Kapitel 09
„Du hast einen Brief bekommen", informiert mich Prudence. Ich habe ihren Wecker schon seit einer halben Stunde gehört, aber mich so verhalten, als wäre er nicht real und als wäre es nicht schon Morgen. Ich nehme an, dass sie schon gefrühstückt hat oder zumindest gleich losgeht, was bedeuten würde, dass wenigstens sie pünktlich zu ihrer ersten Stunde erscheinen wird. Ich richte mich auf und streiche mir meine vom Schlaf unordentlichen Haare aus dem Gesicht. „Einen Brief?", wiederhole ich, weil ich mir nicht sicher bin, was alles zu meinen Träumen und was zur Realität gehört. Prudence nickt und überreicht mir einen Briefumschlag, auf dem mein Name in einer säuberlichen Schrift geschrieben steht.
„Danke." Prudence nickt mir zu. „Kein Ding. Ich geh schon mal frühstücken, wenn das in Ordnung ist. Dann kannst du dich in Ruhe richten." Diesmal nicke ich, ehe sie aus dem Raum geht. Ich wäre zwar noch gerne länger im Bett geblieben, aber dass ich einen Brief erhalten habe, bringt mich ein wenig aus dem Konzept. Es kommt selten vor, dass ich Post erhalte, aber wenn es so ist, dann hat es meistens nichts Gutes zu bedeuten, weshalb ich es lieber schnell hinter mich bringe.
Helena
Manchmal ist es besser vorsichtig zu sein, als sich an Dingen zu verbrennen, die man lieber nicht tiefer erforschen möchte.
Ich drehe das Papier auf die andere Seite, aber das ist alles. Ernsthaft? Ich bin mir sicher, dass das eine Drohung, Warnung oder Abschreckung sein soll, aber man hätte auch weniger kryptisch sein können. Wenigstens bin ich mir jetzt sicher, dass die Person, die mir diese Nachricht vermitteln wollte, den Brief ganz bestimmt nicht selbst geschrieben hat, denn jedes Wort, jeder Buchstabe ist perfekt proportioniert und an dieser Schule gibt es wirklich niemanden, der das schaffen könnte. Vielleicht hat diese Person den Brief anonym beauftragt? Ich schnaube, rolle die Augen und stopfe das Papier in den Briefumschlag zurück. Am liebsten befördere ich derartigen Müll in den Abfalleimer, allerdings lasse ich es bleiben, denn vielleicht brauche ich den Brief irgendwann als Beweisgrundlage. Also nehme ich meinen Ordner und lege das Papier in eine Folie zwischen zwei meiner alten Zeugnisse. Das wird so schon niemand finden. Hoffentlich.
Ich beharre nicht lange auf den Worten, denn insgesamt geht die Person sehr offen mit der Information um, dass ich mich von Mathilda und den Wahrheiten dort fernhalten soll. Das führt mich zum Schluss, dass ich einmal mehr in meiner Vermutung bestätigt werde, dass es überhaupt eine Wahrheit zu finden gibt. Ich rolle die Augen über die Lächerlichkeit dieser Warnung. Es ist schwierig sich vor jemandem zu fürchten, wenn man nicht weiß, wer diese Person ist. Wie soll ich Angst vor jemandem haben, der sich hinter schön geschriebenen Worten und Papier versteckt? Nicht, dass es mich stört, dass ich nicht direkt gewarnt wurde, denn das hier ist um einiges angenehmer.
Ich kämme mir meine Haare in Rekordgeschwindigkeit und entscheide mich für die diesjährige Schuluniform, um für einmal in der Menge verschmelzen zu können. Denn egal wie gerne ich mich auch von den anderen unterscheide und mit meinen Kleidungsstücken heraussteche, heute habe ich andere Pläne. Ich packe einen Block, mein Federmäppchen und meinen Laptop in meinen Rucksack, ehe ich mich auf den Weg zum Speisesaal mache. Ich habe nicht lange gebraucht, um mich zu richten, weshalb ich den Schulsack bei Blaire, Wes, Aiden und Prudence deponiere, ehe ich zu den Buffet-Tischen gehe.
„Guten Morgen", werde ich begrüßt, während ich auf meinen Latte Macchiato warte. Ich spare es mir, meine Augen zu verdrehen und sehe Ephraim stattdessen nur genervt an. Vielleicht hätte das ein guter Morgen werden können, wenn er mir nicht dazwischengefunkt wäre. „Seit wann trinkst du Kaffee?", frage ich, statt mich auf den tatsächlichen Grund zu fokussieren, weshalb er hier ist. Ephraim wackelt mit seinem Apfelsaft Tetra-Pack vor meinem Gesicht. „Mache ich gar nicht, du Schlaumeier. Aber wenn ich schon hier bin, kann ich mir genauso gut ein Croissant nehmen, findest du nicht?" Er schnappt sich das Gebäck, ohne meine Antwort zu erwarten.
Ich werfe einen Blick auf die unsichtbare Brot-Box, die normalerweise mit Croissants gefüllt ist, nun aber leer zu sein scheint. Verdammt, ich hätte doch auch früher aufstehen sollen, denn ein Latte Macchiato mit einem Croissant ist mein Standard-Frühstück. Was Ephraim natürlich weiß, denn sonst würde er niemals so genüsslich auf dem Gebäck herumkauen, wie er es jetzt tut. Vor meinen Augen. Seine Augen funkeln, weil er meinen Ärger deutlich spüren kann. „Ich bin eigentlich nicht hergekommen, um Spielchen zu spielen", räuspert er sich schließlich, während mir mein Kaffee überreicht wird. „Woher der Sinneswandel?" Die Unschuldsnummer kann er bei jemand anderem versuchen.
„Durch dich natürlich, Tinkerbell. Wo hast du dein grünes Kostüm gelassen?", will er wissen und ich bin so fassungslos, dass ich einen Teil meines Kaffes aus Versehen über meine Hand kippe. Ich stelle den Pappbecher leise fluchend ab und werfe Ephraim einen mörderischen Blick zu, während er die beste Zeit seines Lebens zu haben scheint. Er presst seine Lippen zusammen und seine Wangen sind rot, während er versucht, sich sein Lachen zu verkneifen. Wenn es eine Personifikation von Schadenfreude hätte, würde sie wohl seinen Namen tragen.
„Tinkerbell?", hake ich betont ruhig nach, worauf er nur nicken kann. Manchmal frage ich mich wirklich, was sein Problem ist. Ich schüttle meinen Kopf und versuche so mein kochendes Blut zu beruhigen, während ich den Kaffee von meiner Hand wegwische. Okay, von mir aus. Ich kann ihm gerne etwas geben, worüber er sich den Kopf zerbrechen kann. „Ich schlage dir einen Deal vor. Wir versuchen, zusammen zu arbeiten und wenn es funktioniert, dann werden wir die Wahrheit zusammen herausfinden. Wenn nicht, gehen wir logischerweise getrennte Wege."
Ephraim richtet sich ein wenig auf, während sich Neugier und Entschlossenheit in seinem Blick mischen. Gut, dann ist ihm das tatsächlich wichtig. „Ich nehme an, dass du schon einen Plan hast?", will er wissen, worauf ich nicke. „Natürlich, ich bin schließlich nicht du", entgegne ich. Ephraim zieht säuerlich eine Augenbraue in die Höhe und ich zwinge mich, ihm nicht noch etwas Weiteres zu sagen, was ihn provozieren könnte. Das sind schließlich nur meine guten alten Angewohnheiten.
„Wir beide machen heute etwas für den Fall – einzeln – und morgen werden wir sehen, wer es geschafft hat und wer nicht. Ich kümmere mich um Mathildas Bericht des Gerichtsmediziners und du versuchst herauszufinden, wo ihre Sachen versteckt sind – vermutlich im Archiv oder im Büro von Mrs. und Mr. Abbot – und verschaffst uns einen Weg, wie wir die Sachen holen können. Unbemerkt. Wir beide haben nur heute Morgen Unterricht, deshalb musst du gar nicht erst damit beginnen, dich über das Zeitlimit zu beklagen. Bist du dabei?", schließe ich meine Flüster-Rede ab und Ephraim nickt. Seine Stirn ist in Falten gelegt und er drückt sich ohne ein weiteres Wort an mir vorbei. Ich bin so verwirrt, dass ich einige Male blinzeln muss, ehe ich zu unserem Tisch zurückkehren kann. Wenn er jede verfügbare Sekunde nutzen möchte, dann kann er das gerne machen.
„Wieso um alles in der Welt hast du so lange mit Thornbury gesprochen?", begrüßt mich Blaire, als ich mich zu der Gruppe an den Tisch setze. Alle sehen mich aus einer Mischung von Neugier und Schock an, sodass ich nur meine Augen verdrehen kann, während ich mir überlege, was ich sagen und glaubwürdig klingen lassen kann. „Ich musste ihm erklären, wie nett ich es fand, dass er mein Croissant genommen hat. Das letzte Croissant, wohlbemerkt", bringe ich mit einem genervten Gesichtsausdruck hervor. Für einen Moment kommen Zweifel in mir hoch und ich erzähle ihnen beinahe, was ich tatsächlich mit ihm besprochen habe, aber ich halte mich im letzten Moment zurück. Niemand aus meiner Freundesgruppe hat Mathildas Todesumstände hinterfragt. Aidan ist da vielleicht eine Ausnahme, aber seine Zweifel haben ungefähr für zwei Sekunden angehalten und ich sehe keinen Reiz darin, jemandem zu erklären, dass Ephraim der Einzige ist, den es wirklich zu interessieren scheint oder was ich ihm gerade vorgeschlagen haben. Sie würden es mir vermutlich ausreden wollen.
„Deines? Ich dachte, dass sich hier alle frei bedienen können?", fragt Prudence etwas verwirrt, worauf Blaire und Wes unisono kichern. Sie werfen sich überraschte Blicke zu und kichern dann schon wieder los, als wäre es ein guter Insider. Ich gebe mir Mühe, nicht verstört zu sein, als ich meine Aufmerksamkeit auf Prudence richte. „Ja, aber Ephraim isst sonst nie eines. Er genießt immer dasselbe Frühstück, welches aus einem Apfelsaft und einem Schokobrötchen besteht. Dass er das letzte genommen hat, das zu meinem routinierten Frühstück gehört, ist ein offensichtliches Zeichen dafür, dass er mir auf die Nerven gehen will."
Prudence nickt langsam und wechselt dann einen merkwürdigen Blick mit Aidan. „Glaubst du nicht, dass er einfach deine Aufmerksamkeit möchte? Ich meine, er findet ständig Gründe, um mit dir zu sprechen und versteckt sein Interesse damit, dass er etwas Gemeines sagt." Selbst Blaire und Wes verstummen, während wir Prudence anstarren, als hätte sie uns den Weltuntergang angekündigt. Ich bin die erste, die die Stille mit meinem Lachen bricht. Das ist so absurd und unmöglich, dass ich kaum mehr richtig atmen kann, während ich mir diesen Unsinn durch den Kopf gehen lasse. Ihre Vorstellungskraft ist ja noch schlimmer als meine, um Himmels Willen! Ich bin beeindruckt, dass sie noch immer so aussieht, als würde sie es ernst meinen.
„Du bist echt süß, Prudence", seufze ich schließlich. „Aber Ephraim und ich teilen nicht ein paar gemeine Witze – wir zerstören einander, so gut und einfach es nur geht. Und das, weil wir die Mittel dazu haben. Daran ist nichts liebevoll, schön oder aufmerksamkeitssehnend. Das ist eine Tatsache und jedes Mal, wenn jemand die eigene Feindseligkeit abstellt, wird der Waffenstillstand auf eine brutale Art und Weise zerstört." Aidan brummt zustimmend, während Wes und Blaire auf ihre Hände starren – heute scheinen sie tatsächlich auf alles dieselbe Reaktion zu haben. Die drei erinnern sich gut an die vergangenen Jahre. Sie wissen, wozu ich fähig bin. Und dass ich nicht gedenke, mit fairen Mitteln zu spielen, wenn ich mit unfairen Mitteln ausgespielt werden könnte. So funktioniert es nun einmal nicht, wenn man ich oder Ephraim ist. Prudence weiß das vielleicht noch nicht, aber der Tag ist auch noch jung.
Hat Prudence vielleicht Recht 🤔?
Wie wird das Ermitteln für Helena/Ephraim wohl funktionieren?
Ich hoffe, dass euch das Kapitel hat & bis bald ❤️
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