Kapitel 88

Dienstag, 25. Juli

Ich wurde von Can bei sich gefangen gehalten, bis heute. Heute darf ich endlich nach Hause, weil heute alle aus dem Urlaub kommen. Die letzten Tage waren einfach nur katastrophal. Ich habe überhaupt nicht mehr mit ihm geredet und immer die Tür abgeschlossen, damit er nicht zu mir kommt. Ich habe sogar in seinem Zimmer gegessen, falls er gekocht hat, weil ich ihn nicht sehen wollte. Can hat eins-, zweimal versucht, mit mir zu reden, aber ich habe abgeblockt. Ich bin immer raus gegangen, als sicher war, dass Can nicht da war, weil ich ihn einfach nicht sehen wollte, mir egal, ob wir unter einem Dach gelebt haben oder nicht. Ich kann es einfach nicht fassen, wie krank Can sein kann. Immer, wenn ich daran denke, wie er mich gezwungen hat zu bleiben und mich angeschrien hat, steigen mir die Tränen hoch, die ich immer wieder unterdrücke. Wie es dann wohl wäre, wenn wir wirklich zusammenziehen würden? Bevor wir zum Flughafen fahren, will ich meine Sachen zu Hause ablegen, damit ich von Saliha und Ranja nicht gefragt werde, wieso ich einen Koffer bei mir habe. Can schaut mich deswegen nur verachtend an, woraufhin ich meine Augen verdrehe. Seine Meinung geht mir sowas von am Arsch vorbei. Zu Hause lege ich meinen Koffer ab und stopfe meine Kleidung in den Schrank, bevor ich mich auf mein Bett setze und die Hände vor meinem Mund zu einer Faust bilde. Meine Mundwinkel fangen vor Trauer wieder an zu zucken und ich weiß, dass ich weinen werde. Die erste Träne fließt schon runter, gefolgt von der Nächsten. Diese Kälte wieder zu spüren, voller Arroganz und Ignoranz, versetzt mir immer wieder einen Stich, den ich immer wieder verdrängen muss. Wenn Can es aber nicht ändern will, wieso sollte ich es machen, wenn ihm klar ist, was ich denke? Unter diesen Umständen würde ich noch länger warten, um die Beziehung richtig zu veröffentlichen. Ich will nicht, dass jemand etwas von unseren Streits mitbekommt. Ich will nicht, dass jemand sich einmischt, denn keiner ist, sowie Can und ich es sind. Ich schniefe und schaue auf mein Handy, als es anfängt zu klingeln. Als ich Cans Namen lese, drücke ich ihn schnell weg und wische mir alle Tränen im Spiegel weg. Hätten Saliha und Ranja ihre Concealer nicht mitgenommen, hätte ich sie mir auf meine Knutschflecken schmieren können, da noch einige Stellen zu sehen sind. Solange muss ich meine Haare offen tragen, damit sie es nicht bemerken. Mit dem Schlüssel in der Hand, laufe ich die Treppen runter und begegne Cihan, der mich freundlich anlächelt, was ich so gut wie möglich erwidere. "Alles in Ordnung?" Ich nicke und setze ein Lächeln auf. "Ja, alles bestens. Ich muss los, wir sehen uns bestimmt." Schnell laufe ich die Treppen runter und steige stumm ins Auto. Diese Anspannung, diese Negativität ist im Auto stark zu spüren. "Schnall dich an." Ich weiß, wie groß seine Angst ist, aber die Wut, meine Sturheit und mein Stolz streben dagegen, auf ihn zu hören.

"Shana", knurrt er, weswegen ich mich anspanne. Mein Stolz lässt es einfach nicht zu. Ich will es einfach nicht tun! Er packt grob mein Kinn und dreht mich zu sich dreht. Mit seiner linken Hand greift er an mir vorbei, was mich zusammenzucken lässt und zieht den Gurt vor meine Augen. "Weißt du, was das hier ist?" Ich halte seinem Blick stand. Ich habe mich eine Zeit erniedrigen lassen, aber jetzt reicht es. "Ja, ein Gurt", kommt es patzig von mir. Seine Kiefermuskeln zucken unter seiner Haut, als er mich anschnallt und losfährt. Ich schaue aus dem Fenster und spüre die neu aufkommenden Tränen, die ich aber unterdrücke. Ich will nicht weinen. Ich habe genug geweint. Ich will meinen alten Habitus wieder haben. Ich war und bin immer noch unabhängig und muss mich von nichts und niemanden kontrollieren lassen. Wenn ich etwas machen will, dann brauche ich nicht noch von anderen die Konsens zu bekommen. Die komplette Fahrt über sind wir still, doch unsere Wut spricht Bände. Das einzig Gute an dieser Fahrt ist, dass wir früh ankommen. Noch besser ist es, dass wir nicht lange warten müssen und alle schon von weitem sehen. Ich will lächeln, doch ich kriege es nicht hin. Hoffentlich sticht den Leuten Cans Knutschfleck nicht allzu sehr ins Auge. Ich umarme alle und vor allem Ramazan, der meine Umarmung genau so innig erwidert, da er anhand meiner Mimik erkennt, was los ist. "Wir reden heute", flüstert er und fährt mir noch einmal tröstend über den Rücken, bevor ich Meryem umarme, die mich besorgt ansieht. "Alles in Ordnung?" Ich nicke einfach und ignoriere den Druck auf meinem Nacken. Ich werde von jedem besorgt gemustert, was mich aufregt. Ich will nicht, dass jeder weiß, wie schlecht ich mich gerade fühle. "Lasst uns etwas essen gehen, ich sterbe vor Hunger", versucht Ramazan die angespannte Stimmung aufzulockern. "Ja, ich auch", stimmt Malik mit ein, der mich aufmunternd anlächelt. "Ich habe keinen Appetit", murmele ich und schlucke. "Iss etwas, Sha-," "Ich habe gesagt, ich habe keinen Appetit", herrsche ich Can an, der plötzlich nicht mehr so herrisch ist, sondern vollkommen normal. Er spannt sich wieder an und lässt seine Kiefermuskeln zucken, aber ausrasten vor allen tut er nicht. Die Blicke liegen auf uns, was mich umso aggressiver macht, doch ich will meine Wut nicht an unseren Freunden auslassen. "Wir können trotzdem etwas essen gehen", gebe ich dann normaler, aber unterkühlt von mir und atme tief ein. Ich werde mich diese Tage auf jeden Fall im Labor verkriechen und nur noch lernen, damit ich Can aus meinem Kopf bekomme. Wir laufen alle Richtung McDonalds, wobei die Jungs bestellen gehen und ich mit den Mädchen alleine bin. "Was ist los?", fragt Ranja mich, woraufhin ich mit meinen Schultern zucke. "Müde, das Studium ist hart." Wenn es nur stimmen würde und der Streit zwischen Can und mir nicht wäre, dann wäre es mir egal. "Wirklich?", hakt sie nach, was ich ihr - wenn auch gelogen - bestätige. "Ich muss nächste Woche in die Uni, wegen meiner Biochemie Klausur und ich muss meine Generaltestate abholen. Zudem arbeite ich noch an meiner Doktorarbeit weiter und muss noch recherchieren." Das, was ich den Mädchen erzähle, ist nicht gelogen. Nur erzähle ich den ausschlaggebenden Punkt meiner gesunkenen Laune nicht. Ein weiterer Freund der Jungs trifft auf sie zu, weswegen die Jungen mit acht Tabletts zum Tisch kommen und sofort angefangen wird zu essen. Ich stütze meinen Kopf auf meinen Händen ab und betrachte den Tisch, bis mir jemand mit einer Pommes gegen die Lippe sticht und ich den Blick anhebe. Ramazan schaut mich mit einer komischen Grimasse an und pikst mich mit der Pommes. Auf meiner rechten Seite fängt dann auch Malik an meine Lippe mit einer Pommes zu attackieren, was mich leicht schmunzeln lässt. "Das Flugzeug kommt." Ramazan fängt an die Geräusche eines Flugzeuges zu imitieren, was ihm mehr oder weniger gelingt.

Um die Aufmerksamkeit, die nicht nur auf dem Essen, sondern auch auf mir liegt und das ständige Füttern mit den Pommes zu beenden, frage ich, wie es in Barcelona war. Sofort wird angefangen zu erzählen und die Stille ist zum Glück verflogen. "Da war ein Mädchen, die etwas von mir wollte", prahlt Ramazan und spannt seinen Bizeps an, woraufhin Meryem ihn schlägt und Ramazan zusammenzuckt. "Die Shishas sind dort voll teuer. Ich wollte mir schon fast selber eine zusammen basteln", sagt dann Saliha und beißt empört in ihren Burger. Anscheinend hatten sie alle Spaß und keinen Streit. Manchmal frage ich mich, ob sich Saliha einmal mit Malik gestritten hat. Malik ist viel zu ruhig, um sie anzuschreien und bei Ramazan und Meryem kann ich es mir auch nicht vorstellen. Ich will so gerne, dass diese Betrübtheit verschwindet, vor allem da es noch auf der Hochzeit so schön war. Aus den Neckereien wurde das gegenseitige Anherrschen. Es ist bestimmt nur eine Phase. Eine Phase, die jede Beziehung hat, oder? Es ist doch völlig normal, dass sich ein Paar streitet, aber artet ist bei jedem Paar denn so aus, wie es bei uns tut? Sind alle sturen Menschen, die in einer Beziehung sind, so wie wir und handeln dementsprechend so? Ich glaube nicht daran, auch wenn ich jetzt gerne jemanden hätte, der genau dasselbe durchmachen musste, wie ich.

Nachdem wir wieder zu Hause angekommen sind, habe ich mich sofort in meinem Zimmer verschanzt und Ramazan angerufen, dem ich alles leise erzählt habe, damit die Mädchen nichts mitbekommen.

"Das hört sich ganz und gar nicht gut an." Ich seufze nickend und drehe mich auf die linke Seite.

"Du musstest mal sehen, wie komisch er war. Er wollte mich nicht gehen lassen. Er hat mich quasi eingesperrt", flüstere ich und schlucke feste, als mir wieder der Tag in den Sinn kommt.

"Aber er hat dir nicht irgendwie wehgetan?" Ich schließe meine Augen.

"Nein." Ich habe totale Bedenken, weil Ramazan nachfragt.

"Hat er es jemals bei einem Mädchen gemacht?", frage ich nun und erinnere mich wieder an den Tag, wo er Aleyna angeschrien hat und ihr sogar gedroht hat, ihr eine zu verpassen.

"Nein, hat er nicht. Mach dir keine Sorgen, Shana. Er könnte niemals seine Hand dir gegenüber erheben." Mir fließen Tränen hinab, die ich schnell wegwische.

"Ich versuche es", gebe ich heiser von mir und zupfe an meiner Decke herum.

"Hat er irgendetwas angesprochen?", will ich wissen und atme einmal tief durch.

"Nein, er schweigt die ganze Zeit. Er lässt sich nichts anmerken."

"Ist das nur eine Phase, Ramazan?" Er hat mehr Erfahrung, als ich, was Beziehungen angeht. Er kennt auch Can sehr gut. Er müsste eine Antwort oder mindestens eine Hypothese dahaben.

"Ja, Shana. Alle Paare streiten sich mehrere Male. Mach dir keinen Kopf deswegen. Ihr seid nur etwas komplizierter, als andere, aber ihr seid miteinander verbunden. So leicht kann man euch nicht trennen." Ich hoffe gerade so sehr, dass Ramazans Worte der Wahrheit entsprechen und dass Can und ich uns schnell wieder vertragen.

"Ist... ist Can Zuhause?" Ich beiße mir auf meine Lippe und fahre mir über mein Schlüsselbein bei der Frage.

"Nein, er ist ins Fitnessstudio gegangen. Kann sein, dass er erst spät nach Hause kommt." Das macht Can immer, wenn er Frust ablassen will. Entweder lässt er sie an mir aus oder er geht ins Fitnessstudio, wo er seiner Aggressivität freien Lauf lassen kann.

"Und er war euch gegenüber nicht aggressiv?" Ramazan verneint es.

"Natürlich, das macht er auch nur bei mir", nuschele ich.

"Du darfst dich deswegen nicht unterkriegen lassen, Shana. Das klärt sich schon alles. Er ist nur gereizt. Wieso, weiß ich zwar nicht, aber das hält bestimmt nicht lange an." Dieses bestimmt verunsichert mich. Also hat Ramazan auch keine richtige Ahnung, ob es bald aufhört. Wie sollte er auch?

"Mache ich ja nicht, aber manchmal... manchmal, da ist er so brutal", gebe ich am Ende heiser von mir und werde von einer Gänsehaut überrascht.

"Brutal? Er hat dir doch nichts getan, Shana? Oder hat er doch einmal etwas gemacht?", fragt er leicht nervös. Was hat das zu bedeuten?

"Nein, nur drückt er manchmal etwas feste zu." Ramazan antwortet nicht. Man hört nur ein leises Rauschen.

"Wie?" Er hört sich leicht fassungslos an.

"Manchmal, wenn er wütend ist, packt er mich am Kiefer und bemerkt nicht, dass er etwas Druck ausübt." Er seufzt.

"Aber du hast es ihm gesagt, also, falls er zu feste zugedrückt hat?"

"Ja." Wir reden noch weiter und schweifen von Can ab, was ist gut finde. Ramazan lenkt mich damit ab und verschafft mir etwas bessere Laune.

Es wird bestimmt besser werden. Es ist nur eine Phase, mehr nicht. Wir haben noch zwei ganze Monate Ferien, wir werden uns jetzt nicht die ganzen Ferien über anschnauzen - hoffe ich. Wir sind nur etwas temperamentvoll und streiten uns deswegen so sehr. Wir kriegen das wieder hin. Wir lieben uns doch. Streit ist etwas Normales, man kann nicht immer alles gleich sehen. Drei Monate lang haben wir es ohne Streit geschafft und nur weil jetzt ein Streit kommt, muss es ja nicht heißen, dass die Welt zusammenbricht oder? Wir sind doch beide in der Lage uns zu vertragen, nur brauchen wir etwas Zeit. Wir schaffen das schon, es wurde ja niemand betrogen oder ähnliches. Ich wollte nur ein Problem weniger erzeugen, wobei ein noch größeres Problem entstanden ist. Ich konnte es aber nicht zulassen. Ich konnte es doch einfach nicht passieren lassen, dass Can auf Aykan einschlägt, nur weil er ein paar Sätze mit mir austauschen wollte. Aber irgendetwas in mir sagt, dass es schlimmer wird. Dieses Gefühl verängstigt mich. Ich will nicht, dass dieses Gefühl recht hat. Ich weiß, dass es nicht dazu kommen muss. Vielleicht muss ich mich einfach etwas zügeln. Can hat um mich gekämpft, dann sollte ich doch auch etwas dazu beitragen. Natürlich ist das, was ich denke überspitzt, da wir jetzt keinen Beziehungs-Krieg führen, aber für den Fall der Fälle muss ich drauf vorbereitet sein. Vielleicht ist es auch ein Zeichen, dass ich Can zeigen soll, wie viel er mir bedeutet. Er hat so viel für mich getan und es ist mir auch bewusst, dass ich ihm nichts geben kann. Dann will ich wenigstens, dass er weiß, dass ich nicht zulasse, dass wir so agieren.

Es ist nur eine Frage der Zeit.

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