Kapitel 36
„Du hast deine Haare geschnitten", sind die ersten Worte, die ich von Ephraim höre, als ich mit mein vollbeladenes Auto neben ihm parkiere und aussteige. Er ist in eine dicke Winterjacke gehüllt und Schneeflocken tanzen auf seiner Brille und Nase. „Dir auch guten Morgen", murmle ich, während ich den Kofferraum öffne und mein Gesicht verziehe. „Ich hoffe wirklich, dass du nicht allzu viel Gepäck dabeihast." Aber Ephraim scheint mich gar nicht zu hören, als er mich zu sich umdreht und sein Mund ein wenig offensteht. Ich verziehe mein Gesicht und starre auf meine Zehen. Prudence hat sich ebenfalls Fransen geschnitten und wir fanden beide, dass die Verwandlung uns gutgetan hat, aber jetzt bin ich mir nicht so sicher. Was ungefähr die traurigsten Gedanken sind, die ich jemals in meinem Leben hatte, weil sie bedeuten, dass ich mich von der Meinung eines Manns beeinflussen lasse. „Kannst du...kannst du vielleicht nicht so eine große Sache daraus machen?", frage ich leise. Ich wage es noch immer nicht, in seine Augen zu sehen. Seine Reaktion bedeutet mir mehr, als sie eigentlich sollte und ich kann mein Selbstbewusstsein gut gebrauchen, wenn ich in ein paar Stunden seine Familie kennenlernen sollte. Ephraims leises Lachen holt mich aus meinen Gedanken, während er mein Kinn anhebt. „Das wäre vielleicht mein Plan, wenn dir die neue Frisur nicht so verdammt gut stehen würde", gesteht er mit einem amüsierten Funkeln in den Augen und streicht mir eine Strähne hinter die Augen.
Hitze sammelt sich in meinem Kopf und unter meiner Haut und ich nehme an, dass ich deshalb sterben werde, weil mein Herz plötzlich so schnell schlägt. „Ehrlich?", hake ich etwas skeptisch nach. So weltenbewegend ist dieser Haarschnitt auch wieder nicht. Denke ich mal. „Ja, verdammt." Ephraim schüttelt den Kopf, das Lächeln noch immer auf seinen Lippen, und dann huscht sein Blick zu meinem offenstehenden Kofferraum. Einen Moment lang fällt sein Lächeln in sich zusammen, dann beginnt er lauthals zu lachen. Er entfernt sich einige Schritte von mir. „Himmel, Birkshire, du hättest mir sagen sollen, dass du vorhast, bei uns einzuziehen. Was hast du da alles eingepackt? Deinen ganzen Kleiderschrank?" Seine Augen huschen über den überdimensionalen Koffer und die kleinen Necessaires, die ich darauf gestapelt habe. „Mein Kleiderschrank würde niemals in einen Kofferraum passen", entgegne ich nur seufzend und sehe auf seine – „Du hast nur eine Sporttasche dabei? Dir ist bewusst, dass man mehr als ein Kleidungsstück braucht in den Ferien? Und dass wir Winter haben?" Ephraim lacht schon wieder, als er meinen entgeisterten Gesichtsausdruck sieht. „Zufälligerweise habe ich nicht all meine Sachen hierhergenommen, wenn ich meistens sowieso nur die Schul-Uniform trage. Einmal abgesehen davon, dass ich nicht vorhabe, einen Monat dort zu verbringen, so wie es bei dir der Fall zu sein scheint."
„Ich brauche eben eine Auswahl", sage ich in einem scharfen Tonfall. Ich möchte mich nach seiner Tasche bücken, aber Ephraim schiebt mich sanft zur Seite. „Nicht mit deiner kaputten Schulter, Tinkerbell", ermahnt er mich und stopft das Gepäckstück in den winzigen Raum, der noch verfügbar ist. Ich verkneife mir den Kommentar, dass ich auch die anderen Gepäckstücke in den Kofferraum geräumt habe. Natürlich hat er recht damit, dass das nicht gut für meine Schultern ist, denn ich spüre das Stechen davon noch immer. „Passt perfekt." Zufrieden mit sich selbst schließt er den Kofferraum. „Möchtest du fahren oder soll ich?", fragt er, als er schon wieder von mir stehen bleibt und schon wieder nur einen Schritt von mir entfernt ist, sodass ich die Sanftheit in seinen Augen erkennen kann. Aber da ist auch etwas, was ich sonst nicht sehe – Vorfreude. Ich frage mich, wie lange Ephraim seine Familie schon nicht mehr gesehen hat und wie sehr er sie wohl vermisst. Ich frage mich, wie sich das wohl anfühlt, wenn man die eigene Familie vermisst, gleichzeitig presse ich aber auch die Lippen zusammen. Natürlich weiß ich, wie sich das anfühlt. So geht es mir mit Mathilda nämlich an jedem einzelnen Tag. „Ich fahre", sage ich. Denn dann kann ich mich auf etwas anderes konzentrieren als auf diesen Schmerz in mir. Violet und Henry leiden bestimmt massiv unter ihrem Tod. Ich kann mir nicht vorstellen, wie schlimm diese ganze Sache für die beiden sein muss.
„In deiner Tür hat es übrigens noch ein paar Snacks für die Reise", informiere ich Ephraim, während er sich eine der CDs aussucht, die ich aus meinem Regal in das brandneue Auto gepackt habe, damit es hier drin wenigstens ein bisschen nach mir aussieht. Er legt eine alte CD ein, die kein Cover besitzt und somit die eine von denen ist, die ich selbst gebrannt habe. Helenas sonnige Momente steht darauf. „Snacks? Ich wusste nicht, dass ich es mit einer fünf-Sterne-Autofahrt zu tun habe. Wenn du mich weiterhin so gut behandelst, werde ich vermutlich nie mehr aussteigen." Vielleicht will ich das auch gar nicht. „Freu dich nicht zu früh-...", beginne ich, doch er klatscht schon begeistert die Hände zusammen, während er sich einen Apfelsaft und M&Ms aus der Tür holt. „Das ist mit Abstand der beste Tag meines Lebens", verkündet er und diesmal kann ich nicht anders, als leise zu lachen, während einer meiner Lieblingssongs zu spielen beginnt. Ephraim besitzt sogar den Anstand, mich ebenfalls mit M&Ms zu füttern, damit ich mich auf die Straße konzentrieren kann und meine Hände nicht ständig in der Packung haben muss.
„Erzähl mir etwas über deine Familie", sage ich irgendwann, zwischen einem Haufen Gekicher und Gelächter, während Ephraim versucht hat die Lieder mitzusingen, die mein Leben positiv geprägt haben – wobei versucht das Schlüsselwort ist. Spätestens jetzt weiß ich, dass er kein guter Sänger ist. Nicht, dass mir das etwas ausmacht. Es war eher süß, ihm dabei zuzusehen. „Über meine Familie? Ich bin mir nicht sicher, was ich dir erzählen soll. Ich habe dir bereits gesagt, dass da nur meine Eltern, meine Schwester Maisie und ich sind. Ich meine, du wirst sehen, wie wir sind, wenn du da bist." Er zuckt mit den Schultern und ich rolle mit den Augen. „Ja, aber ich meine, ich muss mich darauf einstellen. Erzähl mir etwas darüber, wer diese Menschen wirklich sind, nicht nur, was für eine Rolle sie in deinem Leben spielen. Sag mir, was wichtig ist, damit ich nicht in irgendwelche Fettnäpfchen trete, nur weil du mich nicht vorwarnen wolltest."
Ephraim seufzt und ich muss meine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht zu ihm zu sehen, sondern die Augen auf der Straße zu behalten. Ich spüre noch immer dieselbe Panik in mir, wie beim letzten Mal, als ich hinter dem Steuer gesessen bin, aber mittlerweile kann ich wenigstens wieder richtig atmen und ich denke, dass es gut ist, dass Ephraim bei diesem Neustart bei mir ist. Dann kann ich mich auf etwas anderes konzentrieren als auf meine schwitzigen Finger oder die Erinnerungen, die in den hinteren Winkeln meines Gedächtnisses auf mich warten. „Meine Schwester", beginnt er nach einer Weile schließlich, den Blick auf die Landschaft um uns herum gerichtet. „Sie hat das Down-Syndrom." Überrascht sehe ich ihn an. „Ja?" Ephraim nickt und ein müder Ausdruck legt sich auf sein Gesicht. „Ja. Manchmal ist es deshalb schwierig, mit ihr zu reden." Stille breitet sich zwischen uns aus und ich lasse ihm genug Zeit, seine nächsten Worte zu wählen. Ich bin mir ohnehin nicht sicher, was ich darauf sagen sollte. „Aber sie...sie hat auch noch ein paar andere gesundheitliche Probleme, und deshalb ist sie relativ oft im Krankenhaus. Sie ist vielleicht nur drei Jahre jünger als wir, aber sie verhält sich meistens wie ein Kind. Und sie ist der Überzeugung, dass der Sohn unserer Nachbaren sie liebt, also wird sie dir damit wohl ständig in den Ohren hängen." Ephraim rollt mit den Augen, aber er kann das sanfte und liebevolle Lächeln nicht verstecken, wenn er über seine Schwester spricht.
„Ist es schwierig für dich, dass du das Semester über nicht zu Hause bist, sondern in der Wellington Academy?" Das universitäre Internat ist zwar nur eine dreistündige Autofahrt von ihm zuhause entfernt, aber das bedeutet dennoch, dass er seine Familie vermutlich nicht allzu oft besuchen kann. „Ja." Ich warte darauf, dass er noch mehr sagt, aber er hat nur seine Hände zu Fäusten geballt, vollkommen in seiner eigenen Welt verloren. „Okay, also hat deine Schwester gesundheitliche Probleme und eine Chromosomenstörung. Gibt es irgendetwas, was ich auf gar keinen Fall tun darf, wenn ich möchte, dass sie mich mag?" Ephraims Augen finden meine, und da ist so viel Hitze in seinem Blick, dass ich kaum mehr atmen kann. „Du darfst dich nicht verstellen, denn du bist absolut liebenswert, Helena." Und für einen Moment glaube ich, dass ich sterbe. Denn von allen Beleidigungen, welche ich jemals aus seinem Mund gehört habe, hat mir keine den Atem so sehr geraubt wie dieser wunderschöne Satz. Ich denke nicht, dass mein Herz jemals so schnell geschlagen hat. Meine Hände umklammern das Lenkrad fester, während sich der Gummi in meine Finger gräbt. „Mom und Dad werden sich freuen, endlich mal jemanden von der Wellington Academy kennenzulernen. Aber vielleicht solltest du dich vor meinen Eltern ein wenig in Acht nehmen, weil sie dich wahrscheinlich umschwärmen werden und du das Haus danach nie wieder verlassen kannst, weil sie dich nicht wieder aus den Augen lassen würden."
Ephraims Stimme klingt warm, aber dennoch ein wenig irritiert. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass mich das nicht stört. Ich hätte nichts dagegen, wenn sich jemand tatsächlich einmal für mich und das, was ich tue, interessiert. Es wäre schön, wenn ich in einem zuhause nicht ignoriert werden würde. „Ich denke nicht, dass sie das tun werden, denn sie werden vermutlich zu beschäftigt damit sein, dich zu umschwärmen, Thornbury. Wie lange warst du nicht mehr zuhause?" Sein sanftes Lachen lässt die Schmetterlinge in meinem Bauch schweben. „Eine Weile, wenn ich ehrlich bin. In letzter Zeit hatte ich immer etwas um die Ohren." Sein Seufzer ist schwer und ich frage mich, was dahintersteckt, aber Ephraim spricht schon weiter, ehe ich die Gelegenheit kriege, ihn danach zu fragen. „Aber Dad sehe ich öfter, weil er in der Stadt bei uns arbeitet. Naja, zumindest, wenn er dort gebraucht wird. Das Unternehmen, in welchem er arbeitet, hat mehrere Standorte und in letzter Zeit ist er näher bei mir." „Freut dich das nicht?", will ich wissen. Von dem, was ich bisher gehört habe, liebt er seine Familie sehr. Das müsste schon ausschlaggebend genug sein, dass er unendlich erleichtert ist, dass er seinen Vater öfter sehen kann. „In manchen Hinsichten, ja, in anderen eher nicht."
Ephraim dreht die Musik lauter und ich verstehe den Wink. Er möchte nicht darüber reden. Über dieses Gefühl könnte ich ganze Seiten vollschreiben, denn ich verstehe, wie sich das anfühlt. Selbst nach all den Therapiestunden, die ich durchsitzen musste und die mir nur teilweise geholfen haben, ist es schwierig für mich, anderen Menschen mein Herz zu eröffnen. Wenn er es mir erzählen will, wird er das schon irgendwann tun, davon bin ich fest überzeugt. Also lasse ich ihn schweigen und summe stattdessen die bekannten Melodien mit, während ich uns zu seiner Kindheit und seinem zuhause fahre.
Spürt ihr das? Helenas Weihnachten kommt endlichhhh näher 🤭
Was halten wir von Ephraims Reaktion zu Helenas Haarschnitt?
Ich möchte mir für den Sommer eigentlich auch Curtain Bangs schneiden, aber ich habe sooo Angst, dass es nicht gut aussieht und deswegen schiebe ich das jetzt schon monatelang auf 🥲
Stay tuned, Kapitel Nr. 2 für heute sollte bald kommen 😌
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