Kapitel 28
Ich kühle mir meine Schulter mit einem Eisbeutel, weil ich in der Illusion lebe, dass ich all meine Gedanken wegschwimmen kann und dabei nicht beachte, was für einen Schaden ich währenddessen bei meinen Schultern anrichte. Ich versuche mir einzureden, dass jede Minute, welche ich im Schwimmbecken verbringe, Ephraims Berührungen wegwäscht. Ich rede mir so viele Dinge ein, nur um jedes Mal aufs Neue merken zu müssen und mich dadurch lächerlich mache. Ephraims Fingerspitzen, seine Lippen verfolgen mich jede Nacht aufs Neue und entfachen in mir ein Feuer, welches ich nicht einmal in einem Ozean ertränken könnte.
„Was ist mit deiner Schulter passiert?", fragt Prudence, welche ins Zimmer kommt. Chadwick trägt ihren Rucksack und stellt ihn neben ihren Schreibtisch, ehe er es sich auf Prudences Bürostuhl bequem macht. Sie selbst schließt die Tür hinter sich und setzt sich auf ihr Bett. „Nichts." Ich lege den Eisbeutel auf meinen Tisch und räuspere mich. Ich habe eine Woche damit vergeudet, Ephraim vergebens aus meinem System bringen zu wollen. Wenn es nicht auf diese Art geht, muss ich mir eben etwas Besseres ausdenken. Und was ist denn bitte besser, als sich so viel Arbeit wie möglich auf die Platte zu laden, beinahe zu verzweifeln, aber wenigstens Fortschritte zu machen? Prudence und Chadwick sind beide auf meiner Liste. Blaire hat mir zwar angeboten, ein paar Menschen für mich auszuhorchen, aber ich sollte das auch allein auf die Reihe kriegen. Außerdem möchte ich nicht, dass sich Blaire in Gefahr bringt. Denn wenn ich auffliege, möchte ich sie nicht mit mir in den Abgrund ziehen. Sie erholt sich langsam von dem, was mein Bruder durch seine Trauer mit ihr gemacht hat, und ich möchte ihre Fortschritte nicht wieder zurücksetzen. Es reicht schon, wenn sie mir dabei hilft, einen guten Plan zu schmieden.
„Das sieht nicht danach aus. Hattest du nicht schon gestern einen Eisbeutel?", hakt Prudence nach. Ich beiße die Zähne zusammen und verfluche mich innerlich. Natürlich hätte ich davon ausgehen könnten, dass ihr so etwas auffällt. Genau genommen ist das schon der dritte Tag, an welchem ich mir einen Eisbeutel holen musste, weil kein Maß besitze und die schlechte Angewohnheit habe, Dinge durchzuziehen, auch wenn sie mir schaden. Ich habe schon seit Jahren mit dem Schwimmen aufhören müssen, da ich zu gravierende Schulterprobleme hatte und jetzt wird es vermutlich auf dieselbe Sache auslaufen. „Möglich. Aber weißt du, was ich mich gefragt habe?", lenke ich die Konversation in eine andere Richtung. Prudence ist in der Zwischenzeit ein wenig zu einer Schwester herangewachsen. Ich kümmere mich um sie und sie kümmert sich um mich. Wir sehen uns tagsüber nicht so viel, da wir beide unseren eigenen Gedanken, Aufgaben und Freunden hinterherrennen. Aber am Abend sitzen wir oft zusammen und plaudern vor dem Schlafengehen ein wenig, weil es die Seele leichter macht.
„Nö. Was?" Ich klatsche mir begeistert in die Hände, denn nun kann ich offiziell mit der Befragung beginnen, vor welcher ich mich schon so lange gedrückt habe. Alles oder nichts. Wird schon schiefgehen. „Ist euch bewusst, wie lange ihr euch schon kennt? Ihr habt euch am Besuchstag der Schule schon einmal gesehen", beginne ich das Gespräch. Ich kann kaum fragen, ob sie Mathilda ermordet haben. Dafür brauchte ich etwas Handfesteres, einen Ausrutscher, eine Gegenfrage, bei welcher ich dann in die Gänge kommen kann. „Echt? Du warst beim Besuchstag? Wieso?", will Chadwick von Prudence wissen. Es ist wundervoll, wie er die Fragen für mich stellt. „Ja", nickt Prudence. „Meine Eltern haben sich nach einer Privat-Uni angesehen, denn mir wurde für verschiedene ein Stipendium in Aussicht gestellt. Wenn die Dinge planmäßig verlaufen wären, hätte ich erst im Frühjahr mit dem Studium begonnen." Im Frühjahr? „Das ist ungewöhnlich. Stipendien werden doch nur für den Beginn im Herbst vergeben..." Prudence zuckt mit den Schultern. „Es gab Probleme mit den Zimmern. Ich hätte keinen Schlafplatz gehabt und deshalb musste man ein wenig warten, bis diejenigen, die ein Semester länger studieren, das Feld räumen. Aber das wäre sowieso besser gewesen."
Chadwick runzelt die Stirn und betrachtet seine Freundin fragend, während er die Arme vor der Brust verschränkt. „Hattest du etwa Pläne, Prinzessin?", fragt er in einem neckenden Ton. Ein spielerischer Gesichtsausdruck legt sich über sein Gesicht und die beiden sehen so verliebt aus, dass mir davon beinahe schlecht wird. Meine Zimmergenossin scheint mein Unwohlsein zu bemerken und räuspert sich. Sie hat die...Situation, in welche sie und Chadwick gestolpert sind, mit keinem Wort erwähnt, aber mir ist bewusst, dass sie nur auf den richtigen Zeitpunkt wartet. Sie wartet auf einen Moment, in welchem sie das Gesehene in eine Konversation einbinden kann, aber ich bin Expertin darin, Gespräche in einer bestimmten Richtung, die mir am besten passt, zu behalten. Deswegen funktioniert dieses hier auch so gut wie ich es gerne hätte. „Ich hätte etwas länger gearbeitet. Meine Mom musste für die Kosten des Altersheims meiner Großmutter aufkommen und das hat uns finanziell ein wenig ruiniert. Sie arbeitet viel und macht auch unendlich viel zuhause, also dachte ich mir, dass ich ihr gerne unter die Arme greifen würde, wenn ich ohnehin Zeit dafür habe. Manchmal merke ich, wie traurig sie ist, und dass ihr alles zu viel wird."
Prudence schluckt schwer und Chadwick setzt sich zu ihr aufs Bett, um seine Hand beruhigend auf ihre zu legen. Sie wirft ihm ein dankbares Lächeln zu, ehe sie weiterspricht. „Jedenfalls hätte ich die Zeit gut dafür brauchen können, aber dann kam die Meldung, dass...ein Platz im Wohnbereich freigeworden ist. Und zu solchen Möglichkeiten kann man nicht Nein sagen, denn die bieten sich nur einmal im Leben an. Auch wenn es mir ein wenig das Herz bricht, dass ich nicht für meine Mom da sein kann." Prudence sieht so traurig aus, dass ich es für einige Momente nicht ertrage, sie anzusehen. Ich frage mich, wie es wohl sein muss, wenn man ein derartig enges Verhältnis zu seinen Eltern hat. Wenn man nicht ständig versucht, ihnen zu entfliehen oder aus dem Weg zu gehen. Prudence hat die Geschichte mit so viel Liebe erzählt, dass ich mich frage, ob es jemals einen Menschen geben wird, mit welchem ich eine derartig gute Beziehung haben werde. Aber noch viel schlimmer ist der Fakt, dass ich all ihre finanziellen Probleme mit einem Fingerschnippen lösen könnte, wenn ich es nur wollte. Am liebsten würde ich ihr das auch sagen, aber dann fühlt sie sich vielleicht gedemütigt und das möchte ich nicht. Ich stelle lieber jemanden an, der mir herausfinden kann, auf welches Konto ich wieviel Geld überweisen muss.
„Wie kommst du überhaupt darauf, dass ich beim Besuchstag hier war? Haben wir uns unterhalten?", kommt Prudence auf meine Ursprungsfrage zurück und löst uns somit von der ernsten Stimmung, welche uns umgibt. Ich atme beinahe erleichtert auf, aber schaffe es gerade noch im letzten Moment, mich davon abzuhalten. „Nein, ich habe letztens ein Bild gesehen...ich denke, dass es sogar auf der Web-Plattform der Schule war. Da werden immer Bilder von den Besuchstagen heraufgeladen." Chadwick rollt mit den Augen und wirft mir ein spielerisches Grinsen zu. „Prinz Charming war gar nicht beim Kochen dabei, Helena. Da hast du auf den falschen Bildern nach ihm gesucht." Prudence bedeutet ihm mit einem Blick, still zu sein und mich damit in Ruhe zu lassen, aber ich lasse mich nicht beirren. „Mathilda war auf den Bildern", stelle ich klar. Ich habe noch nie gesehen, dass jemand von so schnell von spielerisch zu todernst wechseln kann, wie Chadwick es in diesem Moment tut. „Mann, Helena, das tut mir echt leid...", beginnt er, doch ich zucke lediglich mit meinen schmerzenden Schultern.
„Es ist nicht deine Schuld. Außer vielleicht, wenn du versucht hättest, sie zu vergiften oder zu ermorden oder so", sage ich gespielt locker. Und dann beobachte ich. Die Stille im Zimmer ist beinahe zum Zerreißen, aber das Ergebnis ist anders als erwartet. Denn Chadwick sieht so aus, als hätte er noch nie zuvor so viel Mitleid mit jemandem gehabt, während Prudence aussieht, als hätte ich ihr persönlich das Herz gebrochen. „Oh, Helena", bringt Chadwick nur hervor. „Selbst wir, die zu ihrer Feindesgruppe gehört haben, haben sie immer bewundert, weißt du? Ich bin mir nicht sicher, was dich zu dieser Hypothese bringt, aber ich kann dir versprechen, dass ich nichts mit Mathildas Tod am Hut hätte. Ich hätte sie niemals dazu gebracht, sich selbst umzubringen oder was auch immer du vermutest."
„Wie kommst du darauf, dass ich etwas vermute?", frage ich gespielt unschuldig. Chad ist definitiv raffinierter als ich es ihm auf den ersten Blick zugetraut hätte. „Du tickst genau gleich wie Ephraim. Deshalb war es auch so einfach für euch, die jeweils andere Person zu sabotieren. Und ich kenne diesen Kerl, glaub mir. Er schneidet auch kein Thema an, ohne dass er genau weiß, was er daraus ziehen kann. Es kommt selten vor, dass man Dinge so genau und so scharfsinnig beobachtet, wie er es tut. Oder wie du es tust. Und wenn du die Dinge so darstellst, dass man ihnen nur widersprechen kann, dann weiß ich, dass du ein Ja oder ein Nein von mir hören möchtest. Das ist keine Kunst, das ist gesunder Menschenverstand." Prudence sieht ein wenig verwirrt aus, denn obwohl sie mich seit beinahe zwei Monaten kennt, hat sie keine Ahnung, wie Ephraim tickt, wenn er sich in seinem Element verliert. Und sie weiß nicht, wie jemand von uns beiden tickt, wenn wir etwas wollen. Ich bin eher beeindruckt davon, wie schnell Chadwick die Sache durchschaut hat. Er könnte glatt selbst als Beobachter durchgehen.
„Ich nehme an, dass du mir damit sagst, dass du nichts Genaueres darüber sagen kannst? Hast du irgendetwas gesehen? Hat irgendjemand an ihrem Essen etwas gepfuscht oder sich bei ihr eingemischt?", frage ich Chadwick also direkt. Es macht keinen Sinn mehr, mich hinter harmlosen Fragen zu verstecken, wenn diese Variante der Befragung so viel effektiver ist. Die beiden haben mich ohnehin schon durchschaut. Zu meiner Enttäuschung schüttelt Chadwick allerdings nur mit dem Kopf. „Nicht das ich wüsste, nein. Aber alles war so hektisch, da hätte man theoretisch irgendetwas machen können und niemand hätte es bemerkt. Es war auch für mich unendlich stressig dort zu sein, weil die Zusehenden überall im Weg gestanden sind und dadurch alles viel länger und unübersichtlicher gewesen ist. Aber ich denke, dass Henry sicher bei ihr gewesen ist."
Ich nicke langsam. Ich ändere meine Liste der Verdächtigten mental.
1. Cecilia Richford
2. Millicent Remington
3. Tristan Remington
4. Patricia Mclean
5. Ayana Corbett
6. Deon Faulkner
7. Henry Windsor
An Cecilia, Millicent und Tristan komme ich eher schwer ran, also werde ich diese in meiner Liste überspringen und mir zuerst die übrigen vorknöpfen müssen. Vielleicht beginne ich am besten sogar mit Mathildas Vater, Henry, denn an ihn komme ich am einfachsten ran. Auch wenn ich die Befürchtung habe, dass er sich genau wie auch mein Bruder durch die Ereignisse stark verändert hat. Es könnte schwierig werden, eine produktive Konversation mit diesem Kerl zu führen. Leider. Ich könnte höchstens versuchen, Violet darüber auszuquetschen, aber das kann ich telefonisch nicht machen und ich werde so schnell auch nicht den Mut aufkratzen, allein hinzufahren, wenn ich ein neues Auto kriege oder mein altes wieder zurück zu mir gebracht wird. Ich werde Blaire darüber ausquetschen, ob sie etwas genaueres weiß, denn sie ist die beste Quelle, die ich habe. Ich möchte sie zwar nicht einmischen, aber ich kann mich von ihr beraten lassen. Das würde mir nämlich schon massiv helfen.
„Wieso genau suchst du nach diesen Informationen?", bringt Chadwick mich aus meinen Gedanken. Ich werfe ihm einen langen Blick zu, ehe ich zu einer Antwort durchdringe. „Mathilda war immer für mich da. Und ich werde nicht zulassen, dass man ihren Namen so durch den Dreck zieht. Das hat sie nicht verdient." Vielleicht ist es nicht klug, ihm das zu sagen, denn theoretisch hätte er mich auch nach Strich und Faden belügen können, aber ich beschließe, ihm fürs erste zu vertrauen. Es mag blöd klingen, aber ich vertraue meinem Bauchgefühl in Bezug auf Chadwick. Er scheint vorerst keine Gefahr zu sein und dasselbe gilt für Prudence. Besonders, nachdem ich ihre Geschichte gehört habe.
Hat Helenas Bauchgefühl wohl recht?
Was glaubt ihr, wer hinter dem Mord an Mathilda steckt 🤔?
Ist ein eher ruhiges Kapitel, aber bald kommen wieder ereignisreichere, so viel kann ich versprechen 🤭🤭
Habt eine schöne Woche & bis bald 💓
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