Kapitel 99

Donnerstag, 26. Oktober

Can

"Toxikologie und die Pharmakologie sind schon etwas tolles", nuschelt Shana. Sie wirkt seit Wochen müde und erschöpft. "Shana, hast du überhaupt geschlafen?" Kaum bei der Sache nickt sie und knabbert an ihrem Keks. Jetzt fängt das schon wieder an. Isst sie jeden Winter Butterkekse? Ist das eine Art Ritual? Ich hasse diese Kekse. Shana achtet nie auf ihre Ernährung. Ihre Haut wirkt blasser und sie hat Augenringe. "Sag mir die Wahrheit." Ungeduldig trommele ich auf dem Lenkrad herum und analysiere ihr schläfriges Gesicht. Wieso bleibt sie so lange wach? "Hast du schon angefangen für die Pharmakologie Klausur zu lernen?", kommt es leicht zornig von mir. Shana übertreibt es immer mit dem lernen und sieht es nie ein. "Als ob du nicht angefangen hast", murmelt sie und gähnt. "Jetzt fahr los, ich muss wissen, was klausurrelevant ist." Argwöhnisch fahre ich los und halte ihre kalte Hand fest. Ihre Hände sind sonst immer warm. "Shana, bist du krank?" Mit meiner Hand taste ich ihre Stirn ab, fühle aber nichts. "Nein, Can. Es ist nichts." Sie schiebt meine Hand weg und dreht mir den Rücken zu. Habe ich etwas falsch gemacht? Ich habe sogar das Gefühl, dass sie mich nicht einmal küssen will. Wenn ich sie in der Uni küsse, erwidert sie es nur halbherzig. Ist es ihr unangenehm? Als wir aussteigen, nimmt Shana ihre Rose nicht mit, was mich irgendwie... ich weiß nicht, ich fühle mich komisch. Ich mag das nicht. Sonst nimmt sie ihre Rose doch immer mit. Mag sie meine Rosen nicht mehr? Sie schwankt leicht. Sicher, dass es ihr gut geht? "Shana, du verheimlichst mir etwas." Sie atmet tief ein und seufzt dann. "Nein." Als ob ich ihr glaube. Shana will weiter laufen, weswegen ich sie am Arm zurückziehe. Sie schnalzt leise mit ihrer Zunge und schaut zu mir. "Can, lass es heute einfach gut sein, okay? Es waren nur ein paar harte Nächte, aber es zahlt sich aus." Sie entfernt meine Hand und läuft weiter. Harte Nächte? "Shana, was ist passiert?" Sie schließt ihre Augen und seufzt. "Cihan?" Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Er ist nicht mehr wie früher, Can." Es stört mich, dass sie ihn verteidigt. Er hat sie genötigt, wieso sagt sie so etwas? "Du erinnerst dich daran, was er gemacht hat?", presse ich hervor, woraufhin sich ihre Augen verdrehen. "Can, diskutier nicht am morgen mit mir, wenn ich müde bin", kommt es genervt von ihr. Sie läuft weiter, ohne auf mich zu warten und begrüßt Aykan. Muss sie jetzt auch noch diesen Lappen begrüßen?! Ich laufe auf die beiden zu und ziehe Shana in den Seminarraum. "Can, war das gerade dein Ernst?" Shana hört sich gar nicht begeistert an. "Es gefällt mir nicht, dass du mit ihm redest." Gerade will sie etwas ansetzen, doch sie fährt sich einfach nur über ihre Stirn. "Vergiss es. Wir haben uns vielleicht vor zwei Wochen vertragen." Sie läuft genervt an mir vorbei und holt ihre Sachen raus. Wenn sie nicht diskutiert, ist es besser für mich. Ich lasse mich neben Shana nieder und mustere sie. Ihre Unterlippe steht hervor: sie ist sauer. "Sei mir nicht sauer, Shana." Finster schaut sie zu mir. "Komm schon." Ich will ihr in die Seite piksen, doch sie schlägt meine Hand weg. Okay, sie ist sauer. Ich glaube, ich sollte aufhören, sie zu reizen. Aber sie soll dann aufhören mit Aykan zu reden, der sich gerade hinsetzt. "Du siehst müde aus." Wow, was ein Blitzmerker! Shana nickt ihm zu und zeichnet Kreise in die Ecke ihres Blockes. Okay, du musst meine Freundin nicht noch weiter anschauen! Aykan bemerkt meinen Blick und zieht seine Augenbrauen zusammen. Auch Shana hat die Augenbrauen zusammengezogen, als sie sich zu mir dreht. "Gibt es ein Problem?", möchte Aykan wissen, weswegen ich ihn am liebsten kaputtschlagen will. "Ja, du-," "Can", mischt sich Shana ein und klingt warnend. Ich beiße meinen Kiefer zusammen und drehe mich schnaubend zum Professor. Wie gut, dass wir seit einer Woche, dank des Praktikums, nur noch eine Stunde und fünfundvierzig Minuten in diesem Seminar sitzen müssen.

"Es handelt sich um eine Leberzirrhose", sagt Shana und zeigt auf die Elektrophorese. "Hier ist das Albumin vermindert und hier sind die γ-Globuline vermehrt. Die α- und β-Globuline sind normal." Sofort schreibt sich Shana das Ganze auf und fragt noch einmal den Dozenten, ob es auch richtig ist, was er ihr bestätigt. Sie grinst stolz und fängt mit der Kapillarelektrophorese an. "Kümmere dich um dein Praktikum, statt mich zu beobachten, Can", kommt es gleichgültig von ihr. Was habe ich wieder getan? "Wieso bist du so sauer auf mich?", will ich argwöhnisch wissen. "Ich bin nur müde", grummelt sie. Müde, pah! Hat sie ihre Tage? Aber Shana ist sonst selten launisch, wenn sie ihre Tage hat. Es könnte vielleicht wirklich daran liegen, dass sie müde ist. Aber dafür wirkt sie relativ frisch, wenn sie seit Tagen nicht richtig geschlafen haben sollte. Wieso hat sie überhaupt nicht geschlafen? Hat sie Stress? "Ich habe eine Musterklausur für die klinische Chemie. Das drucke ich dir aus. Sind dreizehn Seiten." Wenn sie es mit dem lernen wieder übertreibt und sich nicht regelmäßig bewegt, kriegt sie noch einen Anfall. Ich muss Shana wieder zu mir schleppen, sie mit richtigem Essen versorgen und ihr beibringen, dass auch Medizinstudenten Pausen brauchen. "Dann können wir ja zu dir", schlage ich vor, woraufhin Shana mit ihrer Zunge schnalzt. Das ist jetzt nicht ihr verfickter Ernst! "Du hast es immer noch nicht gebeichtet?!", herrsche ich sie an und knalle meinem Stift auf den Tisch. "Can, bitte", kommt es mit Druck von Shana. "Wieso?", will ich wissen. Es ist mir scheißegal, ob jetzt irgendwelche Idioten zuhören. "Weil ich einfach nicht dazu gekommen bin. Wenn ich endlich nach Hause gekommen bin, waren die beiden schon am Schlafen." Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Endlich? "Wie? Wer hat dich gefahren und wo warst du?" Ich nähere mich Shana, die zurücktritt. "Das ist doch vollkommen egal, Can. Jetzt hör auf und konzentriere dich auf dein Praktikum. So handelst du dir nur Minuspunkte ein." Schnaubend drehe ich mich zu meinen Notizen und könnte am liebsten alles kaputt schlagen. Gott, wieso sagt sie es nicht?! Wieso konnte sie mich auf dem beschissenen Parkplatz vor diesem verfickten Studenten küssen, kann es ihren Freundinnen aber nicht beichten, die mit ihr unter einem Dach wohnen? Wo ist sie denn immer unterwegs und vor allem mit wem? Wenn es Aykan oder Cihan ist, der für ihre Müdigkeit sorgt und sie hin und her kutschiert, dann sind alle beide dran. Von Shana werde ich die Information nicht kriegen, sie ist zu stur um es mir zu sagen, aber wieso zum Teufel will sie es nicht sagen? Was verheimlicht sie vor mir?

Sie hat sich doch nicht mit Aykan zum Lernen getroffen oder? Und sie ist doch nicht zu Cihan hochgegangen? Ich hoffe sehr für sie, dass sie es nicht getan hat, denn es wird ihr nicht zu Gute kommen. Gott, wenn ich alleine schon daran denke, dass Shana bei Cihan war, könnte ich ausrasten. Ich schaue zu Shana, die mit ihren Werten beschäftigt ist und nebenbei noch etwas auf ihren Block schreibt. Sie ist so vertieft, dass sie mein Beobachten gar nicht mitbekommt. Ich muss es jetzt herausfinden! Dem Dozenten gebe ich Bescheid, dass ich kurz auf die Toilette gehe und laufe in den Nebenraum, wo ich Shanas Handy aus ihre Jackentasche fische und mich auf den Flur begebe. Hat sie mir einmal ihren Code gesagt? Ich glaube nicht. Aber ich habe oft genug auf ihr Display geschaut, als sie ihr Handy entsperrt hat. Ich tippe 4642 ein und durchstöbere ihre Chats. Bei Aykans Namen ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. Das letzte Mal war gestern.

'Hast du die Charakteristika der Amphotericin B?', hat Aykan ihr geschrieben. Passt du in den Vorlesungen nie auf?!

'Ja.' Sie hat weder ein Bild noch einen Text verfasst. Nein, Shana ist zu faul und gleichzeitig so schlau und sagt alles auf.

'Sie gehören doch zu den Echinocandinen oder?' Kannst du nicht in deinen Notizen stöbern, statt meine Freundin zu belästigen?!

'Nein, zu den Polyenen.'

'Ach so, stimmt. Danke, Shana.'

'Kein Ding. Sag Bescheid, falls du noch Hilfe benötigst.' Und wieso zum Teufel bietest du ihm deine verfickte Hilfe an?!

'Danke, mache ich. Wie geht es dir?' Versucht dieser Bastard gerade Smalltalk mit meiner Freundin zu führen?

'Ganz gut, bin zwar etwas müde, aber sonst geht es und dir?'

'Auch gut, störe ich dich denn? Wolltest du schlafen? Ich kann dich auch morgen in der Uni fragen.' Am Besten wäre es, wenn du sie gar nicht fragen würdest, Aykan!

'Alles gut, du kannst mir ruhig schreiben.' Ach, du willst also mit ihm schreiben?!

Will mich Shana komplett verarschen?! Wieso schreibt sie mit Aykan, wenn sie ganz genau weiß, was ich von ihm halte. Ich brauche etwas, was ich kaputt machen kann! Ich muss mich abregen! Ich kann nicht einmal ins Fitnessstudio gehen, weil ich hier festhänge. Gott, ich könnte ausrasten! Aus dem Chat werde ich auch nicht schlauer, doch aufgeben tue ich nicht. "Was zum Teufel machst du an meinem Handy?!" Fuck! Shana reißt mir wütend ihr Handy aus der Hand und schaut auf den Chat, woraufhin sie spöttisch auflacht. "Ist das dein beschissener Ernst, Can?" Sie atmet tief durch und tut ihr Handy weg. "Willst du mich komplett verarschen, Can?" Sie wird immer lauter, was mich reizt. Sie soll mich nicht anschreien. Ich hasse es, wenn sie ihre Stimme erhebt. "Wieso schreibst du auch mit Aykan?", herrsche ich sie an, woraufhin sie verständnislos ihre Augenbrauen zusammenzieht. "Weil er ein Freund ist? Bist du komplett gestört, Can?" Ich spanne meinen Kiefer an. Ein Freund. Ich bin nicht gestört! "Ich werde ganz sicherlich keinen Kontakt mit ihm abbrechen, weil du kein Vertrauen in mir hast und mein Handy ohne meinen Willen durchstöberst. Wie krank bist du im Kopf?" "Zügel deine Zunge, Shana", presse ich hervor und nähere mich ihr. Ich kann es überhaupt nicht ab, wenn sie mich beleidigt. Vor allem nicht, wenn sie etwas sagt, was auf mich zutrifft. Nein, ich bin nicht krank! "Ich werde ganz sicherlich nicht still sein, nachdem du mir bewiesen hast, dass du mir nicht vertraust, Can. Für wen hältst du dich, huh? Nur weil wir eine Beziehung führen heißt es nicht, dass du meine Sachen durchstöbern darfst oder soll ich jeden deiner Kollegen ausfragen, bis ich weiß, mit wie vielen du vor mir Sex hattest und wie viele du verarscht hast?" Meine Hand ballt sich zur Faust und ich will am liebsten die Tür neben Shana demolieren. "Das ist schon längst Vergangenheit", knurre ich. Mir passt Shanas Verhalten überhaupt nicht. "Glückwunsch, dein Misstrauen ist die Gegenwart, Can." Wie sie mit ihren Gestiken ihren Satz noch provokanter macht, macht mich immer und immer aggressiver. Ich brauche dringend etwas zum Schlagen. Jetzt. Sofort! "Jetzt erklär mir dein dummes Verhalten, los." Sie verschränkt ihre Arme vor ihrer Brust und schaut mich abwartend an. Was soll das denn jetzt? "Was versuchst du da?", gebe ich spottend von mir, woraufhin ihre Augen für einen Moment groß werden. "Ich will, dass du mir deine Aktion erklärst!", zischt sie. "Da gibt es nichts zu erklären." Arrogant blickt sie mich an. "Ach, du hattest also nichts Besseres zu tun, als mein Handy zu nehmen und meine Privatsphäre zu stören? Falls du den Grund für meine Müdigkeit wissen willst: du kriegst es nicht heraus, also gib lieber jetzt schon auf, Can. Du machst dich lächerlich." Ich mache mich lächerlich? Verächtlich schnaube ich. "Findest du es nicht lächerlich, dass du deine Beziehung verleugnest?" Sofort stöhnt sie genervt auf. "Wie oft willst du noch auf diesem Thema herumhaken? Wie oft willst du die Wunde noch auffrischen? Ich habe keine Zeit dafür, Can. Versteh das!", ruft sie und fährt sich über ihre Stirn, wobei sich ihre Augen verdrehen. "Einen Scheiß werde ich machen!" Seit wann lasse ich mich von jemanden herumkommandieren? Ihr Blick wird kurz fassungslos, bevor sie ihre kühle Miene aufsetzt. "Dann laber mich nicht voll, ganz einfach!" Ist das überhaupt Shana, die gerade mit mir redet? Das ist ihre sture und arrogante Seite. "Seit wann bist du so frech, huh?" Ich greife nach ihrem Kiefer, weswegen sie ihre Nägel in meine Hand krallt. Wegen ihren scheiß Nägeln habe ich immer kleine Wunden. "Wenn du die Wahrheit als frech empfindest, solltest du dir jemanden suchen, der dich immer anlügt."

"Shana", knurre ich mahnend und ziehe sie näher an mich ran. "Das bringt dich auch nicht weiter, Can", keift sie. "Du bist so verdammt selbstverliebt, Shana." Sie kneift ihre Augen zusammen. "Ach ja?" Zynisch nicke ich. "Du bemerkst nichts. Du machst nur das, was dir gefällt. Ist es dir nicht aufgefallen, dass ich dir eine Zeit lang nie selbst die Rosen gebracht habe?" Abwartend und abwertend hebt sie ihre Augenbraue. "Doch, ich habe Augen im Kopf." Ihr verachtender Ton, führt dazu, dass sich meine Rückenmuskulatur anspannt. "Weißt du auch wieso?!", zische ich und ziehe sie an ihrem Kiefer noch näher an mich heran. "Nein", blafft sie. "Weil du dich auch so wie ich fühlen solltest!", brülle ich schon fast. Wieso versteht sie es nicht? Was ist daran so schwer? Verwirrt und argwöhnisch zieht sie ihre Augenbrauen zusammen. "Du verleugnest mich vor deinen Freunden, nein, vor jedem und dasselbe Prinzip habe ich bei den Rosen angewendet. Aber du hast nur an dich gedacht-," "Ich habe gedacht, dass du es akzeptiert hast. Deine verdammte Ignoranz trichtert dir nur Scheiße ein und jetzt lass mich los!" Sie schlägt meine Hand weg und blickt mich finster an. "Ganz ehrlich? Sprich mich am besten nicht mehr in der Uni an. Vielleicht werde ich es dann verstehen", höhnt sie. Das reicht! Ich drücke sie mit voller Wucht gegen die Wand, weswegen sie erschrocken nach Luft japst. Mein Atem hat sich beschleunigt und meine Wut kann man schon aus fünf Metern erkennen. "Du wirst mir gar nichts vorschreiben, hast du mich verstanden?", gebe ich bedrohlich von mir. Ihre Augen sind leicht geweitet und ihre Augenbrauen sind zusammengezogen. "Hast du mich verstanden?" Ich packe ihren Kiefer und drücke vor Wut ihre Wangen zusammen. "Du hast überhaupt nichts zu bestimmen. Du bist niemand, der mir etwas zu sagen hat", knurre ich. Ihre Hände greifen nach meiner und wollen meine Hand von ihrem Gesicht befreien, was nur dafür sorgt, dass ich fester zupacke und ihr ein Wimmern entflieht. Ihre Augen füllen sich mit Tränen und ihre Augen zeigen ein Gemisch aus Angst und Wut. "Lass mich los", flüstert sie. "Lass mich los!" Sie reißt sich aus meiner Hand und fährt sich über ihre Wangen, die schon rote Flecken angenommen haben. "Krieg deine Wut unter Kontrolle, bevor du mich wieder anfasst." Habe ich... habe ich ihr wehgetan? Fuck! Ihr entkommen Tränen, die sie sich schnell wieder wegwischt. "Shana, das-, das-," "Rede nicht, Can. Rede einfach nicht mehr mit mir. Bleib mir diesen Monat einfach fern!" Sie läuft, nein, sie rennt schon fast zu den Toiletten und schließt die Tür mit einem Lauten knall. "Fuck!", zische ich und fahre mir durch mein Haar. Ich habe ihr wehgetan. Ich wollte ihr doch gar nicht wehtun! "Ich habe meine Wut unter Kontrolle, Shana!", knurre ich und lasse meine Faust zur Wand schießen. Heute werde ich nicht an der Doktorarbeit arbeiten, heute werde ich die ganze Zeit meine Wut rausboxen. Sie will nicht mehr mit mir reden. Ich soll sie in der Uni nicht mehr ansprechen. Verfickte Scheiße, wie soll das weiter gehen?!

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