Kapitel 04
„Sie sind zu spät", werde ich von einer Professorin begrüßt, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Ich versuche nicht einmal, meinen dampfenden Kaffeebecher zu verstecken, der wohl der symbolische Grund für meine Verspätung ist. Ich habe so schlecht geschlafen, dass ich wohl besser dran wäre, wenn ich gar nicht ins Bett gegangen wäre und dementsprechend bin ich erst einmal länger liegen geblieben als vernünftig gewesen und dann noch genug Zeit gebraucht, um mich so zu schminken, dass meine Augenringe nicht dem Marianengraben entsprechen. Schon da hätte ich es nur noch knapp geschafft, aber ich habe es mir nicht zugetraut, diesen Tag ohne meinen gewöhnlichen Latte Macchiato mit einem Schuss Mandelmilch zu überstehen. Ich setze mich auf den Platz, den Prudence mir freigehalten hat, ohne die Feststellung der Professorin mit einer Antwort zu würdigen. Es gibt nicht viel, was ich sagen könnte, ohne zu lügen, also lasse ich es lieber bleiben.
„Miss Rockefeller, könnten Sie für unseren Neuankömmling wiederholen, was ich gesagt habe, während ich die Unterlagen austeile?", fragt die Professorin entnervt. Prudence nickt und räuspert sich dann leise. „Sie hat sich bisher nur als Mrs. Harding vorgestellt-..." Mein Mund klappt auf, und ich werfe der Professorin, die uns nicht einmal mehr beachtet, erneut einen Blick zu. „Mrs. Harding? Bist du sicher?", hake ich nach. Meine Augen suchen den Raum nach Blaire ab, denn sie heißt zum Nachnamen ebenfalls Harding. „Ja, das hat sie gesagt. Steht auch auf der Wandtafel. Sonst hat sie eigentlich nicht viel erzählt, außer dass das ein Kurs ist, den sie normalerweise tieferen Altersstufen unterrichtet, weshalb der Unterricht auch etwas anders gestaltet wird als der unserer sonstigen Stunden." Ich nicke langsam. Das hätte ich mir denken können, wenn alle Tische zu Vierergruppen zusammengeschoben sind-...mein Atem stockt und meine Innereien verkrampfen sich. Denn tatsächlich hat sich Prudence an einen Tisch zu Ephraim und seinem besten Freund, Geoffrey, gesetzt.
Geoffrey und Ephraim könnten sich nicht unterschiedlicher sein. Während Geoffrey eher ist wie mein Bruder – blond, blauäugig, hat das Reiten zu seiner Persönlichkeit gemacht – gehört Ephraim seiner eigenen Spezies an. Dunkelhaarig, ebenholzfarbige Augen, während er das Fechten zu seiner Sportart gemacht hat, obwohl es eigentlich meine ist. „Überrascht, gute Gesellschaft zu haben, Birkshire?", fragt Ephraim spöttisch und rollt mit den Augen. Ich kneife meine Augen zusammen und zwinge mich, nicht schon so früh am Morgen die Nerven wegen ihm zu verlieren. „Nein, ich bin überrascht, dass Prudence noch nicht auf deinen Schoss erbrochen hat, weil du so ekelerregend bist." Ich werfe ihm ein falsches Lächeln zu, lasse meinen Blick zu Mrs. Harding – vermutlich Blaires Tante – schweifen und versuche mir Prudences geschockten Blick nicht zu Herzen zu nehmen. Es tut mir leid, dass ich sie in diese Sache mit hereingezogen habe, aber es war tatsächlich beinahe nicht vermeidbar, wenn Ephraim sich in meiner Nähe und nicht auf einem anderen Planeten befindet.
„Nun, wie Sie auf der ersten Seite sehen, werden wir uns zuerst damit befassen, wie man mit dem Verlust von Personen umgehen kann, die einem nahe stehen. Ihnen ist allen bewusst, dass dieses Pflicht-Grundlagenfach aufgrund vom Tod von Mathilda Harding eingeführt wurde. Viele wissen vielleicht aber nicht, was sich an diesem Tag genau ereignet hat, weshalb ich Ihnen die Sachlage nun etwas näherbringen werde – so, wie es uns aufgrund des Datenschutzes der Schule erlaubt worden ist." Mrs. Harding räuspert sich und streicht sich eine ihre dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Diese Frau ist vermutlich in der Mitte ihrer Dreißiger, aber sie lässt sich weder ihr Alter noch ihre Absichten anmerken, denn ihr Gesichtsausdruck besteht aus hundertprozentiger Professionalität.
„Mathilda Harding erlitt einen selbst verantworteten Insulinmangel, aufgrund welches sie im Schulhaus gestürzt ist und einen Hirnschlag sowie auch eine Hirnblutung erlitten hat. Man kann davon ausgehen, dass ihr noch zu helfen gewesen wäre, wenn jemand sie aufgefangen und sofort zur Krankenstation gebracht hätte, aber leider hat ihr das Schicksal nicht in die Karten gespielt." Mein Herz setzt für einige Schläge aus, während ich unauffällig den Blick meines Bruders suche. Ich hatte keine Zeit, ihn vorher zu finden, weil ich zu spät unterwegs war, aber jetzt hält mich nichts mehr davon ab – und ich bin froh, dass wir dieselbe Gefühlslage haben, als wir diese Worte hören.
Es ist merkwürdig, dass wir bei Mathildas Eltern gewesen sind, diese uns aber nur die halbe Wahrheit erzählt haben. Hirnschlag und Hirnblutung sind nämlich zwei Begriffe, die ich in Verbindung mit Mathilda nun zum ersten Mal höre. Oder vielleicht wissen ihre Eltern einfach nichts davon? Wes hat ebenfalls die Stirn gerunzelt und wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich wünschte, dass ich zu ihm gehen und Theorien aufstellen könnte, aber es ist nicht so einfach, denn wir würden damit sofort Aufmerksamkeit auf uns ziehen – und ich kann auch gut ohne die Gerüchte umgehen, welche sich dann um uns zwirbeln würden.
„Was ich damit sagen möchte: Achten Sie bitte darauf, dass das Schicksal auf ihrer Seite sein kann. Bringen Sie sich nicht in eine derartige Situation, denn ich bin mir sicher, dass Mathilda ihre Tat nicht bewusst vollbracht, sondern lediglich eine Impuls-Handlung vollzogen hat, die ihr teuer zu stehen gekommen ist." Miss Windsor spricht weiter, aber ich kann ihr gar nicht mehr richtig zuhören, denn ich drehe mich um und hole unter dem Tisch mein Handy hervor. Treffen nach dem Unterricht? texte ich an Wes gerichtet. Er fängt meinen Blick, den ich wieder durch den Raum schweifen lasse, und nickt mir unauffällig zu. Miss Windsor weist uns an, dass wir unsere Gefühle doch in der Gruppe teilen sollten, und ich bin froh, genau im richtigen Moment wieder zugehört zu haben.
„Ich kann nicht wirklich viel dazu sagen, außer dass ich überrascht bin, dass hier kürzlich etwas in dieser Art geschehen ist", beginnt Prudence. Sie sieht motiviert in die Gruppe, wobei ich mich frage, wie sie dabei so aufrichtig aussehen kann. Natürlich wird es bei ihr eine Weile dauern, bis sie erkennt, was für ein Affengesicht Ephraim wirklich ist, und dass er in der Lage ist jeden Funken Motivation und Hoffnung innerhalb von wenigen Sekunden auszulöschen. „Ist vielleicht auch besser, dass du erst hergekommen bist, nachdem das Drama ausgebrochen ist." Geoffrey wirft ihr ein strahlendes Lächeln zu und ich runzle skeptisch meine Augenbrauen. Flirtet er mit ihr oder ist er nur höflich? „Ich denke ohnehin, dass Birkshire sich äußern sollte", mischt Ephraim sich ein und sieht mich herausfordernd an. „Du weißt schließlich am meisten über Mathilda, nicht wahr?"
Geoffrey zieht scharf die Luft ein. Sogar Prudence verzieht ihr Gesicht, denn sie hat gestern schon mitbekommen, wie sehr mich diese Art von Kommentaren reizen. „Bist nicht du derjenige, der immer alles am besten weiß?" Ich habe schon lange gelernt, dass es Ephraim am meisten ärgert, wenn er keine Antwort auf seine Fragen erhält, und da ist es besonders wirksam, ihm Gegenfragen zu stellen. „Ich bin nicht derjenige, der sich vorher so merkwürdig verhalten hat, als Harding erzählt hat, was mit Mathilda geschehen ist. Du warst weder geschockt noch überrascht, Helena. Du warst verwirrt. Also stellt sich mir die Frage, wie viel zu wirklich weißt. Was du mitbekommen hast." Er betont das mitbekommen, als hätte ich es angestellt und ich runzle die Stirn. Das ist eine interessante Entwicklung dieses Gesprächs. Eine gefährliche Entwicklung, vor allem, wenn alle Ohren geöffnet sind und unsere Worte auffassen könnten.
„Zweifelst du den Suizid an, Ephraim?", frage ich also leise. Ich kann ihm die Wahrheit nämlich nicht sagen. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich bei Mathildas Eltern war und gewisse Aspekte der Geschichte hinterfrage, weil es mich verwirrt, wieso sie Wes und mir nicht die ganze Geschichte erzählt haben. Sie wissen nämlich, wie viel uns Mathilda bedeutet hat. Noch immer bedeutet.
Geoffrey und Prudence verspannen sich. Geoffrey liebt diese Schule nämlich mehr als sein Leben und er würde es niemals wagen, etwas anzuzweifeln, was Mr. und Mrs. Abbot uns erzählen. Ich kann noch nicht einschätzen, wie Prudence zum Reglement und der Institution steht, aber sie sieht ängstlich aus, weil sie vermutlich fürchtet, in einem Horrorfilm gelandet zu sein.
„Gibt es denn etwas anzuzweifeln?" Ephraims Augen funkeln durchtrieben und ich spüre seine lebendige Haltung. In seinem Blut sprudelt das Adrenalin und er scheint regelrecht nach einem Ja zu lechzen. Ich frage mich allmählich, was er sich von dieser Konversation erhofft. Was es für ihn aus meinen Worten zu gewinnen gibt. „Nicht, dass ich wüsste." Ich bin mir nicht sicher, wie ehrlich meine Worte gemeint sind oder was ich von der Situation halte, aber für mich scheint einfach noch nicht alles zu passen. Mir ist bewusst, dass ich nach Entschuldigungen suche, um mich nicht effektiv mit dem Verlust auseinandersetzen zu müssen, denn so ist die ganze Sache viel etwas erträglicher. Wenn es immer noch weitere Antworten gibt, die ich haben möchte, bin ich noch nicht am Ende von Mathildas Leben angelangt. Ich nippe an meinem Kaffee, um mein Schweigen zu begründen, während Geoffrey verwirrt zwischen Ephraim und mir hin- und hersieht, als könne er uns dadurch ergründen.
Ich hoffe schwer, dass ihm bewusst ist, dass man seinen unlogischen Freund nicht ergründen kann, denn das habe ich schon längst aufgegeben. „Vielleicht weiß es dein Bruder ja", meint Ephraim schulterzuckend und wirft einen Blick in die Richtung Wesley. Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe und mir fallen tausende Dinge ein, die ich ihm am liebsten an den Kopf werfen würde. Gleichzeitig ist das aber auch genau seine Taktik. Mich aus dem Konzept zu bringen und so Antworten von mir zu provozieren, die ich ihm nicht geben möchte.
„Ich kann mir nicht vorstellen, was du von Wes hören möchtest. Hoffentlich keine Liebeserklärung, denn unsere Gene halten uns davon ab, derartige Dummheiten in Bezug auf dich von uns zu geben." Ephraim wirft mir einen scharfen Blick zu, aber ich zucke nur mit den Schultern. Er hat sich einen Spaß daraus gemacht, mich zu beleidigen, und dann ist er genervt, wenn ich dasselbe mache? Merkwürdiger Kerl. Ephraim kopiert mich und nimmt sein Apfelsaft-Tetra Pak vom Tisch, sodass er einige Schlucke nehmen kann. Es ist witzig, dass ich die Zahnräder in seinem Kopf wortwörtlich arbeiten sehe, während er Schwierigkeiten hat, die Situation einzuordnen.
„Ich denke, dass das genug Zeit war, um einige Gedanken zu teilen", unterbricht Mrs. Harding die Gespräche, die sich an unserem Tisch schon länger eingestellt haben ohne etwas zu erreichen. Damit hat sie perfektes Timing, denn Ephraim sieht so genervt aus, dass ich annehme, dass er sich gerade ein paar weitere Fragen überlegt hat, mit denen er mich malträtiert hätte. Ich tausche einen bedeutungsvollen Blick mit Prudence und versuche ihr mitzuteilen, dass sie sich genau von dieser Art von Kerlen fernhalten soll, wenn sie die Schulzeit hier überleben möchte. Selbst Geoffrey ist nicht der anständige Kerl, für den er sich ausgibt. Das ist einfach nicht möglich, wenn er es so gut mit Ephraim hat. Denn ich bin der festen Überzeugung, dass letzterer es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Seele von anderen Menschen zu vergiften und sich sein schlechter Charakter verbreitet wie die Pest.
Dennoch entgeht mir sein konzentrierter, forschender Blick nicht. Mir entgeht nicht, wie viel Interesse und Zweifel er an dieser Sache hat, obwohl er nicht einmal so gut mit Mathilda befreundet war. Mir entgeht nicht, wie er sich säuberlich Notizen auf seinem Papierblock macht und immerzu skeptisch die Stirn runzelt, während er Mrs. Harding zuhört. Es wirkt beinahe so, als würde es ihm ähnlich gehen wie Wes und mir – als würde ihn die Sache einfach nicht loslassen.
Lässt Ephraim die Sache wirklich nicht los 🤔?
Wenn ja, was für Motive hat er dann wohl?
Habt ihr Vermutungen, wie die Geschichte weitergehen könnte?
Hoffentlich hat euch das Kapitel gefallen, wir lesen uns bald wieder 🤎
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