir einen auffordernden Blick zu und ich nicke zustimmend. Jetzt oder nie. „Warum steht mein Auto in deiner Garage?"

Mir ist klar, dass ich vielleicht zuerst hätte fragen sollen, ob sie mein Auto wirklich dastehen haben, aber eine andere Möglichkeit fällt mir nicht ein. Für einen Moment glaube ich, dass sie aufhängen wird, weil ich das so gemacht hätte, wenn ich etwas zu verbergen hätte, aber Violet schweigt wieder nur. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir folgen kann, Helena." Doch, das ist sie. Blaire wirkt überrascht, dass ich die Befragung so begonnen habe, aber da ist sie leider nicht allein. Ich habe keine Ahnung, was ich hier tue, aber wenn ich nicht so wirke, als wüsste ich, wovon ich spreche, wird Violet niemals zugeben, was es mit Henry auf sich hat. Sie hat schon monatelang darüber geschwiegen und das hat sie mit allen Behörden so gemacht. Ich muss so tun, als hätte ich Beweise. „Ich habe meinen Ford Mustang in eurer Garage gesehen. Der, der mir gestohlen wurde. Und ich habe auch Fotos davon, also musst du gar nicht erst versuchen mir etwas zu erzählen, was nicht stimmt", lüge ich also.

„Du verstehst das alles nicht, Helena-...", beginnt sie, doch ich unterbreche sie sofort. „Nein, also versuch nicht, mich anzulügen. Du hast mich beinahe mit einem Messer abgeworfen, Violet. Irgendetwas stimmt bei euch nicht. Also hör auf, Henry zu beschützen und rück mit der Sprache raus." Ich hasse mich dafür, dass ich so mit Violet rede, die mich zumindest zu Mathildas Lebzeiten noch immer gut bei sich aufgenommen hat. Ihr Haus war mein zweites zuhause und es fühlt sich an, als würde ich mit Füssen darauf herumtrampeln. „Er ist alles, was ich noch habe", haucht sie. Blaire schlägt sich lautlos die Hand vor den Mund und ich sehe Tränen in ihren Augen glitzern. Die ganze Sache hier bewegt sie genauso sehr wie mich auch. „Violet, ich flehe dich an. Ich weiß auch, dass er einen Streit mit Mathilda hatte. Du musst mir nicht sagen, was passiert ist, du kannst es auch der Polizei beichten." Ich starre auf meine Hände und beiße mir auf die Lippen. Wieso muss das so klingen, als würde ich sie erpressen? Ich will doch nur, dass ihre Tochter endlich Gerechtigkeit erfährt. Ich will, dass dieser Albtraum endlich vorbei ist. Ich will wieder atmen und leben, ohne ständig Angst zu haben.

„Er hat sie nicht ermordet, Helena!", fährt mich Violet so heftig an, dass ich zusammenzucke. Blaire runzelt die Stirn, weil das alles andere als glaubwürdig geklungen hat, aber ich denke nicht, dass wir das bemerken sollten, wenn wir wollen, dass Mathildas Mutter weiterspricht. „Okay", entgegne ich stattdessen ruhig. „Was hat es dann mit ihm auf sich? Und mit seinem merkwürdigen Verhalten? Oder mit dem Fakt, dass er mein Auto gestohlen hat, verdammt!" Meine Hände zittern und ich bin froh, dass wir telefonieren, denn so kann mir Violet nicht ansehen, wie panisch ich im Moment bin. So kann ich ihr noch immer vorspielen, dass ich am längeren Hebel sitze. Dass ich eine Ahnung davon habe, was ich tue. „Was es damit auf sich hat?" Violet stößt ein bitteres Lachen aus, das mir durch Knochen und Mark geht. „Mein Mann hatte ein Verhältnis mit einer Zwanzigjährigen, das ist los! Mathilda hat es erfahren. Sie wollte damit zur Polizei gehen, aber was hätte sie dort gesagt? Nichts, was er mit dem Mädchen gemacht hat, war illegal. Unschön, aber erlaubt."

Ich lehne mich ein wenig zurück und blinzle. „Henry hat dich betrogen?", frage ich ungläubig. „Ja, Helena", seufzt sie, diesmal viel ruhiger. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber das hier war nichts davon. „Okay. Oh-...wow. Wieso hat er das gemacht? Macht er es noch immer? Und wieso um alles in dieser Welt lässt du dir das gefallen? Du bist eine wundervolle Frau und Mutter, Violet. Wenn dir Menschen wehtun, dann musst du dich selbst beschützen und nicht einen Kerl, der dir so etwas antun würde." „Henry ist alles, was ich noch habe", wiederholt Violet ihre Worte von vorher. Ich brauche nur einen Blick auf Blaires Gesicht zu werfen, um zu erkennen, dass ich nicht die einzige bin, die beinahe im Mitleid ertrinkt. Manchmal ist es nicht fair, was man alles für jemanden machen würde, von dem man nicht wertgeschätzt wird. „Und wieso benimmt er sich dann so? Wieso hat er dann mein Auto gestohlen? Was habt ihr zu verbergen? Mit wem hat er dich betrogen? Was ist am Besuchstag mit Mathilda geschehen?"

Blaire legt mir eine Hand auf den Arm, um mir zu bedeuten, dass ich es mit dem Beantworten dieser Fragen lieber langsam angehen soll, aber ich kann sie jetzt ohnehin nicht mehr zurücknehmen. Zuerst glaube ich, dass ich Violet mit meinen Fragen überfordert habe, dann höre ich aber, wie eine Tür ins Schloss fällt. Ich schmecke das Ende dieses Telefonats schon, bevor Violet es ausspricht. „Er ist früh zuhause, Helena. Ich muss jetzt Schluss machen. Aber bleib unter dem Radar und vergiss die Sache. Du weißt nicht, wozu manche Menschen fähig sind. Und wenn du dich weiterhin einmischst, wirst du meiner Tochter ins Grab folgen."



Es wird wieder spannnennndddd hihi 🤭

Wir haben endlich wieder mal etwas Neues erfahrennn hihi 🤭

Mit wem hatte Henry wohl eine Affäre?

Und wieso hat er Helenas Auto gestohlennn?

Vermutungen, wie der Fall jetzt noch aufgelöst werden kann?

Haben euch die Kapitel gefallen?

WICHTIGE FRAGE: Würde euch ein Buch über Wes & Blaire interessieren?

PS: ich habe seit neustem einen Plattenspieler und illicit affairs klingt soooo gut darauf 😩😩😩

Genießt das Wochenende und bis balddd hehe byeee 🤎

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