Kapitel 12
Ich schaffe es zu normalen Zeiten zum Frühstück, nachdem ich mich von meinem Zusammenbruch erholt und geduscht habe und erfolgreich von der Krankenstation entlassen wurde. Glücklicherweise habe ich noch niemanden gesehen, zu dem ich mich setzen sollte, sodass ich meine Ruhe habe. Ich mache mich direkt auf den Weg zum Kaffee-Stand.
„Helena!", werde ich von Millicent zurückgehalten. Mir ist bewusst, dass ich eigentlich nicht hören möchte, was sie mir zu sagen hat, aber ich kann mich dennoch nicht davon abbringen, stehen zu bleiben und sie mit hochgezogenen Augenbrauen anzusehen. Chadwick neben ihr verzieht das Gesicht, während Cecilia und Tristan meinen Blick meiden. Ephraim sieht mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an, während er tief schluckt. Seine Augen fahren den Konturen meines Körpers nach und ich frage mich, ob er gesehen hat, was mit mir geschehen ist. Als Mr. O'Donelly mit gesagt hat, dass ich zur Krankenstation getragen wurde, hat er nicht erwähnt, wem ich das zu verdanken habe.
„Du siehst ein wenig blass aus. Geht es dir gut?", will Millicent wissen. Ihre Stimme klingt ungewöhnlich laut, was bedeutet, dass sie die Aufmerksamkeit von allen im Saal Anwesenden auf sich zieht. Sie macht absichtlich eine Show aus mir, während ich zu erschöpft bin, um mich dagegen zu wehren. Ich antworte ihr nicht. „Ich habe gehört, dass du einen Zusammenbruch hattest. Vielleicht wäre es gut, dir an dieser Stelle Hilfe zu holen, weißt du?" Ihr Lachen schneidet durch die Luft, während ihr alle anderen mit Stillschweigen entgegenkommen. Was soll man auf eine solche Aussage auch entgegnen?
„Ich meine, Mathilda hatte dieselben Probleme wie du gestern und es wäre doch schade, wenn ihr dasselbe Ende findet. Also solltest du vielleicht damit beginnen, dich nicht mehr so sehr von ihr runterziehen zu lassen und dir Hilfe holen." Ein entsetztes Raunen geht durch die Menge, aber überraschenderweise bin ich eine von den wenigen, die gar nicht darauf reagiert. Ihr Bruder Tristan sieht aus, als würde er ihr am liebsten das Wort verbieten. Millicent lehnt sich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zurück und ich deute das als mein Zeichen, dass sie mit mir fertig ist. Es gibt viele Dinge, die sie auf so eine Aussage gerne hören würde, aber das wäre Zeitverschwendung gewesen.
Ich habe schon längst mitbekommen, wie grausam Menschen sein können, also gehen ihre Worte durch mich hindurch, während ich mich zurückhalte, vor allen anderen darauf zu reagieren. Millicent ist eine der ignorantesten Frauen, denen ich jemals begegnet bin. Sie hier und jetzt fertigzumachen würde ihre Gehässigkeit nur noch weiter anstacheln.
Also hole ich mir einen Caffè Latte und ein Croissant. Ich gehe an einen freien Tisch und setze mich. Ich verfalle in meine Routine, weil sie das Einzige ist, was mir in meinem traurigen Leben Halt gibt. Ich versuche, nicht zusammenzubrechen, weil ich vermutlich nicht wieder aufstehen werde, wenn ich es jetzt tun würde. Wenigstens hat sich somit die Frage geklärt, ob mich Ephraim zur Krankenstation getragen hat – wenn nicht, hätte Millicent niemals davon erfahren. Ein Schatten wirft sich über mein Frühstück und ich bete, dass die Person, der der Schatten gehört, mich einfach in Ruhe lässt. Aber leider gehen meine Wünsche neustens nicht mehr in Erfüllung und ich muss damit umgehen, dass alles irgendwie schiefläuft.
„Darf ich?", fragt Chadwick. Seine Stimme verschmilzt gut mit der Umgebung, denn mittlerweile haben die Gespräche wieder eingesetzt. Ich entspanne mich ein wenig. „Was willst du?", frage ich zurück. Chad ist mit Millicent befreundet, nicht mit mir. „Es tut mir leid, wie sie dich gerade behandelt hat", sagt er.
Ich unterdrücke ein ironisches Lachen. Menschen sind witzige Wesen. Sie glauben, dass eine Entschuldigung ihre Taten wettmachen könnte, dass ein einfache Worte Wunden zusammennähen könnten. Es ist naiv auch nur anzunehmen, dass eine Entschuldigung das Geringste verändert. Sie deutet nur an, dass man ein Gewissen hat, aber sie hilft niemandem außer der Person, die etwas falsch gemacht hat. Und das Schlimmste dabei ist, dass die meisten Menschen nur lügen, wenn sie sich entschuldigen. Es tut Chad vielleicht leid, aber es hat ihm nicht genug leidgetan, als dass er sie zurechtgewiesen hätte. Er hätte sich in aller Öffentlichkeit niemals gegen Millicent gestellt und das zeigt mir schon, dass er es wieder geschehen lassen würde. Was habe ich also von dieser Entschuldigung? Gar nichts.
„Und wie kann ich dir jetzt helfen?", frage ich. Chads Kiefer mahlt und er setzt sich. Gut für ihn, denn ich hätte ihn bestimmt nicht dazu eingeladen. Genau genommen hätte ich niemanden aus seiner Freundesgruppe dazu eingeladen. Vor allem nicht, nachdem Ephraim meinen kleinen Zusammenbruch weitererzählt hat. Ich kann zwar nicht einordnen, was er Millicent alles in den Mund gelegt hat, aber ihre Worte sind jedenfalls aussagekräftig gewesen. „Es tut mir wirklich leid, Helena. Ich habe ihr gesagt, dass ich mich nicht wieder zu ihnen setzen werde, wenn sie sich dafür nicht bei dir entschuldigt. Es gibt nämlich Grenzen und sie hat definitiv eine überschritten." Ich rolle wieder mit den Augen. Er will einfach nicht, dass Prudence etwas davon mitbekommt und dann ein schlechtes Bild von ihm hat.
„Und wieso kommst du dann zu mir? Es ist nicht meine Angelegenheit, wenn du dich von deiner eigenen Freundesgruppe ausschließt. Das hat nichts mit mir zu tun, Chadwick." Er seufzt und fährt sich durch die Haare, trinkt aber erst ein paar Schlucke seines Tees, ehe er sich die Mühe macht, mir eine Antwort zu geben. „Ich möchte mit Prudence alles richtig machen, Helena. Ich möchte, dass sie sich bei mir wohlfühlt und dass ich sie gut behandeln kann. Ich möchte ihr ein guter Freund sein." Ein guter Freund, ja? Er sieht aus, als wäre er Herz über Kopf in das Mädchen verliebt. Obwohl ich nicht viel mit ihm verbinde, schätze ich zumindest seine Einstellung gegenüber Prudence.
„Vielleicht solltest du ihr zeigen, wer du wirklich bist, Chadwick. Du kannst dich nicht in jemanden verwandeln, mit dem sie gerne zusammen wäre. Selbst wenn du bei Millicents Späßchen heute nicht mitgemacht hast – was ist mit den vergangenen Jahren? Willst du ihr diese verschweigen, bloß weil es sich nicht so schön anhört? Willst du deine Freunde vergessen, nur weil sie nicht bereit sind, sich für Prudence zu verändern? Willst du plötzlich mit mir befreundet sein?" Mir ist bewusst, dass Chad meine schlechte Laune nicht verdient hat, aber es ärgert mich, dass andere immer glauben, sich verstellen zu können, um zu bekommen, was sie haben wollen. Es fühlt sich an, als wäre nichts in dieser Welt mehr echt oder real, weil alles auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet ist und die eigenen Ziele wichtiger sind als sich treu zu bleiben.
„Wäre das so schlimm?", fragt er mit einem traurigen Unterton. Ich habe ihn noch nie so offen erlebt und es führt dazu, dass ich meinen Tonfall vermildere. „Das kannst nur du beantworten, Chadwick. Aber ich rate dir, deinen eigenen Charakter nicht an letzte Stelle zu setzen. Du kannst so nur verlieren, auch wenn du dann vielleicht ihr Herz gewinnst. Wenn sie die Richtige ist, wird sie...naja, deine Freundesgruppe und eure Eskapaden akzeptieren müssen." Ich gebe mir Mühe, beim letzten Satz mein Gesicht nicht zu verziehen und Chad findet das so witzig, dass ein lautes Lachen aus ihm ausbricht. „Danke für den Rat, Helena", bringt er etwas atemlos hervor und ich nicke, verwirrt, dass ich für einen kurzen Moment so gut mit ihm reden konnte.
---
Ephraim wartet vor Prudences und meinem Zimmer, als ich vom Frühstück zurückkehre. Er hat sich an die Wand gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Ich presse die Lippen zusammen und unterdrücke den Drang, ihm meine Meinung zu geigen. Er hätte etwas sparsamer mit Informationen über mich umgehen können. Will sich heute jede einzelne Person aus seinem Grüppchen mit mir unterhalten? Millicent und Chadwick waren schon anstrengend genug. Trotztdem weiche ich ihm nicht aus, sondern bleibe mit verschränkten Armen vor ihm stehen.
„Willst du dich entschuldigen? Chadwick hat das auch schon versucht", informiere ich ihn. Ephraim schweigt einige Sekunden lang, dann reckt er seine Brust durch und fährt sich mit einer Hand durch die Haare. „Nein, ich bin nicht hier, um mich zu entschuldigen." Ich bin mir nicht sicher, ob das bedeutet, dass es ihm nicht leidtut, oder dass er einfach niemals zugeben würde, dass es ihm leidtut.„Aber sie hatte Unrecht und das wissen wir beide."
Ephraim sagt es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass mir ein verächtliches Schnauben im Hals steckenbleibt. Er räuspert sich, ehe ich näher auf seine Worte eingehen kann. „Mittwoch um zwei Uhr nachts vor dem Archiv. Du und ich. Sei pünktlich." Ich blinzle. Ephraim hat uns die Informationen beschaffen sollen, wo Mathildas Sachen sind. Und siehe da, er hat es getan. Allerdings lässt er den Teil weg, während dem wir noch besprechen wollten, ob wir am Ende des Tages tatsächlich miteinander arbeiten wollen. Er nimmt einfach an, dass ich damit einverstanden bin, weil Ephraim genau diese Art von einem selbstverständlichen Arsch ist.
„Wieso? Ich habe es nicht nötig, mich von dir oder deinen Freunden runtermachen zu lassen und dann mit dir zusammenzuarbeiten, als würde mein Leben davon abhängen."
Ephraim schnaubt, denn langsam scheint ihn diese Konversation und mein Zögern, mit ihm zu kooperieren, zu ermüden. „Ich sehe ehrlich nicht ein, was du für ein Problem hast, Birkshire. Ich habe dich gestern in die Krankenstation gebracht und ich habe dir dein kleines Rätsel gelöst, sodass du im Fall Was-ist-mit-meiner-besten-Freundin-geschehen? weiterkommst, aber du kannst es einfach nicht lassen, immer eine Entschuldigung für deinen Egoismus zu suchen. Sei ein wenig dankbarer, Helena. Das ist das letzte Mal, dass ich dich darum gebeten habe. Wenn du am Mittwoch nicht da bist, suchen wir jeweils allein weiter. Wenn du da bist, erleichterst du uns beiden das Leben ein wenig, denn es geht hier nicht um dich oder mich – es geht um Mathilda. Ich mache das alles nicht, um mich mit dir anzufreunden, so wie Chadwick es versucht, um die Finger in Prudences Höschen stecken zu können. Du bist mir genauso egal wie alle anderen hier, wenn du es so genau wissen musst. Ich möchte nur herausfinden, was wirklich mit Mathilda geschehen ist. Und es wäre gut, wenn du auch endlich herausfinden könntest, was deine Prioritäten sind."
Uiuiui...wird Helena wohl dort sein 😬?
Was halten wir bisher von Chadwick?
Oder Ephraim?
Oder Helena?
Gefällt euch die Geschichte bisher?
Laßt gerne eine Meinung da und dann lesen wir uns im nächsten Jahr wieder 🥰
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top