Kapitel 89

Freitag, 28. Juli

Es sind vier weitere, stille Tage vergangen, die ich erstaunlich gut weggesteckt habe. Vielleicht liegt es daran, dass ich jeden Tag ins Labor gegangen bin, mir den Kopf mit meinen Medizin Notizen vollgehämmert habe und wieder mal im Vapiano gearbeitet habe, aber es hilft. Mit meiner Arbeit bin ich ein Stück weitergekommen, dank meinen Recherchen. Ich warte, bis ein bestimmter Stoff an die Universität geliefert wird, damit ich damit arbeiten kann. Ich hoffe so sehr, dass es die Krebszellen tötet und ich es schaffe, ein Mittel zu kreieren. Es wäre doch wunderbar, wenn ich es schaffen würde und manchmal stelle ich mir vor, wie ich dann mein Mittel der Welt vorstelle und geehrt werde. Ich habe aber auch bedenken, dass ich von der Pharmaindustrie unter Druck gesetzt werde, aber was nicht ist, kann mir nicht schaden. Gerade verlasse ich die Uni und beschließe mich die ganze Strecke bis zum Bahnhof zu laufen, da das Wetter heute absolut toll ist und der Himmel eine schöne Farbe angenommen hat. Aykan war auch im Labor. Wir haben uns ausgetauscht und über unsere Arbeiten geredet. Er spezialisiert sich auf Blutkrebs bei Kindern. Ich habe das Reden ihm überlassen, weil ich lieber zuhören wollte, anstatt selber zu erzählen. Was soll ich denn schon großartig erzählen, wenn er mir sagt, dass er wieder bei seinen Eltern ist? Soll ich etwa ansprechen, dass Can mich gefangen gehalten hat und dass wir fast Sex hatten? Nachdem ich irgendwann am Hauptbahnhof angekommen bin, laufe ich runter, um die U-Bahn zu nehmen und höre, als mein Song zu Ende geht, Cans Lache, weswegen ich etwas panisch den Kopf anhebe und ihn mit ungefähr sieben anderen Jungs weiter entfernt von mir stehen sehe. Soll ich zu ihm gehen? Vielleicht sollte ich es tun, aber irgendwie kann ich mich nicht bewegen. Ich senke einfach den Blick und schalte die Musik aus, damit ich zuhören kann. Ich will wirklich auf Can zulaufen, aber mein Stolz lässt es nicht zu. Was, wenn er mich abwertend ansehen würde? Das würde er nicht tun. "Ist das nicht deine Verlobte?" Verlobte? Ich hebe meinen Blick und sehe, wie Can mich vorsichtig anlächelt, bevor er dann auf mich zuläuft. Ich komme ihm zögernd entgegen und spüre, wie mein Herz anfängt schneller zu schlagen. Ich nehme meine Kopfhörer raus und schlucke, als wir voreinander stehen. Meine Angst muss er sehen, weswegen er leicht schuldbewusst die Augenbrauen zusammenzieht. Da ich nicht weiß, was ich tun soll, hebe ich zögernd meine Arme an und umarme ihn vorsichtig, was er sofort erwidert und meinen Scheitel küsst. Vor Erleichterung kommen mir die Tränen hoch, die ich nicht unterdrücke. Es ist doch vorbei, oder? Es ist so verdammt erleichternd, in seine Arme genommen zu werden und seine Wärme nach so vielen Tagen wieder spüren zu können. Leise ziehe ich seinen Duft ein, vergrabe mein Gesicht in seiner Brust und wische mit seinem Oberteil meine Tränen weg. Langsam hebe ich meinen Blick an und sehe hoffnungsvoll in seine gelben Augen, die ich vermisst habe. Zärtlich streicht er mir über meine linke Wange, weswegen sich auf meiner linken Körperhälfte eine Gänsehaut bildet. "Nicht weinen." Seine Stimme ist so weich und so seidig, obwohl sie doch so tief und rau ist. Er wischt mir über meine Augen und küsst meine Stirn, was einen wohligen Schauer auslöst. Ich liebe es, wenn er meine Stirn küsst. "Dein Oberteil ist ein bisschen nass", weise ich ihn darauf hin und zeige auf meine Tränen, die sein T-Shirt nass gemacht haben. "Danke." Er lächelt und streichelt meine Seiten. "Wo warst du? Es ist ziemlich spät." Ich nähere meinen Kopf Cans Gesicht und fange an an seinem Mund zu riechen, weswegen er mich verwirrt ansieht. "Du hast-," Ich rieche wieder und fühle mich wie ein Hund, was mir aber gerade egal ist. Meine Nase nähere ich immer mehr Cans Mund, bis meine Nasenspitze in seinem Mund ist und er anfängt zu lachen. "Wenn du möchtest, dass ich deine Nase küsse, musst du es mir nur sagen." Ich lasse mich nicht beirren und weiß jetzt, von wo der Geruch herkommt. "Du hast bei KFC gegessen." Ich wische mir über meine Nase und spitze meine Lippen. "Eine gute Nase hast du." Er tippt mir auf meine Nase und legt einen Arm um mich. "Komm, ich stelle dich meinen Kollegen vor." Erleichtert lasse ich meine Schultern sacken. Es ist endlich vorbei.

Beschämt heben sich meine Schultern aber wieder, als wir uns den Jungs nähern. "Das ist sie", sagt Can mit Stolz in der Stimme und legt seine Hand auf meinen Rücken. Alle geben mir die Hand und nicken anerkennend. Kurz danach kommt meine U-Bahn, weswegen ich mich von Can verabschieden will, er sich jedoch von seinen ganzen Kollegen verabschiedet und mit mir in die U-Bahn steigt. "Du hättest ruhig bleiben können", nuschele ich und spiele an einer Strähne, die mir aus meinem Dutt raushängt herum. "Ich lasse dich um diese Uhrzeit nicht alleine rumlaufen." Wie Can einfach jetzt wieder das komplette Gegenteil ist. Mir kommen die letzten Tage wieder in den Sinn, weswegen ich mit zusammengepressten Lippen aus dem Fenster gucke. Etwas verängstigt bin ich immer noch, obwohl ich mir jetzt vorstellen kann, Can anzuschreien, falls er mir dumm kommt. An meiner Haltestelle steigen wir schweigend aus und laufen langsam die Treppen hoch. Er merkt ebenfalls, wie angespannt die Situation ist, auch wenn die Umarmung gerade eben wundervoll war. Can bleibt stehen, was ich ihm nachmache und ihn abwartend ansehe. "Möchtest du dich irgendwo hinsetzen?" Ich nicke. Wir wollen versuchen zu reden. Wir setzen uns auf die Bank, die von einem Kirschblütenbaum geschützt wird und sehen uns in die Augen. Etwas unbehaglich fahre ich mir über meine Schenkel, während Can sich seine Hände reibt. "Die Tage sind... nicht gut verlaufen", drückt Can sich sanft aus. Ich nicke stumm und warte, dass er weiter spricht. "Ich war zu..." Can brummt leise und fährt sich durch sein schwarzes Haar. "Ich habe dich zu brutal behandelt und ich schäme mich auch dafür. Ich weiß nicht wieso ich plötzlich so war. Ich war von meiner Wut überhäuft und deswegen verliere ich oft die Kontrolle. Ich wollte und würde dir niemals wehtun wollen. Falls ich dir wehgetan habe, dann entschuldige ich mich tausendmal, es kommt unbewusst. Ich will es gar nicht und... ich war so auf Abstinenz und dann als ich das mit Aykan erfahren habe, hat mich verrückt gemacht. Ich war und bin immer noch sauer, dass du es vor mir verschwiegen hast." Sein Mimik bleibt weich und verhärtet sich nicht. Vermutlich, um mich nicht zu verschrecken. Ich nicke und beiße auf meine Lippe. "Ich wollte nur eine Schlägerei verhindern", nuschele ich und spiele an meiner Strähne. Er seufzt und fährt sich durch sein Haar, bevor er mich an sich zieht und meine Schläfe küsst. Ich weiß nicht wieso, aber jetzt machen mich seine Berührungen so sentimental. Weil ich ihn vermisst habe, machen mich seine Berührungen so sentimental. "Lass es uns vergessen, Shana. Ich will mich nicht von dir fernhalten müssen." Ich nicke kräftig und drücke mich fester an ihn, als ich meine Arme um seinen Nacken schlinge. "Du warst so... so verängstigend." Langsam fährt er meinen Rücken auf und ab und seufzt. "Hast du irgendwelche Flecken deswegen davontragen müssen?" Besorgt mustert er meine Unterarme und atmet erleichtert aus, als er nichts findet. "Sag mir sofort Bescheid, wenn ich dir wehtue. Ich merke es nie." Er küsst meine Hände und schaut mir dann in die Augen, woraufhin ich den Blick senke. Es ist immer noch so komisch. Ich fühle mich immer noch verwundet, aber ich bin mir sicher, dass ich nur etwas Zeit brauche. Ich kann es nicht so schnell vergessen, aber ich glaube, je mehr Can und ich uns wieder nähern, umso schneller geht es. Ich hoffe einfach, dass es nie wieder passiert. Ich bin eigentlich eine der Personen, die es liebt zu diskutieren und sich von einem Streit nie unterkriegen lässt, aber mit Can ist es so anders. Er ist der Einzige, der mich verletzen kann. Nur seine Worte können mich wirklich mitnehmen und zum Verändern bringen. Ich stehe langsam auf, um mich auf den Weg nach Hause zu machen. "Können wir heute telefonieren?" Unsicher beißt er sich auf die Unterlippe. "Ja", flüstere ich und laufe mit ihm bis zu mir hoch, bevor ich ihn vor meiner Haustür umarme und vorsichtig von ihm ablasse. "Bis später dann." Ich winke noch einmal leicht zu meinem Satz und trete leise in die Wohnung ein. "Shana?", ruft Ranja aus dem Wohnzimmer. "Ja?" Ich ziehe mir meine Schuhe aus, öffne meine Haare und setze mich zu ihr aufs Sofa. "Hunger?" Ich schaue sie vielsagend an. "Sehr." Grinsend zeigt sie auf den Ofen, weswegen ich aufspringe und den Auflauf raushole. "Sogar warm." Ich steche sofort mit meiner Gabel rein und brumme zufrieden. "Hast du das Maggi Gewürz in die Soße gemischt?" Sie bejaht es. Ich esse und summe vor mich hin, als dann mein Handy klingelt und ich Cans Anruf abnehme.

"Ja?"

"Isst du gerade?"

"Ja."

"Ach so. Ich hätte dir auch etwas kaufen können. Wieso hast du nicht gesagt, dass du Hunger hast?" Meine Augen verdrehen sich.

"Weil ich auch hier zu Hause essen kann." Ranja sieht mich fragend an, doch ich winke nur ab.

"Natürlich, weil du zu stur bist, um mein Geld anzunehmen." Genau.

"Wo warst du heute? Es war schon ziemlich spät, findest du nicht?" Wieder verdrehe ich meine Augen. Ich merke, mit wie viel Vorsicht Can redet.

"Ich war im Labor. Kriege spätestens Montag meine Chemikalie, wegen den Krebszellen. Ich hoffe so sehr, dass es klappen wird."

"Wird schon. Es gibt auch bestimmte Bestandteile von Lebensmitteln, die helfen sollen." Da mir Ranjas unauffälligen Blicke zu neugierig werden, esse ich schnell zu Ende und husche in mein Zimmer.

"Ja, das stimmt. Gemüse, Obst, Rotwein und dunkele Schokolade. Das Resveratrol oder Polyphenol sollen gut helfen. Ich muss die zwei auch unbedingt bestellen." Mir fällt erst jetzt auf, wie wir versuchen eine Konversation zu führen. Jetzt kehrt Stille ein, weswegen ich mich unwohl fühle und mich deswegen winde.

"Bananen helfen nicht bei Krebs. Kalim-40, das ist radioaktiv", nuschele ich.

"Was hast du denn bestellt?", fragt er mich.

"EBC-46, ich habe gelesen, dass es gut sein soll. Es soll auch Tumore schrumpfen lassen haben, aber sie ist nicht als Krebsheilmittel verifiziert und wurde eigentlich nur an Tumoren getestet. Außerdem schlägt sie bei Metastasen nicht an." Es kehrt wieder Stille ein, weswegen ich mir auf meine Lippe beiße. Wie kann ich ein Thema ansprechen, worüber wir bis tief in die Nacht reden können?

"Du findest ebenfalls nichts, damit wir diese peinliche Stille überbrücken können?" Ich lasse ein kleines Lachen ab und seufze.

"Mir fällt gar nichts ein", flüstere ich.

"Du bist die Meisterin, wenn es um Konversationen geht", sagt Can mit einer leicht ironisch angehauchten Stimme von sich.

"Das Talent liegt mir im Blut", gebe ich schmunzelnd von mir.

"Das musst du mir aber beibringen."

"Es ist eine wahre Kunst. Nicht jeder kann so perfekt sein, wie ich."

"Und so selbstverliebt." Meine Augenbraue hebt sich amüsiert.

"Soll ich dir wieder erklären, wieso es gesund ist, sich zu lieben?" Ich höre ihn lachen, was mich wohlig erschaudern lässt.

"Es taugt von einem gesunden Menschenverstand und einer guten Psyche, Doktor."

"Wow, da hat jemand seine Hausaufgaben gemacht."

"Bei dir habe ich keine andere Wahl. Du ziehst das Lernen am liebsten allem vor." Da hat er schon irgendwie recht.

"Lernen ist wichtig, vor allem für uns Mediziner."

"Warst du eigentlich schon immer so emanzipiert?" Wenn er doch nur wüsste.

"Nein, das hat auf der Realschule angefangen. Davor war ich einfach nur schüchtern und aggressiv. Meine Meinung konnte ich nie äußern und falls ich mit einer Freundin Streit hatte, habe ich immer geweint, ich Trottel." Ich höre ihn wieder lachen.

"Ich kann mir schon vorstellen, wie du als Grundschülerin aussahst." Ich fange an zu lachen.

"Mit abstehenden und schiefen Zähnen, trockenen Lippen und immer wechselnden Strähnen im Haar? Vergiss die Zeit mit dem Pony nicht."

"Du hattest einen Pony?"

"Ja, diese Zeiten waren katastrophal. Ich war das Versuchskaninchen meines Vaters. Im Kindergarten hatte ich sogar einen Vokuhila. Ich kann mir meine Kindergarten Fotos nicht ansehen. Und als ich ein Pony hatte, ging es komisch zur Seite, weil mein Haar lockig wurde immer. Es war katastrophal."

"Ach ja, dein Vater ist ja Friseur", sagt Can und lacht.

"Ich will deine Kindheitsfotos sehen, Shana."

"Und ich deine, Can. Deine werde ich auf jeden Fall sehen können, wenn wir bei deinen Eltern sind, aber wenn ich mit dir in die Wohnung meiner Eltern trete, weiß ich nicht, ob ich lebend daraus komme." Es ist wieder still.

"Aber... irgendwann wirst du es doch deinen Eltern sagen, oder? Also, dass wir zusammen sind." Kaum zu glauben, dass Can sich von so einer Sache verunsichern lasse kann.

"Natürlich, nur ist es bei meinen Eltern so, dass ich dann innerhalb des Jahres noch heiraten soll und das ist zu früh. Das passt nicht mit dem Studium zusammen. Und mit zweiundzwanzig heiraten ist auch etwas zu früh, findest du nicht?" Kurze Zeit kommt nichts zurück.

"Mir ist es egal. Ich kann jeder Zeit", sagt er dann vollkommen neutral.

"Natürlich", kommt es leicht ironisch von mir, als ich meine Augen verdrehe.

"Als ob es ein Arzttermin ist, Can. Es geht ums Heiraten", gebe ich ganz leise von mir, damit es die Mädchen nicht mitbekommen.

"Heiraten ist doch schön oder nicht?" Ich weiß, dass Can sich gerade tausend Gedanken macht. Er muss seine Stimme nicht verstellen und ich muss ihn auch nicht sehen, um zu wissen, dass er darüber nachdenkt.

"Natürlich. Auf Shevins Hochzeit wurde es mir auch richtig klar, aber ich bin noch nicht bereit."

"Aber irgendwann schon, ja?" Ein kleines Lachen entflieht mir.

"Ja, irgendwann muss ich es tun."

"Aber mit mir und mit niemand anderem, oder?" Seine Unsicherheit lässt mich leise lachen. Es ist so total süß, dass er so ruhig und schüchtern wird.

"Ich habe keine andere Wahl, findest du nicht?" Er brummt.

"Was anderes kommt nicht in Frage." War ja klar.

"Was anderes hätte ich jetzt auch nicht von dir erwartet", entgegne ich.

"Du kennst mich halt sehr gut."

"Hoffentlich kenne ich dich bald zu gut." Ich höre mich leicht mysteriös dabei an.

"Möchtest du etwa die Große meiner Unterhosen herausfinden?" Ich rolle mich vom Bett runter und ziehe aus meiner Unterwäscheschublade Cans Unterhose hervor.

"Du trägst M."

"Du auch." Ich presse meine aufeinander und zucke mit meinen Schultern. Das ganze Intime zwischen uns kommt mir so unangenehm vor.

"Du ziehst dich zurück", stellt Can fest.

"Schon länger." Er seufzt.

"Das was passiert ist, ist Vergangenheit. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich versuche mich zurückzuhalten und ich werde dich nicht mehr an Stellen anfassen, an denen du nicht berührt werden willst, versprochen." Leicht lächele ich. Es freut mich, dass Can sich so bemüht.

"Ich versuche mich wieder wohlzufühlen, es ist nur etwas schwer. Das wird schon wieder." Er brummt.

"Du fühlst dich unwohl, wenn ich dich berühren will. Ich spüre das." Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

"Das lässt mich ebenfalls Unbehagen fühlen, Shana." Zweifelnd suche ich nach Worten, aber ich weiß nicht, was ich ihm antworten soll.

"Das wird schon wieder", murmele ich in mein Handy und ziehe die Decke näher an mich.

Ich hoffe, dass es wieder wird.

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Ja, ich hatte einen Vokuhila 🙂

- Helo

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