An der Front
Meine Zähne klappern und mein Herz rast, als ich den Soldaten mit Schutzweste und Helm durch die zerstörte Stadt folge. Vorbei an in Trümmern liegenden Häusern, ausgebrannten Autos und provisorisch abgedeckten Leichen. Es ist nicht der erste Kriegsschauplatz, den ich besuche, aber an den Geruch von Zerstörung und Verwesung und die unheimliche Stille werde ich mich nie gewöhnen.
Schließlich halten die Soldaten vor einem Häuschen an, das von den Raketen verschont wurde. Sie bedeuten mir zu warten, während sie mit geladenen Maschinengewehren ins Innere vordringen. Ob es wohl Überlebende gibt? Vielleicht verstecken sie sich und warten auf Hilfe.
Plötzlich winkt einer der Soldaten mich ins Haus. „Das musst du sehen. Das musst du fotografieren", wispert er und in seinem Gesicht spiegelt sich das pure Grauen wieder. Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. Was kann einen Menschen, der schon so viel Leid gesehen hat, noch aus der Fassung bringen?
Vorsichtig huscht mein Blick umher, während der Soldat mich ins Wohnzimmer führt. Mein Magen dreht sich herum, als ich einen der jüngeren Soldaten weinend in einer Ecke sitzen sehe. In den Augen der älteren Militärs blitzt dagegen blanke Wut auf. „Du musst ihn fotografieren, damit die ganze Welt sieht, was die Russen tun", erklärt einer von ihnen mir und zeigt auf einen sitzenden Körper, der in eine Decke gewickelt ist.
Nun hämmert mein Herz so heftig gegen meine Brust, als wolle es aus ihr ausbrechen. Die Person unter der Decke ist nicht einfach nur tot, das spüre ich. Verkrafte ich diesen Anblick? Wird er mich brechen? Nein, es geht hier nicht um mich. Ich bin es den Opfern dieses unmenschlichen Krieges schuldig, ihre Geschichte zu erzählen. Daher nicke ich, wenn auch zögernd.
Mit zitternden Händen befreit der Soldat, der mich ins Haus geführt hat, die Person auf dem Stuhl von der Decke. Wie versteinert starre ich auf das Bild des Grauens, das sich mir bietet. Um einen Menschen so zu verstümmeln, muss man vom Teufel besessen sein.
Erst nach und nach verstehe ich, was ich da sehe. Das Gesicht des Mannes ist vor Knochensplittern und Blut kaum
noch zu erkennen, so als habe man es mit einem Hammer eingeschlagen. Lose Zähne liegen auf dem Boden, an den nackten Füßen sind mehrere Nervenstränge durchtrennt und das Schlüsselbein zeichnet sich in einem merkwürdigen Winkel unter der Haut ab. Obwohl der Mann mit seinen breiten Schultern recht kräftig gebaut ist, muss er seinen Peinigern hilflos ausgeliefert gewesen sein, denn seine Hände sind mit Kabelbindern an den Stuhl gefesselt.
Schließlich bricht die brutale Realität wie eine unbezwingbare Welle mit voller Wucht über mich herein und ich sinke auf die Knie. Angst, Verzweiflung, Wut, ich fühle so vieles, aber mir fehlen die Worte.
„Du musst ihn fotografieren", erinnert der Soldat mich noch einmal und tippt auf meine Kamera.
Ich nicke, obwohl meine Hände zittern wie Espenlaub und meine Zähne wieder zu klappern anfangen. Mir fehlen die Worte, doch meine Bilder können diese grausame Geschichte von der Front auch ohne sie erzählen.
Meine Gedanken sind wie blockiert, deshalb schaltet mein Körper in den Reportermodus, den ich mir jahrelang antrainiert habe. Ich funktioniere einfach und schieße die Fotos, die den Europäern später auf den großen Tageszeitungen des Kontinents das Leid der Ukrainer ins Gesicht schreien werden.
Nachdem wir das Haus verlassen haben, folge ich den Soldaten wie ein Roboter durch die verlassenen Straßen. Was Menschen anderen antun, nur weil sie der falschen Nation, Ethnie oder Religion angehören, ist unbeschreiblich. Auf den Soldaten, die den armen Mann gefoltert haben, wird von nun an dunkler Schatten liegen. War es die Gier nach Macht, die sie antrieb? Der Hass, der in ihre Herzen gepflanzt wurde? Hat die Propaganda sie zu empathielosen Monstern gemacht, die kein Mitleid mehr empfinden können? Was auch immer es ist, ihre Taten werden Spuren hinterlassen und der innere Richter ist der einzige, dem nicht mal die schlimmsten Verbrecher entkommen können.
*
Erschöpft lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. Es ist anstrengend, an Orte zu reisen, an denen die Würde des Menschen nichts zählt. Als ich vor dreißig Jahren mit meinen Reportagen anfing, schien es bergauf zu gehen. Mit der Mauer fiel auch der Eiserne Vorhang und Millionen schnupperten das erste Mal den Duft von Freiheit und Demokratie. Immer mehr Menschen weltweit bekamen Zugang zu Schulen, Impfungen und Medikamenten. Tatsächlich schien die Welt jedes Jahr ein Stückchen besser zu werden, doch es gibt kein Licht ohne Schatten. Obwohl Fortschritte gemacht werden, gibt es noch immer viel zu viele Verstöße gegen die Menschenrechte. Weibliche Genitalverstümmelung, Unterdrückung der Meinungsfreiheit, Kinderarbeit. Manchmal kehren sogar Geister der Vergangenheit zurück, die man einst ein gutes Stück zurückgedrängt hatte. So wie diese hier.
Schneller atmend halte ich das Foto des Mannes vor der Bar hoch. Spüre seinen von Trauer und Schmerz gezeichneten, aber dennoch kämpferischen Blick auf mir. Wenn ich die Augen schließe, höre ich immer noch die Polizeisirenen und die aufgebrachte Menschenmenge vor dem raschelnden Absperrband. Es war Zufall, dass ich vor Ort war, um zu berichten. Erst am Tag zuvor war ich in der Stadt eingetroffen, um einen Freund zu besuchen. Abends schauten wir dann bei ein paar Bier in einer Kneipe Fußball. Genau wie einige der Opfer. Nur hatten sie im Gegensatz zu mir nicht das Glück, als blonder Westeuropäer zur Welt gekommen zu sein.
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