Das afghanische Mädchen

Sharbat mustert mich misstrauisch, denn es kommen nicht oft Besucher in ihr Dorf am Helmand Fluss am Rande der Wüste. Schon gar nicht, seit die Taliban nach dem Truppenabzug der Amerikaner wieder die Macht ergriffen haben. Obwohl Sharbat erst zehn ist, versteht sie, hat mir ihr Vater Hamid erzählt. Ihre ältere Schwester darf nicht mehr zur Schule gehen, ihre Mutter arbeitet nicht mehr als Krankenschwester im Gesundheitszentrum und von Zeit zu Zeit kommt einer der bärtigen Männer vorbei und bedroht die Dorfbewohner mit seinem Gewehr. Noch verrutscht Sharbats smaragdgrüner Schleier oft und gibt ihr volles Haar preis, wenn sie mit ihrem Bruder spielt, aber wenn sie älter wird, wird sie vorsichtiger sein müssen.

„Was macht die?", fragt sie schließlich leise und deutet auf die Kamera in meiner Hand. Ich zeige ihr, wo man durch das kleine Sichtfenster guckt und wo man auf den Auflöser drückt.

Sharbat staunt. „Die macht ja alles kleiner!", ruft sie aufgeregt und langsam wird sie wieder zu dem aufgeweckten Mädchen von früher. „Schau mal, mein Bruder ist ja winzig! Und die Schafe! Sie sehen aus wie kleine Wölkchen!" Kichernd drückt Sharbat auf den Auslöser. Dann suchen ihre Augen fragend die meinen und als ich nicke, saust sie mit der Kamera los, immer auf der Jagd nach spannenden Motiven. Wenn diese Aktion schief geht und die Kamera beschädigt wird, kehre ich mit nichts in der Tasche von meiner Reise zurück. Gelingt sie aber, bringe ich einen Schatz zurück nach Europa, denn dann kann die Welt Sharbats Leben durch ihre eigenen Augen sehen.

Hamid schmunzelt über seine neugierige Tochter. „Sharbat ist ein besonderes Mädchen", erzählt er mir, während er einen Eimer unter die Wasserpumpe auf dem Dorfplatz stellt. „Sie hat eine blühende Fantasie und erzählt gerne Geschichten." Der Paschtune lässt seine müden Augen über den staubigen Platz und die einfachen Lehmziegel-Häuser des Dorfes gleiten. Hinter den Vorhängen spitzen aufmerksame Augen hervor. Hier, mitten im Nirgendwo, leben die Menschen noch freier als in den Städten. Dennoch beobachten sie den Journalisten, der mit Erlaubnis des lokalen Talibananführers in ihr Dorf gekommen ist, misstrauisch. Will er sie ausspionieren? Regelverstöße an die Taliban melden? Die älteren unter ihnen erinnern sich, dass ich vor fünf Jahren schon einmal hier war. Damals hielt der Fortschritt Einzug in Afghanistan, denn es wurden neue Schulen für Mädchen gebaut, in Kabul eröffnete ein Schönheitssalon nach dem anderen und Frauen strömten an die Universitäten. Hier im Dorf schien die Zeit zunächst stehen geblieben zu sein, doch nach einer Weile haben sich auch die konservativsten Familien mit einigen Veränderungen angefreundet. Und nun?

„Gehen wir lieber ins Haus", murmelt Hamid und führt mich zu seinem kleinen Bauernhof am Rande des Orts. Das Wohnhaus weist noch einige Risse vom letzten Erdbeben auf, doch es ist geräumiger als die anderen Häuser im Dorf. Bis vor einem Jahr hat Hamid mit dem Verkauf der Wolle und des Fleisches seiner Schafe gut verdient, denn in der nächstgelegenen Stadt haben Hilfsorganisationen der Bevölkerung gut bezahlte Jobs angeboten. Seit die Taliban die Macht ergriffen haben, fließt das Geld aus dem Westen allerdings nicht mehr und die Dörfer des Helmand verelenden. Auch Hamids Gesicht wirkt ausgemergelt und das lange Gewand hängt von seinem dünnen Körper hinab wie von einer traurigen Strohpuppe. Im Haus treffen wir Hamids Frau Peghra und seine ältere Tochter Gul. Sie zucken zusammen, als wir eintreten, aber Hamid beruhigt sie. Frauen dürfen seit letztem Sommer nicht mehr mit fremden Männern sprechen, sollen zuhause bleiben und das Haus nur noch mit Niqab oder Burka verlassen, so wollen es die neuen Herrscher Afghanistans. Auf dem Land drücken sie jedoch manchmal ein Auge zu, weil man mit Niqab und der Abaya, dem bodenlangen, hochgeschlossenen Gewand, nicht auf den Feldern arbeiten kann. Auch Peghra und Gul verhüllen nur ihre Haare und nicht das Gesicht. Nach einer Sekunde des Schreckens erkennen sie mich wieder.

„John, du bist wieder hier! Obwohl sie jetzt die Macht im Land haben!", ruft Peghra und reißt erstaunt die Augen auf. Gul senkt ihren Blick, doch dann sieht sie mir in die Augen. Ich halte den Atem an, denn sie sprühen nicht mehr vor Lebensfreude und Energie. Stattdessen blicken sie mich ermattet an, frei von jeder Hoffnung. Vor fünf Jahren hat Gul mir stolz jedes ihrer Schulbücher gezeigt. Niemand hat so gerne gelernt und wollte so unbedingt Lehrerin werden wie sie, damit sie für immer zur Schule gehen kann. Nun sind ihre Träume zerplatzt wie Seifenblasen. Vermutlich wird sie bald heiraten müssen und im Schatten eines Mannes verschwinden, so wie die Taliban es wünschen.

„Ich mache euch Tee!" Eifrig klappert Peghra mit dem Geschirr, während Gul sich in ihr Zimmer zurückzieht. Sie scheint sich über den Besuch zu freuen, denn seit dem Truppenabzug der Amerikaner kommen kaum noch Ausländer ins Land.

Plötzlich wird die Tür aufgerissen und Peghra stößt einen erstickten Schrei aus. Fast schon erwarte ich einen Kämpfer mit Maschinengewehr im Anschlag, doch es sind nur Sharbat und ihr kleiner Bruder. Von nun an wird sich die Familie oft erschrecken, unter den Taliban gibt es keine Garantien. Ein falsches Wort, eine falsche Anschuldigung und sie verstümmeln oder ermorden Menschen. Frauen, Kinder, Männer, es ist ihnen egal.

Während Peghra Sharbat ausschimpft, wird sie immer kleiner und kleiner, bis sie fast im Boden versinkt. Dieses Land ist für laute, fröhliche Mädchen zu gefährlich und deshalb muss Sharbat unscheinbar werden. Nur so fällt sie nicht auf, nur so lässt man sie in Ruhe.

Schließlich hält Sharbat mir die Kamera hin.

„Hat dir der Wunderapparat gefallen?", frage ich und sie nickt. Dann streicht sie ein letztes Mal über die Kamera wie über ein liebgewonnenes Kuscheltier.

„Es macht Spaß, Bilder zu machen", flüstert sie so leise, dass nur ich es hören kann. „Wenn ich groß bin, dann möchte ich genau das tun. Bunte Bilder machen."

Sharbat sieht mich aus ihren großen braunen Kinderaugen an und im Gegensatz zu denen ihrer Schwester lese ich in ihnen noch Hoffnung.

„Hoffentlich geht dein Wunsch in Erfüllung!", erkläre ich Sharbat und verdränge eine Träne. Ich weiß, dass Sharbats Träume unter den Taliban vermutlich nie wahr werden, aber ich bringe es nicht übers Herz, ihr das zu sagen.  

*

Seufzend lege ich das Bild, auf dem Sharbat so ernst in die Kamera sieht, zur Seite. Kinder sollten frei von Elend und Sorgen aufwachsen, doch während meiner Reisen habe ich zu viele getroffen, die den Schmerz ganzer Völker auf ihren schmalen Schultern trugen. Gedankenverloren schweift mein Blick weiter über die Fotografien auf dem Schreibtisch. Es gibt nicht nur Schlechtes auf der Welt, wie meine Bilder von rauschenden Festen, glücklichen Familien und atemberaubenden Landschaften beweisen. Das Leben kann aber auch grausam sein, besonders zu denen, die nicht in vorgefertigte Schubladen passen. So wie Charlie.

Mit einem Lächeln auf den Lippen halte ich ihr Foto hoch, auf dem sie in ihrem pinken Blümchenkleid, der Lederjacke und ihren langen blonden Haaren die Bühne rockt. Es gibt nicht viele Menschen, die so mutig sind wie sie. Vor allem, wenn man so viel Hass und Hetze einstecken muss, um einfach nur man selbst zu sein.

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