Von Gustav zu Charlie
„Alle Sängerinnen sind vor einer großen Show nervös, auch wenn sie es nicht zugeben!", versichert der Moderator Charlie vor ihrem Auftritt bei der Talentshow.
Charlie nickt brav, doch ihre Hände zittern. „Ich hab kein Lampenfieber", wispert sie, als der Moderator in Richtung Bühne verschwindet. „Die Typen aus dem Fußballverein sind hier, deswegen bin ich durcheinander."
Aha, daher weht der Wind. Früher war Charlie mit den Jungs aus der Fußballmannschaft gut befreundet, aber das hat sich geändert. Als ich sie zum ersten Mal traf, war nämlich Einiges an Charlie anders. Damals hat ihre Mutter als brilliante Opernsängerin so viel Staub aufgewirbelt, dass die Zeitung mich zu einem Hausbesuch verdonnert hat. Opern waren so gar nicht mein Ding und Charlies Mutter Marlen auch genau so, wie man sich eine Opernsängerin vorstellt: Ein wenig divenhaft, immer hübsch herausgeputzt und auf eine geheimnisvolle Aura bedacht. Ich knipste sie also eher lustlos in ihrem schicken Zuhause und war in Gedanken schon bei der abendlichen Geburtstagsfeier meines Kumpels, als eine weitaus faszinierendere Person meine Aufmerksamkeit auf sich zog.
Schon damals musste Charlie sich nicht verbiegen, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Sie selbst zu sein genügte völlig. Vor ein paar Jahren hieß sie noch Gustav und ihre blonden Locken reichten kaum bis übers Ohr, doch sie wusste schon genau, wer sie war. In einer Wohnzimmerecke spielte sie mit den Kostümen ihrer Mutter Verkleiden und ahmte die Rolle der Julia aus Shakespeares Stück so dramatisch nach, dass ihr Talent für die Bühne nicht zu übersehen war. Marlen, die große Operndiva, ließ Charlie gewähren, denn sie hatte immer von einem außergewöhnlichen Kind geträumt. Selbst als Charlie älter und die Haare länger wurden und sie eines Tages nicht mehr Gustav genannt werden wollte, unterstützte ihre Mutter sie. Kein Wunder, denn in der Welt der Künstler gab es viele schillernde Gestalten, die sich nicht den Normen der Gesellschaft beugen wollten. Die Opernfamilie war bunt und so gingen bei Marlen alle ein und aus, ganz gleich, ob sie Hosen oder Kleider trugen oder einen Mann oder eine Frau liebten. Es war ein Segen für Charlie, von der Bühnenwelt akzeptiert zu werden, doch das galt leider nicht für ihre Freunde aus dem Fußballverein.
„Hoffentlich ruinieren diese Idioten meinen Auftritt nicht." Charlie kaut an ihren langen Fingernägeln. „Ich wünscht, man hätte sie gar nicht erst in den Club gelassen!"
Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter. „Das Sicherheitspersonal wird ein Auge auf sie haben, dafür werde ich sorgen", verspreche ich ihr. „Du musst deinen alten Freunden zeigen, dass sie dir mit ihren Pfiffen und blöden Bemerkungen nichts anhaben können. Denk dran: Das Publikum hier liebt dich und das kann dir niemand nehmen."
Charlie lächelt, doch ich sehe ihr an, dass sie mir nicht glaubt. Zu tief sitzt der Schmerz, den ihre alten Fußballkameraden verursacht haben. Schließlich hat Charlie das Fußballtraining genauso geliebt wie ihre Gesangsstunden. Auch mit langen Haaren war sie die Schnellste auf dem Platz, aber sie hat den Ball oft abgegeben, damit auch ihre Mitspieler Tore schießen konnten. Ihren Teammitgliedern passte die Veränderung trotzdem nicht und als Charlie eines Tages mit lackierten Fingernägeln zum Training auftauchte, haben sie zugeschlagen. Charlie weint immer noch, wenn sie davon erzählt. Das blaue Auge ist längst abgeschwollen, doch von ihren Freunden so verraten so werden, hat tiefere Spuren hinterlassen.
„Denk mal dran, wie du mit dem Preis durchstarten könntest!", lenke ich Charlie ab. „Ein Vertrag bei einer richtigen Plattenfirma, das wär's doch! Dann hören endlich alle, was für coole Songs du schreibst!"
Bei dem Gedanken an eine Plattenfirma schleicht sich ein sehnsuchtsvoller Ausdruck in Charlies Augen. Wenn ihre Songs erst auf Youtube und Co. durchstarten, wird den Idioten aus ihrer Fußballmannschaft ihr kindisches Verhalten noch leid tun.
Nur leider ist Charlie noch kein selbstbewusster Megastar, dem ein paar unreife Jungs nichts anhaben können, sondern eine unsichere junge Frau. Dieser Auftritt heute ist allerdings ihre Chance, ihrer Angst die Stirn zu bieten und für ihre Ziele zu kämpfen. Gegen alle Widerstände.
„Na, Charlie, wie sieht's aus? Bist du bereit?", hakt der Moderator nach, während der letzte Teilnehmer unter tosendem Applaus von der Bühne abtritt.
Charlie nimmt die Finger aus dem Mund und sieht kurz zu mir, bevor sie ein zittriges „ja" zustande bringt. Ihr Körper bebt, als der Moderator ihr bedeutet zu warten, bevor er ins Scheinwerferlicht tritt. Hastig verlasse ich den Bereich hinter der Bühne und schlüpfe in den Zuschauerraum. Der ist bereits gut gefüllt. Nur Charlies Mutter Marlen fehlt, denn natürlich hat sie gerade jetzt einen wichtigen Termin mit der Presse. Oh, oh. Mein Magen verkrampft sich, als ich in der ersten Reihe eine wohlbekannte Gruppe junger Männer entdecke. Charlie hat mir Fotos ihrer alten Freunde gezeigt und sie tragen sogar ihre Fußballtrikots, um ihr eins reinzuwürgen. Misstrauisch schlängle ich mich ebenfalls bis zur Bühne vor und versuche, das hohle Lachen und die vor Spott triefenden Stimmen der Fußballer zu ignorieren. Soll ich sie verwarnen? Ja, das wäre eine gute Idee.
Noch bevor ich den Mund aufmachen kann, kündigt der Moderator jedoch Charlies Auftritt an und Charlie tritt auf die Bühne.
Meine Befürchtungen werden wahr, denn die Musik zu Charlies Song „I am myself" wird sofort von Buhrufen übertönt.
„Hey kleiner Gustav, was trägst du denn da für ein süßes Kleidchen? Hat das deine Oma für deine Cousine gekauft?", brüllt der breitschultrigste der Fußballspieler neben mir, während einer seiner Kumpels drohend die Faust Richtung Bühne reckt.
Charlies Augen driften kurz zu ihnen ab, doch sie singt tapfer weiter, auch wenn ihre Stimme längst nicht so kraftvoll klingt wie bei den Proben.
In mir lodert es und ehe ich mich versehe, packe ich den Brüllaffen bei den Schultern und schüttle ihn. Vor lauter Überraschung verstummt er. Die anderen Fußballer bekommen allerdings nichts davon mit und werfen Charlie johlend die schlimmsten Beleidigungen an den Kopf. Mannweib. Schlampe. Widerwärtiger Transvestit.
Wo bleibt nur der Sicherheitsdienst? Hektisch lasse ich den jungen Mann los und knöpfe mir das nächste Ekelpaket vor. Da legt der Brüllaffe wieder los. Verdammt, ich kann sie nicht alle auf einmal stoppen und mit jedem bösen Wort brechen sie Charlie weiter. Da, nun laufen ihr Tränen die Wangen hinab und sie stockt. Diese Mistkerle haben ihr Ziel erreicht. Oder etwa nicht?
Auf einmal schießt eine Person, die in ihren bunten Kleidern an einen Pfau erinnert, zwischen die Fußballer und scheucht sie mit einem riesigen Fächer von der Bühne weg.
Charlie macht große Augen und mir klappt die Kinnlade herunter, als ich realisiere, was da gerade passiert. Marlen, die Operndiva, verteidigt ihre Tochter wie eine wütende Löwenmutter und erdolcht die Fußballer mit solch eindringlichen Blicken, dass sie das Weite suchen. Nun fängt sich auch Charlie wieder und endlich, endlich, kann sie dem Publikum zeigen, was sie wirklich draufhat. Ihr Song über den langen Weg, sich selbst zu akzeptieren, schlägt ein wie eine Bombe und das Publikum hört gar nicht mehr auf zu klatschen. Übers ganze Gesicht strahlend winkt Charlie ihren neu gewonnen Fans zu, doch dann versteinert sich ihr Gesicht und sie eilt von der Bühne. Marlen und ich beeilen uns, zu ihr zu kommen.
„Charlie, Maus, was ist mit dir?", stürzt sich Marlen sofort auf ihre Tochter, während ich ein wenig Abstand halte. „Die Typen haben mir so gemeine Dinge zugerufen", schluchzt Charlie und umschlingt ihren Körper schützend mit den Armen. „Ich weiß, dass ich mit sowas rechnen musste und hab mich bemüht, da drüber zu stehen, aber ich hab es einfach nicht geschafft! Ich bin ein Schwächling!" Nun brechen die Tränen wie Wasserfälle aus Charlies Augen hervor und verschmieren ihr Make-Up. Marlen drückt sie fest an sich.
„Meine tapfere Charlie. Du darfst nicht so hart zu dir sein. Du hast dich für deinen Weg entschieden, um glücklich zu werden, lass dir das nicht von anderen wegnehmen. Eine harte Schale braucht Zeit zum Wachsen."
Nun hört Charlie auf zu weinen und ergreift die Hand ihrer Mutter. „Danke", murmelt sie und setzt sich gerade hin. „Mir war klar, dass ich es immer schwerer haben werde als andere, aber es tut trotzdem weh. Wenn andere nicht akzeptieren wollen, dass ich die gleichen Rechte und Chancen wie sie habe, dann muss ich eben darum kämpfen. Eine Oper ohne dramatisches Finale wäre schließlich kein Meisterwerk, hab ich recht?"
Marlen streicht Charlie sanft über den Kopf. Später wird sie erfahren, dass sie die Talentshow gewonnen hat. Vielleicht wird sie wirklich ein großer Star, doch auch dann wird sie beschimpft und bedroht werden. Dabei hat sie noch Glück, denn in anderen Ländern ist es verboten, sich als Regenbogenpaar zu outen oder als Drag Queen zu verkleiden. Statt Schlägen setzt es dann Peitschenhiebe, Gefängnis und die Todesstrafe. Die Gesellschaft ist so bunt, doch es wird immer Menschen geben, die nur die Grautöne sehen wollen.
*
Ich knete den Gummiball, mit dem ich Stress abbaue, wenn die Lage der Welt mich wieder einmal verzweifeln lässt. Als Forograf führe ich den Menschen vor Augen, wie die Menschenrechte weltweit mit Füßen getreten werden. Das zu ändern ist allerdings als kleiner Tropfen in einem schier endlosen Meer beinahe unmöglich. Angespannt lege ich Charlies Foto weg und schließe kurz die Augen, um tief durchzuatmen. Weshalb gehe ich all diese Geschichten noch einmal durch, obwohl ich die entsprechenden Reportagen längst abgeschlossen habe? Quäle ich mich so gerne? Oder bin ich einer der Menschen, die einfach nicht wegsehen können, wenn ein Unrecht geschieht? Das muss es sein, denn warum sonst suche ich gezielt die Fotos aus den Kriegsgebieten heraus? Hier, da ist eines von der ukrainischen Front.
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