Kapitel 40

Der zweite Weihnachtstag ist der erste Tag in meinem Leben, an dem ich mit den ersten Sonnenstrahlen aufwache und bereits um halb acht in der Küche sitze und ein Glas Milch trinke. Normalerweise habe ich keinerlei Ordnung in meinem Leben und schon gar nicht genug Schlaf, aber ich denke, dass ich mich in diesem Haushalt zum ersten Mal wirklich erholen kann. Das Gewicht meiner Kindheit liegt sonst immer so schwer auf meinen Schultern, dass es mich beinahe zerdrückt, aber hier ist es schön. Hier habe ich meine Ruhe. Hier kann ich in der Küche sitzen, hier raucht niemand, hier gibt es Milch und warme Brötchen, Sachen, die mit Liebe und nicht einer schwarzen American Express gekauft wurden. Bill, Ephraims und Maisies Vater, ist der Einzige, der ebenfalls schon wach ist. Er nippt an seinem Orangensaft und sieht mich über den Rand seiner Brille, die ich heute zum ersten Mal sehe, aufmerksam an. Normalerweise hätte ich vielleicht Angst, aber ich kenne diesen Blick von Ephraim. Er scheint jedes Detail in sich aufzunehmen und mich zu lesen wie ein Buch. Und ich lasse es zu, weil ich davon müde bin, dass ich mich mein ganzes Leben versteckt und vorgegeben haben jemand zu sein, der ich gar nicht bin.

„Ephraim hat mir viel von dir erzählt", sagt er schließlich und stellt sein Glas auf dem Tisch ab. Ein trauriges Lächeln umspielt seine Lippen und ich lege den Kopf schief. Ich bin mir nicht sicher, ob ich wissen möchte, was er über mich gesagt hat, wenn das die Reaktion seines Vaters ist. Außerdem waren wir nicht unbedingt freundlich zueinander, was unsere Vergangenheit anbelangt. „Ich bin beeindruckt von dir Helena, weißt du." Verwirrung macht sich in mir breit. Das kam jetzt unerwartet. Vielleicht liegt das ebenfalls in seinem Blut. Vorlagen für Aussagen zu liefern, die so anders herauskommen, als ich es erwartet hätte. Es ist zutiefst verwirrend. „Wieso?", bringe ich hervor. Seine Mundwinkel zucken. „Als Ephraim zum ersten Mal etwas von dir gesagt hat, klang es so, als wärst du sehr oberflächlich. Deshalb haben wir ihm erst so kurz vor Weihnachten erlaubt, dich einzuladen." Ich nehme einen kleinen Bissen meines Marmeladenbrots, wobei ich mir seine Worte durch den Kopf gehen lasse. „Er hat schon länger gefragt, ob er mich zu Weihnachten hierher einladen darf?" Bill nickt und schüttelt den Kopf. „Kurz nach Halloween, ja." Kurz nach Halloween. Oh Gott. Er wollte mich damals schon einladen? Nachdem wir so kurz getanzt hatten? Dabei ist der Abend doch in einem Streit mit Wes und Aidan eskaliert...und Ephraim war da. Ich habe schon von den beiden erfahren, dass er einige Dinge klargestellt hat und ihnen die Parolen durchgegeben hat, weil ich mein Bewusstsein verloren habe. „Aber wir waren damals gar noch nicht befreundet", überlege ich laut, worauf Bill lachend den Kopf schüttelt.

„Vielleicht nicht. Aber das ändert nichts daran, dass der Junge schon immer ein Bisschen eine Schwäche für dich hatte. Ich fand es immer erschreckend, dass er nur über das Mädchen geredet hat, das ihn in den Wahnsinn treibt. Nicht alles davon war immer sonderlich nett, aber ich denke, das war einfach seine Schutzschicht, weil er Angst hatte, dass du ihn nicht magst und wegstoßen würdest. Er hat dich weggestoßen, bevor du es tun konntest." Nein, das macht keinen Sinn. Oder etwa doch? Waren wir die ganze Zeit in ein Spiel verwickelt, bei welchem wir versucht haben, den anderen mit Gehässigkeiten zu verletzen, um nicht mit einem gebrochenen Herzen davonzulaufen? „Warum erzählst du mir das jetzt, Bill?", frage ich. Wieder nur ein Schulterzucken von seiner Seite. „Wie gesagt, ich war voreingenommen. Aber ich bin froh, dass du hier bist. Diese Familie hat dringend jemanden gebraucht, der Ephraim endlich auf den Boden der Dinge zurückbringt und die Dinge zwischen Maisie, Austin und Ephraim kittet. Ich habe keine Ahnung, wie du das geschafft hast, aber es ist beeindruckend. Und ich schätze es sehr, wie freundlich du zu Maisie bist."

Ein trauriger Ausdruck legt sich über Bills Gesichts und mein Herz wird schwer, weil ich bereits erahne, was hierauf folgen wird. „Nicht viele sind das, verstehst du? Aufgrund ihrer Behinderung wird sie oft schlecht behandelt. Dabei ist sie genauso ein Mensch und Mädchen wie so viele andere." Und wie sie das ist. Maisie hat so viel Energie und Lebensfreude, dass es für zehn Personen reichen würde, und doch passt das alles in ihren kleinen Körper, der so viel Liebe ausstrahlt, dass es beinahe schon ein wenig wehtut. „Sie hatte einige Operationen, als sie kleiner war und deshalb hat sie so viel Unterricht verpasst, dass sie das sechste und neunte Schuljahr wiederholen musste. Manchmal denke ich, dass es ein Fehler war, sie an eine öffentliche Schule gehen zu lassen." Ich runzle die Stirn. „Wieso ist sie dann nicht auf der Wellington Academy? Ephraim studiert schließlich auch dort."

„Wir können uns das nicht leisten. Er hat sich das alles einigermaßen selbst verdient. Und da ist noch die Abmachung mit den Abbots. Das würde bei Maisie nicht funktionieren. Sie hat nicht einmal die Schule ohne Probleme geschafft, wie soll ich sie da für einen externen Job an eine elitäre Universität schicken? Das wäre Selbstmord." Ich lege mein Brötchen auf der Serviette ab. Das alles macht keinen Sinn mehr für mich. „Für einen externen Job? Ephraim geht schon seit er ein kleiner Junge ist in elitären Internaten zur Schule. Da kann er unmöglich gearbeitet haben." Bill lacht wieder, diesmal hart und frustriert und ich zucke zusammen, worauf er mich sofort entschuldigend anblickt. „Hat dir mein Junge etwa nicht gesagt, dass wir kein Geld haben? Du sitzt hier auf einem dicken, fetten Schuldenberg, Helena. Ich möchte dich damit nicht belasten, aber wir könnten uns die Schule sonst niemals in diesem Leben leisten."

Ich schlucke tief. Ich schätze, dass das alles schon Sinn macht. Aber ich verstehe nicht, wieso er mir das so sagen muss. Wieso ich mich so dumm fühle, obwohl das alles Dinge sind, die ich eigentlich schon weiß. Aber irgendwie fehlt mir einfach der Zusammenhang, dieses letzte Puzzlestück, das ich nicht einordnen kann, aber immer wieder danach ruft, endlich aufgedeckt zu werden. „Das tut mir leid. Aber was ist dieses sonst genau? Was macht Ephraim?" Bill sieht mich für einen Moment so an, als wäre das eine lächerliche Frage, weil ich das alles eigentlich schon weiß. Aber eigentlich war ich noch nie in meinem ganzen Leben so ahnungslos. „Na er hilft mir natürlich. Ich denke, dass ich dir deshalb auch immer dankbar sein werde. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen, aber wenn wir Mathildas Mord endlich aufgedeckt haben, wird uns das endlich von einem Großteil der Schulden erlösen, die wir uns wegen allen Krankenhausbesuchen von Maisie angehäuft haben."

Die Welt hört auf, sich zu drehen. Ehrlich. Ich kann nur dasitzen, mit aufgeklapptem Mund und den Mann vor mir anstarren, als würde ihn zum ersten Mal sehen. Es ist witzig, wie anders Menschen plötzlich aussehen, wenn man etwas Neues über sie erfährt. Mathildas Mord. Ein Fall. Das ist alles, was das für ihn ist. Ein einfacher Fall, etwas, was ihm Geld einbringt. Und ich verstehe das, wirklich. Ich sehe ein, dass dieser Mann Geld braucht, weil seine Tochter oft medizinische Hilfe benötigt hat. Ich sehe ein, dass diese Familien in Schulden versunken ist und dass die manchmal darin ertrinken, so wie ich manchmal im Geld ertrinke. Sie wollen überleben. Aber es ändert nichts an der Tatsache, dass es so verdammt wehtut. Ich wusste das von Ephraim. Dass er tatsächlich bei Untersuchungen hilft. Er hat es mir sogar irgendwann erzählt. Oder angedeutet, denn verdammt, ich habe ihn missverstanden. Anfangs, als ich misstrauisch gegenüber seinen Motiven war? Das habe ich ein wenig zu schnell abgelegt, denn es ging die ganze Zeit gar nicht um irgendeine Freundschaft, die er mit Mathilda hatte. Deswegen wusste ich vielleicht auch nichts davon. Weil das alles möglicherweise nur ein Vorwand war, eine Entschuldigung. Und seine Nachgiebigkeit, an diesem Fall weiterzuarbeiten? Alles. Nur. Ein. Job. Das hatte nichts mit mir zu tun oder seinen Gefühlen mir gegenüber. Oder dass er mich hierher eingeladen wollte nach der Halloweenparty? Das hatte auch nichts mit mir zu tun, sondern viel eher damit, dass ich nur ein Mittel zum Zweck gewesen bin. Eine nützliche Hilfe mit nützlichen Informationen. Da ist ihm plötzlich aufgefallen, dass ich vielleicht doch eine Ahnung von dem habe, was ich tun möchte.

Ich glaube nicht, dass ich mich jemals in meinem Leben so dumm gefühlt habe wie in dieser Sekunde. Das könnte alles ein Missverständnis sein, aber gleichzeitig hätte ich es auch viel früher erfahren, wenn es nicht einen Grund gegeben hätte, die Sache geheim zu halten. Ephraim muss bemerkt haben, dass ich zu sentimental geworden bin. Dass mir diese Sache zu wichtig gewesen ist. Dass ich ihm gegenüber dicht gemacht hätte, wenn mir klar gewesen wäre, dass das alles nur ein Job ist. Er ist ein kleiner Spion für seinen Vater und das war er schon seit Jahren. Kein Wunder haben sich die bisherigen Vergehen, die zwar nie einen Mord, aber oftmals Diebstahl von bedeutsamen Familiengegenständen, in der Schule so gut gelöst. Es gab schließlich immer jemanden, der die Details analysiert hat. Und das ist wohl das Frustrierendste an dieser ganzen Sache: Ich wusste die ganze Zeit über, dass ihm alles auffällt. Wie oft habe ich seine aufmerksamen Augen so attraktiv gefunden oder seinen scharfen Blick, der alles auffängt? Wie oft habe ich sein Detailwissen über bestimmte Dinge nicht hinterfragt, sondern sie einfach hingenommen? Weil ich nicht realisiert habe, dass das für ihn alles nur ein Job war.

„Helena?", fragt Bill sanft und ich zucke aus meinen Gedanken. Mein Selbstbewusstsein klebt irgendwo unter der Tischplatte, so wie es alte Kaugummis an unserer alten Schule immer getan haben. Ich erröte und meide seinen Blick. Immerhin erübrigt sich jetzt die Frage, ob ich vielleicht auch im echten Leben eine solide Detektivin abgeben würde, wenn ich nicht einmal gemerkt habe, dass ich die ganze Zeit über von einem beschattet wurde. Deshalb hat er mich anfangs auch so provokativ für Mathildas Tod schuldig gemacht. Wie konnte ich nur so blind sein? „Ich dachte, dass du das wusstest." Ich lache bitter auf, auch wenn Null Komma nichts an dieser Situation witzig ist. Aber es ist immerhin besser, als wenn ich hier und jetzt zu weinen begonnen hätte. Ich denke nicht, dass ich mich jemals von dieser Schande erholt hätte. „Helena, es tut mir so leid", beginnt Bill wieder. Ich würde ihm gerne sagen, dass er sich keine Sorgen machen sollte und dass es schon in Ordnung ist, aber ehrlich gesagt ist gar nichts in Ordnung. Und ich würde sowieso kein Wort hervorpressen können, weil ich mich zu sehr schäme. Die Beziehung zwischen Ephraim und mir war also nur ein weiterer Job. Das einzig wirklich Gute, was ich im Moment in meinem Leben habe, ist einmal mehr nichts weiteres als ein schöner Traum. Eine Illusion. Absolut atemberaubend.

„Ich bin mir sicher, dass mein Sohn da noch ein bisschen mehr dazu zu sagen hat", presst Bill hervor. Ich kann ihm ansehen, dass er dabei ist, seine Komposition zu verlieren. Er stellt sein Glas ab und faltet die Zeitung, die vor ihm auf dem Tisch liegt, akribisch. Er wiederholt, wie leid ihm das alles tut und ich finde nicht einmal den Nerv ihm zu sagen, dass ich diese Worte nicht hören möchte oder kann. Es tut ihm leid? Was ist mit seinem Sohn? Tut es ihm auch leid? Das ist das Problem mit Worten. Sie sind so mächtig, so schön, so verlockend, bis man irgendwann vor den Taten stehen bleibt. Vor Ephraims Berührungen und Küssen und seiner Entscheidung, mir die Wahrheit nicht zu erzählen. Weil Worte der Grund für all die schönen Bilder in meinem Kopf sind. Sie zeichnen besser als jeglicher Pinsel es tun könnte, weil sie viel genauere Striche ziehen können. Weil sie mir viel schärfere Messer in die Brust gestochen haben. Ich presse die Lippen zusammen und räuspere mich. Stille tritt ein, aber ich kann sie nicht überbrücken und etwas sagen. Denn mich scheinen gerade jegliche Worte verlassen zu haben und da ist nur noch Leere in mir. Also tue ich das, was ich am besten kann. Was ich schon mache, seit ich mich unter einem Liegestuhl versteckt und dort geschlafen habe, weil ich Angst hatte, es in meinem eigenen Bett zu tun. Ich entferne mich von einer Situation und isoliere mich, bis ich wieder ein Gefühl von Sicherheit erlange. Auch wenn das vermutlich ebenfalls nichts weiteres als eine Illusion ist.



Ähm ja da ist das Drama wieder 💀 Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass wir es so lange ohne geschafft haben, aber hier sind wir wieder i guess 🤷‍♀️

Habt ihr das erwartet?

Was halten wir jetzt von Ephraim?

Und wird Helena nun wohl machen?

Vermutungen, wie es allgemein weitergeht?

Ich hoffe, dass euch die Kapitel gefallen haben (ES KOMMEN NUR NOCH 6 AHHHHH) und dann lesen wir uns bald wieder 💜

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