Kapitel 33
„So langsam glaube ich, dass du einen schwachen Kreislauf hast, Helena." Ich sehe in das Gesicht von Doktor Patrick O'Donelly, als sich meine Augen öffnen. „Und dass dein Prinz in goldener Rüstung nie den Moment verpasst, um dich herzubringen." Er wirft mir ein sanftes, aber mitleidiges Lächeln zu. Ich reibe mir die Stirn, um meine Kopfschmerzen zu vertreiben. Gott, ich muss dringend damit aufhören, das Bewusstsein zu verlieren. Bevor noch jemand meine Mutter informiert und sie das Gefühl hat, dass sie sich einmischen soll. Das kann ich nämlich gar nicht gebrauchen. „Wie bitte?", bringe ich hervor. „Oh, tut mir leid, ich wollte dich mit diesem Witz nicht ärgern. Aber es ist gut, dass du wach bist. Denn wenn ich das dem Kerl vor der Tür klarmachen kann, verlässt er seinen Posten vielleicht langsam und sitzt nicht mehr wie ein Obdachloser vor der Türe. In einem Klappstuhl." Patrick verzieht das Gesicht und seufzt, während ich an mit heruntersehe. Ich stecke in einem blauen Krankenstation-Kittel. Mein Gesicht wird heiß. Er hat doch nicht etwa...? Ich zwinge die Gedanken herunter. Das ist sein Job als Arzt. Es ist kein Problem.
„Von wem ist nochmal die Rede?", frage ich schwach. Erst jetzt beginne ich langsam, mich wieder an die Geschehnisse zu erinnern. Daran, dass ich einmal mehr mein Bewusstsein verloren habe. Und das, weil ich meine Schulter derartig malträtiert habe, dass ich von den Schmerzen ausgeknockt wurde. Glatte Leistung. „Ephraim Thornbury", seufzt er. „Seit den beiden Tagen, während welchen du hier warst, hat er mich ständig ausgefragt. Noch schlimmer und penetranter als die letzten beiden Male." Patrick verzieht das Gesicht, während ich versuche, ihm zu folgen. „Er hat sich Sorgen um mich gemacht?", will ich wissen. Ich hasse mich selbst ein wenig dafür, dass mich das so sehr interessiert. Dass ich mir wünsche, dass es die Wahrheit ist. Mittlerweile ist zwischen Ephraim und mir eine Verbindung, die wir nur schwer leugnen können, also kann ich verstehen, wieso er sich darum kümmert, dass es mir gutgeht. Aber damals war das noch nicht so. Damals hat er mich gehasst. Naja, vielleicht hasst er mich noch immer, aber in letzter Zeit scheint es weniger schlimm zu sein.
„Ja, Helena. Das hat er. Zurecht. Deine Schulter sieht nicht gut aus." Ein ernster Ausdruck legt sich über sein Gesicht und ich wende meinen Blick verlegen ab. Ich weiß, dass er mir jetzt das Schwimmen verbieten wird. Und ich weiß auch, dass es zu hundert Prozent meine Schuld ist. Dass ich das alles hätte vermeiden können, wenn ich meine Grenzen nicht ignoriert hätte. Wenn ich meine Schmerzen nicht ignoriert hätte. Ich atme tief durch und schließe die Augen. „Ich denke, dass du weißt, was ich dir jetzt gleich sagen werde." Patrick legt eine Pause ein und ich bringe es über mich zu nicken. „Du wirst für eine ganze Weile mit belastenden Sportarten aufhören müssen. Dazu zählt auch das Fechten. Ephraim hat mir auch gesagt, dass du oft schwimmst und das vielleicht zu dieser...Situation geführt hat." Wieder nicke ich. Diesmal muss ich mir auf die Lippen beißen, um die Tränen zurückzuhalten. Schon vor Jahren hat sich dasselbe ereignet. Mir ist klar, wie das hier abläuft. Aber es ändert nichts daran, dass mein Herz blutet. „Mindestens für einen Monat. Danach können wir wieder eine Kontrolle machen, aber deine Muskeln sind beinahe gerissen. So schnell dürfen wir nichts riskieren."
Ich balle meine Hände zu Fäusten, während sich meine Nägel schmerzhaft in meine Haut bohren. Das alles war zu erwarten. Ich wusste, dass ich mir selbst schade. Es war mir egal und dafür werde ich jetzt den Preis zahlen. „Okay", bringe ich hervor, auch wenn nichts an dieser Situation auch nur ansatzweise okay ist. Patrick nickt langsam, als ich in seine Richtung blicke, dann räuspert er sich. „Ich werde dir ein Zeugnis ausstellen und dort genau auflisten, was du tun darfst. Außerdem werde ich dir eine Empfehlung für eine Physiotherapeutin mitgeben. Deine Muskeln sind jetzt entzündet, weshalb du selbst keine Übungen machen solltest, aber eine Physiotherapie und Massagen werden ausschlaggebend sein." Patrick listet noch mehr Dinge auf und verschreibt mir Medikamente, die zum einen gegen die Entzündung wirken und zum anderen meine Schmerzen reduzieren sollten.
„Wenn du bereit bist, kann ich jetzt deinen Besucher endlich reinkommen lassen", beendet er seine Rede. Ich bin mir nicht sicher, ob ich tatsächlich mit Ephraim reden will, aber noch weniger möchte ich Patrick erklären, dass er ihn nicht reinlassen soll. „Okay", wiederhole ich also und zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen. Ephraim wird sich vermutlich ohnehin nur versichern, dass ich noch lebe und dann verschwinden, weil er darin ein wahrer Meister ist. Ich rede mir ein, dass mich das nicht stört, weil es mir dann egal sein kann, was er von mir denkt. Es kann mir egal sein, was er tut und wie er mich behandelt.
„Ich lasse euch dann mal allein und geh mir einen Kaffee holen", informiert uns Patrick, als Ephraim den Raum betritt. Er stellt seinen Klappstuhl neben die Tür und ich verziehe das Gesicht, als ich die rostigen Stangen und den zerfledderten Stoff erkenne. Der Arzt schließt die Tür hinter sich, als er den Raum verlässt und Stille breitet sich zwischen uns aus. Ich mustere Ephraim. Wie er die Augenbrauen nachdenklich kräuselt, während er mich ansieht, wie er sich mit den Händen durch seine unordentlichen Haare fährt, die ihm in die Stirn fallen. Wie er auf seiner Lippe kaut und tief schluckt, während er zu begreifen versucht, was um ihn herum los ist. Er kommt näher zu der Krankenliege, auf der ich mich mittlerweile aufgesetzt habe.
„Wie geht es dir?", fragt er mit rauer Stimme. Seine Augen wandern über mein Gesicht, sodass es mich unglaublich viel Kraft kostet, den Blick nicht abzuwenden. „Gut", lüge ich. Dann starre ich auf die Falten in seinem zerknitterten Hemd. Es ist merkwürdig, dass er hier ist. Dass er sich tatsächlich um mich gekümmert hat. „Du hast mir Angst eingejagt", gesteht Ephraim schließlich, statt auf meine Lüge einzugehen. Uns ist beiden bewusst, dass er mich problemlos durchschauen kann und ich bin überrascht, dass er nicht darauf eingeht. „Wieso?" Ich suche seine ebenholzfarbigen Augen. „Weil du zusammengebrochen bist, Helena. Schon wieder. Direkt vor meinen Augen. Ich dachte, dass ich schuld an deinem Leid bin."
„Du bist ständig schuld an meinem Leid", sage ich schärfer als beabsichtigt. Ephraim scheint zu vergessen, wer wir sind. Er scheint zu vergessen, dass er mich hasst. Mir ist schon längst aufgefallen, dass ich ihm gegenüber nicht mehr so empfinde, aber er hält mich immer wieder auf Distanz, was die Lage zum einen einfacher macht, zum anderen aber auch erschwert. Manchmal weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Manchmal fühle ich mich, als würde ich ertrinken...und dann ist er da. Ihm ist es gar nicht bewusst, aber seine Beständigkeit war für mich so oft ein Anker. Er ist immer für mich da gewesen. Auch wenn er mich vielleicht nie getröstet hat, haben seine Sticheleien oft dazu geführt, dass ich stark geblieben bin. Dass ich mich zusammengerissen habe. Und jetzt sieht er mich an, und ich habe das Gefühl, dass mein Herz stillsteht.
„Nicht absichtlich. Zumindest nicht mehr. Die letzte Zeit war...schwierig. Für uns beide." Er schenkt mir ein schwaches Lächeln. Er sieht so traurig aus, dass ich kaum atmen kann. Denn zum ersten Mal in seinem Leben lässt Ephraim mich hinter seine dicken Mauern blicken. Er offenbart mir seine Seele. Er sieht nicht mehr so unberührbar und kalt aus, sondern wie weiche Butter, die zerrinnt. Seine Augen haften sich auf den Boden und ich warte darauf, dass er weiterspricht, aber er scheint sich in seinen Gedanken zu verlieren. Ich frage mich, was ihn beschäftigt. Was ihn in der letzten Zeit derartig verunsichert hat. Seine Komposition ist vollkommen auseinandergefallen.
„Auf jeden Fall möchte ich mich entschuldigen. Es tut mir leid, was ich alles zu dir gesagt habe. Du hast mir geholfen und ich war so wütend, weil du die ganze Schuld auf dich genommen hast. Und dann war ich wütend, weil du dafür keine Konsequenzen erlebt hast, weil diese Welt so verdammt unfair ist. Ich schätze, dass es manchmal schwierig ist, meine Vorurteile zu vergessen, wenn mir solche Ungerechtigkeiten unter die Nase gerieben werden. Aber das entschuldigt mein Verhalten nicht. Ich habe dich verletzt, weil ich nicht mehr aufmerksam genug gewesen bin, um deinen Schmerz zu bemerken und im richtigen Moment aufzuhören. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm die letzten Tage für mich gewesen sind." Er lacht leise, aber auch das hört sich traurig an. Ephraim sieht auf seine Hände. „Wieso? Ich hätte mich ohnehin verletzt. Das hättest du nicht verhindern können." Denn genau so habe ich mich verhalten. Vollkommen irrational, ständig darauf bedacht, meine Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen und auf diese Art Ordnung zu schaffen, obwohl ich nur noch mehr Chaos angerichtet habe.
„Du kapierst es einfach nicht, oder?" Ephraim hebt den Blick und durchbohrt mich mit seinen Augen. Er sieht mich an, als würde ich gar nichts verstehen, und vielleicht hat er sogar recht damit. Denn ich verstehe im Moment überhaupt nicht, was vor sich geht. „Du bist mir wichtig, Helena. Schon die ganze Zeit versuche ich dir zu helfen und dir unter die Arme zu greifen und mittlerweile habe ich keine Ahnung mehr, wie ich dir das sonst noch klar machen soll." Ephraim fährt sich verzweifelt durch die Haare, während ich vergesse, wie man atmet. Klar, da ist überall Luft, aber ich kann mich gar nicht mehr darauf fokussieren, denn ich sehe nur noch ihn. „Ich dachte, dass du mich hasst", bringe ich überrascht hervor. Denn das hat er mir die ganze Zeit über vermittelt. So ist das schon immer zwischen uns gewesen und es macht keinen Sinn, dass er jetzt plötzlich etwas anderes sagt.
„Wie könnte ich dich jemals hassen?", fragt er niedergeschlagen und seufzt. Er meidet meinen Blick, vermutlich, weil ich so nicht sehen kann, was in ihm vorgeht. Was er denkt und fühlt, denn das ist alles, was ich in diesem Moment wissen will. Ich dachte die ganze Zeit über, dass das zwischen Ephraim und mir eine einseitige Sache ist, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich kann nicht leugnen, dass ich mich zu ihm hingezogen fühle, aber ich hätte niemals erwartet, dass er mich auch leiden kann. Wir beide verfallen in Schweigen. „Danke, dass du mir hergebracht hast", wechsle ich dann das Thema, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Ich schätze, dass diese Sprachlosigkeit das Ergebnis unserer gewöhnlichen Gespräche ist. Ich bin es mir so gewohnt, gewisse Themen zu umgehen, wenn es kritisch wird, dass ich manchmal gar keinen anderen Weg kenne. Ephraim und ich haben das schon immer so gemacht. Wir beginnen, von etwas anderem zu sprechen, wenn wir nicht weiterwissen. Vielleicht reden wir deshalb so selten richtig miteinander. Vielleicht weiß ich deshalb nur so wenig über ihn, obwohl ich eigentlich oft mit ihm spreche und ihn schon seit Ewigkeiten kenne.
„Gern geschehen. Aber ich denke nicht, dass das so weitergehen kann. Das ist schon das dritte Mal, dass ich das tun musste, Helena. Es wäre vielleicht an der Zeit an den Dingen zu arbeiten, die dich an diesen Ort bringen. Denn vielleicht kann ich dir beim nächsten Mal nicht helfen, einfach weil ich nicht in Reichweite bin. Und wer kümmert sich dann um dich?" Ephraim klingt so besorgt, dass sich mein Herz ein wenig zusammenzieht. Er hat absolut Recht. Seit Monaten gerät meine Welt immer weiter aus den Fugen und ich kämpfe immer stärker um die Kontrolle in meinem Leben. Nur bin ich mir verdammt unsicher, wie ich sie zurückerlangen soll. Ich schweige und Ephraim seufzt. Dann fährt er sich durch die Haare und mustert mich ausgiebig. Seine Augen saugen sich an meiner Existenz fest und mein Herz rutscht mir in die Hose. Ich liebe es, wenn er mich so ansieht. Wenn er nicht nur das reiche, verwöhnte Mädchen sieht, sondern mich, wie ich wirklich bin. Als könnte er durch mich hindurchblicken und mein Herz wie eine Zwiebel Schale um Schale entblößen.
„Ich komme morgen wieder", informiert er mich schließlich. „Jetzt kannst du dich erholen, morgen können wir uns dann unterhalten. Und dann kann ich dir helfen, wenn ich dich schon nicht dazu bewegen kann, mit dieser Suche aufzuhören. Das bin ich dir schuldig, nachdem du mich in Schutz genommen hast." Ein Lächeln bricht von meinen Lippen und ich sehe ihn dankbar an. Dieser Fall ist ein bisschen wie ein gemeinsamer Tanz. Ich denke, dass wir – und vor allem ich – ihn ständig abbrechen wollten, weil wir Angst haben, dass wir zu gut miteinander funktionierten. Aber wir können uns auch nicht voneinander fernhalten, also landen wir ständig am selben Ort. Vielleicht werden wir irgendwann lernen, uns dem Tanz hinzugeben. Und vielleicht wäre das die schönste Sache, die mein Leben dann noch zu bieten hätte.
Ich kann es selbst kaum glauben, aber das hier ist tatsächlich mal ein netter Cut 😌🤭
Gefällt euch das Kapitel?
Vermutungen, was als nächstes geschehen wird?
Wir lesen uns bald wieder, ciao Kakao 🫶🏻
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