Kapitel 10

Ich platze in das Zimmer von Aidan und Wes, ohne anzuklopfen. Ich habe genau zwanzig Minuten, bis meine nächste Stunde beginnt und ich werde meine Zeit nicht darauf verschwenden zu warten, bis Wes aus seinem Selbstmitleid kriecht. Einmal mehr zwinge ich mich, nicht zu streng mit ihm umzugehen, aber es ist schwierig, meinen Ärger herunterzuschlucken, denn Wesley müsste sich eigentlich auch dafür interessieren, was mit Mathilda geschehen ist. Er müsste endlich aufhören, so blind zu sein.

„Oh Gott, Helena!", werde ich von Aidan begrüßt. Er springt von seinem Bett auf und sieht mit panischen Augen zu Wes, was mich stocken lässt. Was habe ich verpasst? „Weißt du denn nicht, wie man anklopft?", fragt mein Bruder säuerlich und ich kneife meine Augen zusammen.

Noch bevor ich zu einer Antwort ansetzen kann, schwingt die Badezimmertür auf und Blaire kommt heraus. „Was ist das für ein Krach hier drin?", will sie überrumpelt wissen. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und ihr Mund formt ein O, als sie mich entdeckt. Ich kann nur blinzeln, während ich versuche, die Fassung nicht zu verlieren. Was zum Teufel treiben die drei, dass sie sich so verdächtig verhalten? Bei was habe ich sie erwischt?

„Was ist hier los?", bringe ich hervor, während sich meine Innereien verkrampfen. Aidan, Wes und Blaire sind meine drei besten Freunde, die mir noch geblieben sind, und es tut so unendlich weh, dass ich mich von einer Sekunde auf die nächste ausgeschlossen fühle, obwohl es gar keinen Unterschied machen sollte. Es ist ihnen schließlich erlaubt, sich ohne mich aufzuhalten, aber wieso wirkt es so, als würden sie etwas verstecken wollen? „Du kannst nicht klopfen, das ist los", zischt Wes. Er sieht so zornig aus, dass er mich für einige Sekunden in eine andere Zeit katapultiert. Ich hasse es, wenn er so mit mir spricht. Wenn er seine Probleme, seine schlechte Laune an mir auslässt.

„Wesley", warnt Aidan, doch ich habe Wes schon einen vernichtenden Blick zugeworfen. Ich werde mich nicht zu seinem Opfer machen, nur weil er mit seinem Schmerz nicht umgehen kann und ihn deshalb auf alle anderen projizieren muss. „Hast du heute Zeit, um eine Runde mit mir schwimmen zu gehen?", frage ich Aidan, ohne noch einmal in Richtung meines Bruders zu sehen. Er ist nämlich nicht der einzige, dem es nicht gut geht. Es ist auslaugend und anstrengend ihn immer an erste Stelle zu setzen und ich ertrage es schlicht und einfach nicht.

„Natürlich. Passt vier Uhr für dich?", hakt er nach, worauf ich nicke. „Klar." Tatsächlich hätte ich jeder Uhrzeit zugestimmt, solange ich mich persönlich mit ihm unterhalten kann. Ich gebe mir Mühe, mein Gesicht nicht zu verziehen, obwohl ich mich schuldig fühle, ihn so auszunutzen. Dennoch ziehe ich meine Worte nicht zurück, sondern nicke Aidan und Blaire zu, ignoriere Wes, und mache mir eine geistige Notiz, dass die drei etwas im Schilde führen und ich vermutlich herausfinden sollte, worum es sich dabei handelt, ehe es zu spät ist.

——

„Gehst du schon wieder schwimmen?", möchte Prudence überrascht wissen, als wieder dabei bin, mir einen Bikini auszusuchen. Diesmal wird es Violett. „Ja. Aidan und ich gehen gemeinsam eine Runde schwimmen. Es beruhigt meine Nerven meistens ein wenig. Außerdem machen wir das schon so, seit wir Kinder sind. Er ist mein Nachbar, weißt du?", frage ich. Prudence nickt und lässt sich mit ihrem Handy auf das Bett fallen. „Interessant." Mehr sagt sie dazu nicht und ich runzle die Stirn, als sie dann grinsend beginnt auf ihrem Handy zu tippen. Das ist in der Tat interessant. „Gibt es einen Freund, von dem du mir etwas erzählen möchtest?", frage ich sie, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich zu ziehen. Es ist schön, wenn sie durch ihre gute Laune aufblüht. In letzter Zeit wirkt alles schwierig und traurig, sodass Prudences Anwesenheit ein wenig zu einem Lichtblick geworden ist, einfach weil sie nicht in das ganze Drama verwickelt ist.

„Was? Nein, natürlich nicht!", entgegnet Prudence. Vielleicht hätte ich es ihr sogar geglaubt, wenn sie nicht wie eine Tomate errötet wäre. „Ich meine es ernst. Ich habe in der Bibliothek nur ein wenig mit Chadwick gesprochen und wir haben unsere Nummern getauscht. Es ist nichts Großes, ehrlich." Ich nicke verständnisvoll, auch wenn ich es mir verkneife, ihr Verhalten zu kommentieren. Sie benimmt sich, als wäre es eine große Sache, und das ist süß. Aber gleichzeitig ist es auch Chadwick, um den es hier geht, und da finde ich die Angelegenheit immer ein wenig kritisch. Ich gönne es ihr, glücklich zu sein, aber sie muss auch vorsichtig sein. Chadwick gehört zu Ephraims Freundesgruppe und gehört somit automatisch unserer Feindesgruppe an. Aber ich werde Prudence nicht diktieren, mit wem sie befreundet sein soll. Seine Schwester Cecilia ist das größere Problem von den beiden – denn sie hat Mathilda und mich aus Prinzip gehasst und uns das Leben schwer gemacht, während er uns dank der Rivalität der Freundesgruppen lediglich aus dem Weg geht.

„Wenn du meinst. Ich gehe jetzt dann. Willst du mit ihm essen oder gehen wir später zusammen?" Prudence wird wieder rot. „Ersteres. Ich werde ohnehin bald gehen, weil ich langsam Hunger habe, und dann musst du deine Schwimmrunde nicht unnötig schnell abhalten." Ich nicke zustimmend und unterdrücke den Drang, sie ausspionieren und beschützen zu müssen. Das ist nicht angenehm und ich will ihr das nicht antun. Prudence ist eine erwachsene Frau, sie kann auch auf sich selbst aufpassen.

„Wir sehen uns dann vor dem Schlafen gehen", sage ich und nicke ihr zu, ehe ich mich mit meinem Bademantel und meiner Badetasche aus dem Staub mache. Aidan wartet schon mit seiner eigenen Tasche vor der Schwimmhalle, als ich zu ihm stoße. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin", meine ich, während ich mich von ihm in die Arme ziehen lasse. Er winkt ab. „Mach dir keine Gedanken, ich bin selbst auch erst vor einigen Sekunden hier angekommen. Du bist mehr als nur pünktlich, Hellie."

Wir legen unsere Sachen in den geschlechtergetrennten Kabinen ab, ehe wir in Bikini und Badehose wieder zueinander finden. „Was treibt dich in letzter Zeit so oft ins Becken?", will Aidan wissen, während wir uns gemeinsam unter die kalte Dusche stellen. Er steht mir so nahe, dass mein Oberkörper beinahe seine Brust streift und ich meinen Kopf in den Nacken legen muss, um ihm in die Augen sehen zu können. Ich unterdrücke den Drang, Abstand zwischen uns zu bringen. Aidan war schon immer wie ein Bruder für mich und es sollte nicht merkwürdig sein, ihm nahe zu stehen. Dennoch beschleunigt sich mein Atem und ich schlucke die Panik in meiner Kehle herunter. Es besteht kein Grund zur Sorge, rede ich mir ein. Aidan würde mir niemals wehtun.

„Ich wollte mit dir reden. Allein", gestehe ich. Neugier blitzt in seinen Augen auf, als er die Dusche abstellt und sich über das nasse Gesicht wischt. „Ach ja?" „Ja. Wes ist in letzter Zeit nicht so gut drauf, wie dir bestimmt auch schon aufgefallen ist." Aidan schweigt, während sich sein Gesichtsausdruck nicht verändert. Kein Verständnis, keine Empathie, nur Neugier. Mein Mund klappt auf. „Bin ich die einzige, gegenüber der er sich verändert hat? Das kann nicht wahr sein", bringe ich hervor. Aidan verzieht sein Gesicht und reibt sich über die Stirn, doch ich werde wieder wütend auf meinen Bruder. Ich bin die einzige Person in seinem Leben, die für ihn eine Hand ins Feuer legen würde. Ich habe so viel für ihn und wegen ihm ertragen. Da könnte er wenigstens den Anstand haben, mich so zu behandeln, wie er auch die anderen, die ihm wichtig sind. „Er hat vermutlich seine Gründe", versucht Aidan die Situation gutzureden, aber ich atme nur tief durch und verdränge den Gedanken. Deshalb bin ich nicht hier.

„Wieso hast du mir sofort geglaubt, als ich gesagt habe, dass mehr hinter Mathildas Fall stecken könnte?", komme ich direkt zur Sache. Ich senke meine Stimme ein wenig, weil man nie weiß, wer zuhören könnte, aber auch heute scheint die Luft rein zu sein, da es hier nur wenige Leute hat. Aidan stockt kaum merklich, ehe er direkt vor dem Becken ganz stehen bleibt und mich für einige Momente schweigend mustert. „Du willst gar nicht mit mir Zeit verbringen, du willst Informationen von mir", stellt er fest und ich verziehe das Gesicht. So hätte ich das jetzt nicht formuliert, aber er hat nicht Unrecht. Seine Mutter ist eine Forensikerin und sein Vater ein Gerichtsmediziner. Die beiden haben Mathildas Leiche untersucht. Aidan weiß schon lange, was mit ihr geschehen ist, er durfte es einfach niemandem sagen. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass er seine Eltern nicht über die Todesumstände einer Freundin gefragt hätte. Das passt nicht zu ihm und das ist uns auch beiden bewusst.

„Ich bin hergekommen, um dir ein paar Fragen zu stellen, das stimmt. Aber ich nehme an, dass wir einen Deal aushandeln könnten?", schlage ich vor, noch ehe sich sein Gesichtsausdruck noch weiter in Richtung Wut bewegen kann. Ich balanciere auf einem schmalen Grad seiner Emotionen und jeder Fehler könnte mich in einen Abgrund stürzen, der keine Antworten für Helena Birkshire heißt. Ein Risiko, das ich nicht eingehen möchte. „Was hast du denn, was du mir anbieten könntest?", will er mit einem bissigen Unterton wissen.

Ich schlucke und überlege einige Sekunden, was ich ihm anbieten könnte, ohne ihn zu verärgern. „Das musst du mir sagen, Aidan. Was könnte ich dir geben, was du dir nicht selbst besorgen kannst?" Seine Augen beginnen zu leuchten und mir wird klar, wie sehr sich das gerade nach Flirten angehört hat. Ich räuspere mich, obwohl es ein wenig zu spät ist, zurückzurudern. „Du kannst es dir noch überlegen. Ich möchte jedenfalls den Bericht deiner Eltern, was mit Mathildas Leiche geschehen ist. Wenn du mir ihn geben kannst, haben wir einen Deal. Wenn nicht, gehen wir wohl beide leer aus."

Ich halte Aidan meine Hand hin. Es dauert einige Sekunden, ehe er mir zunickt und sie ergreift. Dann dreht er sich wortlos um und springt in das Becken, obwohl es eigentlich verboten ist. Ich steige etwas langsamer ein, um nicht noch mehr tadelnde Blicke einzukassieren. So wie wir es früher getan haben, beginnen Aidan und ich einzeln unsere Runden zu schwimmen. Er ist dabei zwar schneller als ich, weil er es viel regelmäßiger tut als ich, aber ich spüre, wie meine Muskeln auch langsam wieder zum Leben erweckt werden. Vielleicht ist es ein guter Zeitvertreib, ab und zu schwimmen zu gehen.

„Ich werde dir die Papiere morgen bringen, wenn ich mir Zugang zu ihnen verschaffen kann. Ich kann dir aber nichts versprechen, Helena", informiert mich Aidan, als wir aus dem Wasser steigen und uns wieder auf den Weg nach draußen machen. Ich nicke ihm dankbar zu. „Gut. Du kannst mir dann auch gerade sagen, was du gerne hättest." Ich hasse es zwar, dass ich ihm einen Gefallen verspreche, aber wenigstens verspreche ich ihn jemandem, dem ich vertraue. Einigermassen. „Wir sehen uns vielleicht später. Genieß deinen Abend." Aidan drückt mir die Schulter und ich werfe ihm ein Lächeln zu. „Du auch."

Was wird sich Aidan wohl wünschen 😏?

Und was steht wohl in dem Bricht über Mathilda?

Mögt ihr Aidan bisher?

Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat & wir lesen uns bald wieder ❤️

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