Kapitel 21
Der nächste Brief, welcher mich erreicht, ist noch schlimmer als die vorherigen drei Briefe, welche ich in meiner Schublade versteckt habe. Dafür muss ich den Briefumschlag nicht einmal öffnen, die Briefmarke mit dem Schwarz-Weiß-Bild meiner Mutter darauf deutet schon auf alles hin, was ich wissen muss. Es sind mittlerweile zwei Wochen vergangen, während welchen ich es nicht gewagt habe, an Mathilda und die Geschehnisse in Bezug auf ihren Tod zu denken. Zwei Wochen, während welchen ich nicht mit Blaire, Wes oder Aidan gesprochen habe. Wenn ich nicht das dritte Rad am Wagen bei Prudences und Chadwicks Mahlzeiten gespielt hätte, wäre ich allein gewesen. Manchmal frage ich mich, ob das mein Weg im Leben ist. Ich fühle mich schon allein, seit Dad und Wes aus unserem Haus gezogen sind, als ich noch acht Jahre alt war. Es fühlt sich schrecklich an, aber irgendwie führt jeder Weg bei mir zu diesem Ende.
Und jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch, während mich eine Weihnachtseinladung erwartet. Ich sollte dankbar sein, Weihnachten mit meiner Familie und einigen Freunden verbringen zu können. Aber tatsächlich fühlt sich alles wie ein Albtraum an, aus welchem ich nicht aufwachen kann. Vor allem, wenn ich dort bin. Ich gehe schon seit Jahren nicht mehr zu den Weihnachtsfeiern meiner Mutter, obwohl selbst Wes und Dad sich immer die Mühe machen, dort zu erscheinen. Ich habe Weihnachten mit Mathilda und ihrer Familie gefeiert, weil ich das Haus, in welchem ich aufgewachsen bin, nur noch betrete, wenn es absolut nötig ist. Was glücklicherweise nie der Fall ist, denn meine Mutter hat immer jemanden, welcher sich um ihre Probleme kümmern könnte.
Meine Gedanken schweifen zurück zu Mathildas Eltern. Ich frage mich, was sie diese Weihnachten wohl machen. Vielleicht sollte ich mich wieder bei Violet melden. Sie würde bestimmt gerne wieder einmal mit jemandem sprechen, der nicht zu ihrer Familie gehört. Oder einfach mit jemandem, der nicht Henry ist. Sie liebt ihren Ehemann zwar, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie einsam sie sich fühlen muss. Ich wähle kurzerhand ihre Nummer und lausche dem Klingeln angeregt.
„Helena?", fragt sie überrascht. Früher wäre es normal gewesen, dass ich sie anrufe, denn wir haben ständig miteinander gesprochen, wie wenn sie meine eigene Mutter wäre. Gott, dieses früher tut so weh, denn damit ist die Zeit von vor zwei Monaten gemeint. Ich breche beinahe schon wieder in Tränen aus, weil es mich ein wenig zerfrisst, wie viel in der letzten Zeit aus dem Ruder gelaufen ist. „Oh, Violet", seufze ich und reibe mir über das Gesicht. Wenn ich tatsächlich noch die Kraft hätte, mich nach einem Zusammenbruch aufzuraffen, könnte ich mir vielleicht noch einen erlauben. Aber ich weiß nicht, woher ich diese Kraft nehmen soll, weil mich in letzter Zeit alles auslaugt.
„Ich habe schon lange nichts mehr von dir gehört, Helena." Violet klingt so müde, wie ich mich fühle. Nur schon deshalb weiß ich, dass ich alles richtig gemacht habe, als ich beschlossen habe, mit ihr zu sprechen. Ich genieße es nicht, wenn andere Menschen um mich herum leiden, aber manchmal ist es schön zu wissen, dass man mit dem Schmerz nicht allein ist. Dass es Sachen gibt, welche uns alle beschäftigen und welche für immer eine Spur hinterlassen werden. „Ja. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, ob ich noch das Recht habe, mit dir zu reden." Ich höre, wie Violet scharf die Lufteinzieht, als wäre das beleidigend. „Machst du Witze, Liebes? Du wirst immer das Recht haben, mit mir zu sprechen. Egal was kommt, ich werde für dich da sein. Du bist wie eine zweite Tochter für mich, Helena. Ich konnte dir das in der letzten Zeit vielleicht nicht zeigen, aber so ist es immer gewesen. Himmel, ich vermisse dich in diesem Haus. Es tut so weh, dass ich dich beim letzten Mal mit diesen blöden Kartons gesehen habe und so tun musste, als wären da ihre Sachen drin!"
Violet schnieft und ich halte die Luft an. Hat sie gerade...? „Was meinst du damit? Also, dass die Kartons nicht Mathildas Sachen in ihnen hatten?", hake ich nach. Violet schnieft und atmet dann wieder tief durch, um sich selbst zu beruhigen. „Ich kenne dich doch, Helena. Du hast die Kisten selbst geöffnet, da muss ich nicht so tun, als wären da Mathildas Sachen drin gewesen, wenn sie eigentlich mit anderen Sachen gefüllt waren. Das war doch alles nur ein trauriges Spiel, ein schlimmes Theater! Als müsste man die Wahrheit vor dir verbergen!" Violet spricht gerade so offen, dass ich eine Weile brauche, um mich fassen zu können. Sie klingt so fassungslos und selbstverständlich. Als würde es mich etwas angehen. Und Gott, es tut so gut. Es tut gut, dass mich endlich jemand behandelt, als würde ich dazugehören. Als wäre ich nicht unerwünscht. Es tut so verdammt gut, dass mir mit einem Mal die Luft fehlt, sich meine Lungen im nächsten Moment vor Freude so aufblähen, dass mir Freudentränen in die Augen treten.
„Oh, Violet", wiederhole ich mich. Ihr Name klingt wie eine Erlösung auf meine Lippen und wird ihr damit auch gerecht. Ich habe mir mit diesem Anruf nichts erhofft, aber das hier ist besser als alles, was ich mir jemals hätte wünschen können. „Kannst du mir vielleicht erklären, was du darüber weißt? Ich denke, dass wir uns gegenseitig gut helfen könnten", schlage ich vor. Einige Herzschläge bleibt es still, dann erklingt ein Ja vom anderen Ende der Leitung. „Natürlich, Liebes. Am besten kommst du am Wochenende vorbei und wir sehen uns gemeinsam an, was es Neues gibt, ja? In der Zwischenzeit kannst du mir erzählen, wieso du angerufen hast. Ich kann mir nur vorstellen, wie viel Überwindung dich das gekostet haben muss."
Ich lächle leicht. Violet kennt mich tatsächlich zu gut, wenn sie mich lesen kann, als wäre ich ein offenes Buch, während die meisten Menschen nicht einmal wissen, dass ich einen zweiten Namen habe. „Ich habe mich nur gefragt, was ihr diese Weihnachten macht", bringe ich leise hervor. Die gute Stimmung kippt, aber ich denke ohnehin, dass es sowohl für Violet als auch für mich nur kleine Lichtblicke gibt, bis uns die Trauer wieder einholt. Wenn man jemanden so liebt, dann klammert sich dieser Verlust so fest an einen, wie ein Ertrinkender an einem Rettungsring. Egal wie gerne man ohne auskommen würde, es wird nicht losgelassen. Aber vielleicht ertrinken wir auch nicht, weil wir den Verlust wenigstens anerkennen. Ich nehme an, dass mein Bruder das so schnell nicht schaffen wird. Er versucht, Mathildas Tod zu verdrängen, aber er kann nicht ignorieren, was sie in unseren Herzen hinterlassen hat. Niemand wird das jemals schaffen.
„Oh Helena", bringt Violet tränenerstickt hervor. Sie weiß, warum ich das Haus, in welchem ich aufgewachsen bin, nur ungern betrete. „Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass du Weihnachten bei uns verbringen kannst. Aber bei uns wird es kein Weihnachten geben. Wir werden den Feiertag ohne sie nicht feiern können, egal wie gerne ich es für dich machen würde. Gott, das tut mir so leid für dich, Helena." Sie schluchzt, als wäre meine verkorkste Familie ihre Schuld, als wäre mein Leid ihre Verantwortung. Und ich sterbe innerlich, weil ich dafür gesorgt habe, dass sie sich nur noch schlechter fühlt.
„Ich wollte mich gar nicht aufdrängen, Violet. Ich habe nur die Einladung meiner Mutter erhalten und da musste ich an dich denken und wie schön meine Weihnachten bei euch immer waren. Es war für mich nie selbstverständlich, aber ich habe das Gefühl, dass ich nie realisiert habe, wie unendlich kostbar diese Momente sind." Mathilda und ich hatten unsere gesamte Zukunft im Voraus geplant. Wir wussten, dass wir nach unserem Abschluss zusammen eine kulinarische Reise unternehmen würden, damit ich endlich zu kochen lernen würde. Wir wollten uns für dasselbe Unternehmen bewerben und so lange dort arbeiten, bis wir unser eigenes gründen konnten. Und nun stehe ich da und kann Blumen auf ihr Grab legen, während ich meine Zukunft noch vor mir habe, während sie ihrer beraubt wurde. Und das tut mir noch so viel mehr weh, weil es so dargestellt wird, als wäre das ihre Entscheidung gewesen, als hätte sie das Leben nicht mit ihrem ganzen Herzen und ihrer ganzen Seele geliebt, als hätte sie nichts geplant, als hätte sie sich nicht gewünscht, dass sie die Gelegenheit haben würde, ihren eigenen Weg zu gehen.
„Niemand hätte das realisieren können, Helena. Ich habe meinen Hochzeitsschmuck aufbewahrt, und ich dachte, dass ich sie darin sehen würde. Ich dachte, dass wir uns gemeinsam auf den wichtigsten Tag ihres Lebens vorbereiten würden. Ich weiß gar nicht, welcher eigentlich der wichtigste Tag ihres Lebens war, denn wenn man so jung ist, dann ist beinahe jeder Schritt ein Meilenstein, verstehst du, Helena? Ich kann nichts mehr für sie machen, aber dir steht noch die Welt offen, auch wenn du sie nun vielleicht allein erkunden musst."
Violet sagt das, als würde sie es tatsächlich so meinen. Aber ich frage mich, wie ich mich aus dem Trümmerhaufen lösen soll, welchen mein Leben nun darstellt. Ich frage mich, wie ich das alles überstehen soll. Wie ich meinem Bruder und Blaire gegenübertreten möchte, nachdem ich von ihrem Betrug erfahren habe...mein Atem stockt. Das ist nicht das einzige Drama, welches sich ereignet hat. Ich habe mich die ganze Zeit so aufgeregt, dass ich vergessen habe, was mir Dayna erzählt hat. Beim letzten Kochen, welches Mathilda erlebt hat, waren nicht nur die Kochenden, sondern auch ihre Eltern anwesend. Und anscheinend haben da verschiedene Leute für Drama gesorgt. Blaire, Wes und Mathildas Vater. Ich habe nicht mitbekommen, ob Violet ebenfalls anwesend war, aber wenn ich sie besuchen gehe, wird sie es mir bestimmt erzählen. Und vielleicht finde ich dann eine andere Lösung für Mathildas Tod, statt den verrückten Liebes-Skandal-Plan von Blaire und Wes akzeptieren zu müssen.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich das überhaupt noch möchte. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, einen einfachen Weg zu gehen und mit der Masse mitzuschwimmen, statt etwas Wichtiges erreichen zu wollen. Es passt nicht mehr zu mir, verstehst du? Ich bin mir nicht sicher, wie viel von dieser Welt ich noch sehen kann. Es gibt so viele Dinge, von welchen ich mir wünsche, dass ich sie nie gesehen hätte", gestehe ich. Es fühlt sich so beschämend an, dass ich klinge, wie wenn ich auf einer Selbstmitleidsparty wäre, aber es ist schwierig, einen anderen Gedanken zu fassen.
„Du kannst dir alles für euch beide ansehen, Helena. Du trägst sie in deinem Herzen, das höre ich nur schon daran, wie du sprichst. Von Wes habe ich schon lange nichts mehr gehört, aber du hast die Kartons vorbeigebracht und du rufst mich nun an und du spukst ständig in meinem Kopf herum, weil deine Angst und Verzweiflung nach ihrem Tod dich so empathisch machen, Liebes. Man sieht manchmal erst viel später, welche Menschen die guten sind und welche für jemanden durchs Feuer gehen würden. Aber du...du gehst gerade vermutlich durch die Hölle für mein Mädchen. Das tut mir unendlich leid für dich, aber es beweist deinen Mut und deine Stärke, Helena. Du hast mich schon immer mit deiner inneren Ruhe und deinem Charakter beeindruckt, aber ich habe dich noch nie so sehr geschätzt wie jetzt."
Meine Atmung geht nur noch schwer, weil ich schon wieder kurz davor bin, in Tränen auszubrechen. Violet lässt das klingen, als wäre ich stark und gut, dabei ist in mir nur noch Chaos und Schmerz und ich wünsche mir, dass der Lärm in meinem Herzen endlich aufhört und ich tief durchatmen kann. In der letzten Woche, als ich wieder Schwimmen durfte, habe ich es damit so übertrieben, dass meine Schultern nun so schmerzen, dass mir jede Bewegung wehtut, aber ich kann nicht damit aufhören, mir diesen Schmerz zuzufügen, weil meine Tränen mit dem Wasser verschmelzen und ich dann endlich zeigen kann, was sich hinter meiner schreienden Seele verbirgt, ohne mich dafür schämen zu müssen, dass meine Existenz sich darauf beschränkt hat, dass ich ein Wrack bin, welches mit jedem Schwimmzug weiter in ihrer Trauer ertrinkt.
„Das bedeutet mir viel", sage ich mit zittriger Stimme. „Und ich würde gerne am Wochenende vorbeikommen. Um zu zweit mit dir zu reden, Violet. Ich denke, dass uns das beiden guttun würde." Sie stimmt mir zu und verspricht mir, eine geeignete Uhrzeit für den Samstag zu schicken. Unsere Verabschiedung fällt eher knapp aus, was wahrscheinlich daran liegt, dass wir beide ohnehin schon Schwierigkeiten damit haben, uns von einer Person zu verabschieden, welche für uns die Welt bedeutet hat.
Was halten wir von Violet?
Wie wird das Treffen wohl ablaufen?
Hat euch das Kapitel gefallen?
Ciao Kakao und bis bald 🤎
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