SIE
Die Nacht lag über der schlafenden Stadt wie ein samtener Umhang, gesponnen aus Sternenlicht und Finsternis. Sie füllte den Himmel, die Straßen und die Häuser, schmiegte sich an die einzelnen, umherwandernden Menschen und wich vor den gleißenden Lichtern der wenigen Autos, die langsam durch die Straßen der Stadt fuhren. Die umliegenden Felder wirkten in der Dunkelheit noch viel größer, als sie es tatsächlich waren, und der See, der am Horizont lag und nicht viel größer war als die Stadt, kam einem vor wie ein endloser Ozean, den man nur anhand den Lichtern der Sterne, die sich darin spiegelten, erkennen konnte. Hier war die Nacht jedermanns bester Freund und so friedlich, wie man es sich nur wünschen konnte.
Doch für ihn nicht, nicht heute und in keiner darauffolgenden Nacht. Wie versteinert stand er da, auf dem Friedhof, und starrte auf einen Stein. Es war kein aufwendig gestalteter Grabstein; er war aus grauem Marmor und schien schon jetzt uralt. In schlichter Schrift stand dort ihr Name, unspektakulär, einfach nur dort, um das unbestreitbare zu beteuern. Der Schriftzug bestand nur aus zwei Wörtern, und doch beschrieb er perfekt, wie sie gestorben war. Unnötig, ungewollt, kalt.
Er vergrub seine zitternden Hände in seinen Jackentaschen, konnte er es doch nicht ertragen, sie zu sehen. Den sanften, roten Stoff seiner Handschuhe zu sehen, die sich an seine Haut schmiegten. Das Blut, wie das Blut, das langsam und grausam quälend auf den kalten Boden getropft war. Und wieder brach die Wahrheit über ihn herein, unausweichlich- Er hatte sie getötet. Zu seinen Füßen lagen, tief vergraben, die letzten Überreste einer Frau, die gelebt hatte. Die Familie gehabt hatte. Sie hatte geatmet und gelacht und geweint. Und nun war sie für immer stumm und blind, nur noch ein leerer Körper. Einfach nur tot.
Plötzlich schien die Nacht kühler zu werden, sie schloss sich um ihn und bedrängte ihn. Sie drückte auf seine Augen und Ohren, säuselte Schmähungen, Drohungen und die Wahrheit. Sie war tot. Er wandte sich ab, verließ das Grab und den Friedhof, verließ die Stadt und wandte sich dem dunklen und matschigen Feldweg zu, der sich durch die Felder zog und zu einem Hügel, auf dem die dunklen Schemen seiner Hütte in den Himmel ragten. Er brauchte keine Lampe für einen sicheren Marsch, er kannte den Weg auswendig, kannte jede noch so kleine Erhebung des Bodens. Nicht einmal, als er den Schlüssel in das verrostete Schloss zwängte und die Tür öffnete, machte er sich Licht. Erst, als er die Tür seines Schlafzimmers hinter sich schloss und einen zittrigen Atemzug lang an ihr verweilte, tastete er fahrig nach dem Lichtschalter. Flackernd leuchtete die schmutzige Deckenlampe auf und tauchte den schäbigen Raum in ein unangenehmes Licht.
Er lebte allein hier, hatte die Hütte von seinem Vater geerbt und dieser sie von seinem Vater. Dementsprechend war die Hütte heruntergekommen, alt und wahrscheinlich weniger wert als ein Sack Reis. Oft knarrten die Dielen ohne ersichtlichen Grund oder ein Fenster stieß klappernd und quietschend auf. So wunderte er sich nicht weiter, als er mitten in der Nacht erwachte, weil die Zimmertür mit einem leisen, unangenehmen Kreischen aufschwang. Er setzte sich auf, schwang die Beine vom Bett und erhob sich, obwohl er befürchtete, er würde es nicht schaffen, erneut einzuschlafen. Sein Kopf schwirrte von Angst, Schuldgefühlen und Bildern des Blutes, wie es sich auf dem glatten, gefließten Boden in ein Meer verwandelte. Doch kaum hatte er die Tür geschlossen und sich wieder hingelegt, um sich den quälenden Erinnerungen an sie hinzugeben, als der Fußboden direkt vor seinem Bett knarrte. Genervt drehte er sich auf den Rücken und starrte mit weit offenen Augen an die Decke. Er würde alles dafür geben, die Zeit zurückdrehen zu können. Er wäre niemals in dieses Café gegangen, er hätte sie niemals getroffen, sich nie in sie verliebt. Er hätte es ihr nie gestanden, sie hätte ihn niemals zurückgewiesen... er hätte sie nicht getötet.
Er meinte plötzlich, eine Bewegung aus dem Augenwinkel zu bemerken und ihm stockte der Atem. Er saß kerzengerade im Bett und starrte blind in die drückende Nacht, suchte nach der leisesten Bewegung, nach einem Geräusch. Er hörte ein Rascheln, ein Tropfen. Tropf, Tropf, Tropf. Was war das? Er hatte keinen Wasserhahn in diesem Zimmer der tropfen könnte. Tropf, Tropf, Tropf. Sein Herz schien zu stolpern, als er an das Blut dachte, das Blut, das Meer, das sich auf dem Boden des Badezimmers ausgebreitet hatte. War das Atem, der in seinen Ohren rasselte? War das ein Keuchen?
Er stand auf, rannte fast durchs Zimmer und tastete nach dem Lichtschalter. Flackernd leuchtete die Lampe auf, warf ihr zittriges Licht über das Zimmer. Einen Wimpernschlag lang wirkte es, als hinge ein Schatten in der Mitte des Raumes, seltsam verzerrt, dunkler als ein Schatten eigentlich sein sollte. Dann war er weg und ließ den Mann mit offenem Mund zurück, aufgerissen zu einem stummen Schrei des Entsetzens. Er hob die zittrige Hand an sein Gesicht und wischte sich über die schweißnasse Stirn. Verlor er den Verstand? Konnte sie wirklich hier sein? Hatte er sie sich nur eingebildet?
Doch da war es wieder, das Tropfen, wie das Blut auf den Boden der Café-Toilette. Ihm wurde schlecht, es wurde lauter, kam näher verwandelte sich in ein Rauschen in seinen Ohren. Das Meer, das Meer aus Blut. Er würgte, merkte kaum, wie er auf dem harten Schlafzimmerboden in die Knie ging. Eine Gänsehaut schauderte ihn und ein Schluchzen brach aus ihm heraus. Wieder das Keuchen in seinen Ohren, und nun erkannte er ihre Stimme. Ihr Seufzen, der Todeslaut, das letzte Geräusch, das jemals ihre Lippen verlassen hatte.
Später konnte er nicht sagen, wie, aber nach einer Weile überkam ihn der Schlaf und als er am nächsten Morgen erwachte, fand er sich immer noch haltlos zitternd auf dem Boden seines Schlafzimmers. Das Tropfen war verschwunden, das Keuchen verstummt. Kein Schatten hing im Zimmer. Fast wollte er an Einbildung glauben, als er den makellos blauen Himmel draußen sah, an dem ein paar Schwalben hoch oben umherschwirrten.
Er verließ das Haus ohne zu frühstücken oder sich zu waschen, er warf sich lediglich eine Jacke über seinen Pyjama und schlüpfte halbwegs in seine Schuhe. Ohne wirkliches Ziel begann er zu rennen, über den Weg, quer über die Felder, durch Gräben und vorbei an verwirrt schauenden frühen Spaziergängern. Er stolperte über seine Schuhe, die ihm von den Füßen rutschten. Er ließ sie hinter sich, ließ alles hinter sich, wollte einfach nur weiter rennen. Noch nie hatte er sich so sehr gewünscht, jemand anderes zu sein, irgendjemand, wenn er nur nicht mehr er selbst sein und die Schuld tragen musste.
Wieder stolperte er, doch dieses Mal fiel er hin. Er landete hart auf der Erde und atmete den matschigen Geruch ein, der von ihr ausging. Den Schmerz spürte er, doch er nahm ihn freudig an, er lenkte ihn ab von den ewigen Qualen in seinem Inneren, Am Liebsten würde er hier einfach für immer im Feld liegen, verborgen zwischen halbhohem Weizen im Matsch. Er wollte nicht nach Hause, wo er das Tropfen hören würde und ihr Keuchen. Er wollte auch nicht in die Stadt, wo ihn alles an sie und seine Tat erinnerte, angefangen mit den Zeitungen, die seit Tagen über nichts anderes mehr berichteten, als über den Mord an ihr und dem noch unbekannten Mörder. Wie lange würde die Polizei noch brauchen, um ihn zu fassen? Er schluckte das bittere Brennen in seiner Kehle herunter und versuchte, nicht zu denken. An gar nichts zu denken, nur zu atmen und dem leichten Wehen des Windes zuzuhören.
Er wurde abgelenkt. Schritte schienen sich ihm zu nähern, Schritte von mehreren Personen, die sich keine große Mühe machten, die Füße zu heben. Er hörte ein unterdrücktes Schluchzen und ein Schnäuzen. Ein Flüstern.
„Ich vermisse sie so, tia", schluchzte ein Mädchen. Eine Frau antwortete etwas sanftes, er meinte, spanisch zu erkennen. Ihm wurde schlecht, ahnte er doch, von wem sie sprachen.
„Ich weiß." Ihre Stimme war fast nicht mehr zu erkennen, so erstickt war sie in Tränen.
„Wenn ich nur wüsste, wer... warum..."
„Sie hat dich geliebt, sie hat uns alle geliebt", flüsterte ihre Tante. Die beiden wechselten zu spanisch und er konnte nicht weiter folgen, doch das wollte er auch nicht. Er hatte genug gehört. Er wusste, was er tun musste.
Den restlichen Tag verbrachte er alleine in einem Café. In dem Café. Jede Sekunde erwartete, hoffte er, sie würde sich zeigen, sie würde mit ihrem breiten Lächeln durch die Schwingtüren treten, ihn erkennen, und sich mit ihren großen, unschuldigen Augen an seinen Tisch setzen. Sie würde das übliche bestellen und sie würden gemeinsam lachen und sich unterhalten. Doch sie kam nicht. Der zweite Platz an seinem Stammtisch blieb leer.
Als er sich am Abend auf seinem Bett niederließ, stand der Plan, und eine rücksichtslose Entschlossenheit hatte ihn gepackt. Er würde sie heute wieder sehen.
Die Uhr an der Wand tickte und tickte und tickte. Mitternacht kam und ging, und noch immer war nichts geschehen. Er begann zu zweifeln. Hatte er sich die letzte Nacht nur eingebildet? Er ging ins Bad und wusch sein Gesicht mit eiskaltem Wasser, um wacher zu werden. Seine Augenlider waren schwer wie Blei. Als er in den Spiegel aufblickte, sah er sich selbst, doch er erkannte sich nicht mehr. Er war nicht mehr wie früher. Er war anders, älter, trauriger. Es war, als wäre sein altes Selbst mit ihr gestorben.
Ein Klirren und einen entsetzten Schrei später lag der Spiegel in Scherben. Einige Splitter bohrten sich in seine Haut und er fluchte. Nicht wegen dem Schmerz. Wegen dem Blut. Wie hypnotisiert starrte er auf die kleinen Tropfen, die auf den Scherben glitzerten wie kleine Rubine. Sie bildeten keine Pfütze, wurden nicht zum Meer. Sie verharrten auf den Scherben und glänzten unschuldig. Er drehte sich um und setzte sich zurück auf sein Bett. Weder räumte er die Scherben auf, noch entfernte er sie aus seiner Haut. Er spürte den Schmerz als einzigen Beweis, dass er noch wirklich lebte, dass er nicht wirklich gestorben war. Er hörte das sein Blut, das auf den Boden tropfte. Und nach ein paar Minuten, die tickend auf der Uhr verstrichen waren, öffnete sich quietschend die Tür.
Er setzte sich kerzengerade hin, starrte wieder blind durch die Gegend. Er sah sie nicht, aber er hörte sie. Er hörte das Knarren des Fußbodens, ihr Keuchen und das Tropfen. Das Tropfen ihres Blutes und das Tropfen seines Blutes. Sein Herz raste, ihm wurde schon wieder schlecht, doch dieses Mal würde er sich nicht in den Schlaf fliehen. Er stand auf, stellte sich an die Stelle, an der er gestern Nacht gestanden hatte. Irgendwo vor dem Fenster schrie ein Käuzchen, als er den Blick hob und dem Schatten entgegenstarrte. Ihre Umrisse wurden klarer und wieder schwächer, als er ihr näher kam.
„Es tut mir leid", hörte er sich selbst wie von weiter Ferne sagen. Das Tropfen wurde lauter, ihr Seufzen schmerzerfüllter. Musste er dieses Geräusch immer hören, immer und immer wieder? Mit heftig zitternden Händen griff er in seine Tasche, nahm das umwickelte Päckchen und entfernte sorgsam den Stoff. Das Messer darin war verkrustet von getrocknetem Blut. Ihrem Blut. Ein Würgen packte ihn, als ihre Todesqual zu einem schrillen Schrei in seinen Ohren wurde. Er näherte die Klinge seiner Brust. Und bevor er zustieß, meinte er, ihre großen, unschuldigen Augen in den Schatten zu erkennen, und ihr Keuchen war sein Keuchen. Das Meer aus Blut gehörte ihm.
Der Morgen brach an und tauchte die Stadt in ein Farbenspiel aus gold, rot und orange. Das Sonnenlicht flutete in die Häuser und durch die Straßen, erweckte alles wieder zum Leben. Die Bewohner der Stadt begannen, sich zu regen, und strömten auf die Straßen, um in einem der Cafés zu frühstücken. Die Polizei jedoch war schon seit Stunden auf den Beinen. Schon vor der Dämmerung hatten sich die Beamten auf den Weg zu der kleinen Hütte auf dem Feld gemacht, um den neuen Hauptverdächtigen im Fall der ermordeten Frau festzunehmen. Doch als sie die Hütte betraten, mussten sie feststellen, dass Rick Carden tot war. Er hatte sich das Leben genommen, um bei der Frau zu sein, die er schon immer geliebt hatte.
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