Kapitel 61

Samstag, 13. Mai

Heute will ich einmal alleine lernen. Auch, wenn ich mit Can vielleicht mehr Spaß habe, werde ich manchmal abgelenkt und das kann ich mir im Medizinstudium nicht erlauben. Mit Aykan habe ich nicht geredet, beziehungsweise hat er mich auf nichts angesprochen. Er scheint wohl zu wissen, dass ich mit Can zusammen bin und das stört ihn. Leider Gottes hat Aleyna nichts erfahren, aber hoffentlich erfährt sie es und stirbt vor Neid. Cans Rosen, die ich täglich bekomme, lagere ich, wenn sie anfangen zu welken, in einem Karton. Der Karton ist schon fast voll, weswegen ich manchmal die Stängel kürzen muss, um mehr Platz zu schaffen. Außerdem haben wir uns sooft geküsst, wie vielleicht kein anderes Paar zu vor. Ich weiß nicht, was los ist, aber er kann nicht aufhören mich zu küssen. Egal wo, es ist für ihn wie eine Droge. Für mich natürlich auch, ich kann es nicht leugnen. Es ist jedes Mal so berauschend und einfach unbeschreiblich, doch trotzdem versuche ich die intensiven Küsse seltener zu machen, damit die Lust darauf umso stärker ist. Na ja, wäre Can nicht so stur und ungeduldig dann wäre es viel einfacher.

'Sicher, dass du nicht in meinem Bett liegen willst und mit mir lernen magst?' Ich verdrehe belustigt meine Augen.

'Ziemlich sicher.'

'Das glaube ich dir nicht.'

'Ich kann auch gut ohne dich lernen, Can.'

'Deine Lippen müssen wieder aufgefrischt werden, genau wie dein Knutschfleck. Er verschwindet langsam schon und das gefällt mir nicht.' Kichernd tippe ich sofort meine Nachricht.

'Es kann eine Thrombose entstehen, die vielleicht in eine meiner Hirngefäße fließen kann. Ein Apoplexia cerebri wäre nicht so prickelnd, findest du nicht auch?' Ich kann mir vorstellen, wie er seufzt.

'Sicher, dass du nicht als Stimmungskiller durchgehen willst?' Ich fange leise an zu lachen.

'Ja, Medizin ist viel angebrachter.'

'Doktorspiele.' Ich kichere.

'Das magst du, nicht wahr?'

'Ja, nur spielst du nicht mit.' Ein trauriger Emoji hängt am Ende seines Satzes.

'Kein Bedarf, Can.'

'Sicher?'

'Ja.'

'Du bist eine scheußliche Lügnerin, Shana.' Angriffslustig hebe ich meine Augenbraue.

'Ich finde, ich bin eine hervorragende Wahrheits-Erzählerin.'

'Ich weiß doch, wie du auf meine Berührungen reagierst.' Mein Schmunzeln verschwindet.

'Ich spüre doch, wie du dich immer windest.'

'Es kitzelt halt', rechtfertige ich mich.

'Du liebst es, wenn ich deinen Nacken küsse und du würdest am liebsten schreien.'

'Würde ich nicht.'

'Wieso hältst du dir dann immer die Hand vor den Mund und dämpfst deine Laute?' Ich schürze meine Lippen.

'Das macht Spaß.' Ich habe keine Ahnung, was ich darauf schreiben soll.

'Du willst nicht stöhnen, das ist es.' Scharf ziehe ich die Luft ein.

'Ich stöhne nicht.'

'Wie sehr ich mir doch wünsche, dass du es tun würdest.' Okay, Can ist gerade angeturnt.

'Nimm eine kalte Dusche, Can.'

'Komm mit.' Oh Gott, das erinnert mich an das eine Mal, als ich betrunken war.

'Nein, ich muss lernen und du auch!'

'Medizinische Psychologie: ich habe Sehnsucht zu meiner Freundin, welche Hormone sind freigegeben?' Ich muss sofort lächeln.

'Auf jeden Fall Oxytocin und Dopamin.'

'Testosteron?', hakt er nach.

'Es kommt mir so vor, als ob du eine andere Sehnsucht meinst.'

'Ja, Doktor. Meine Sehnsucht fängt auch mit einem S und mit einem E an, endet aber mit dem 21. Buchstaben des klassischen Alphabets.' Ich verdrehe direkt meine Augen.

'Nein, Can.' Mein Handy lege ich weg und nehme mir meine Soziologie und Psychologie Notizen zur Hand.

Mein Handy vibriert, doch ich ignoriere es. Meine Notizen lese ich laut durch und schreibe sie mir auf meinen Zeichenblock, der sich langsam dem Ende neigt. Schmerz Adaptation ist erschwert. Primärschmerz stechend hell, gut lokalisierbar , vs. Sekundärschmerz: dumpf, schlechter lokalisierbar. Schmerzempfindung spiegelt nicht unbedingt das Ausmaß der schmerzverursachenden Gewebsschädigung wider, hängt vielmehr ab von: Kontrollorientierung (internal, external; siehe dort) ,subjektiver Bewertung der Schmerzursache, sozialen und ethnischen Normen. Schmerzreaktion subjektiv psychologisch: Angst, motorisch verhaltensmäßig: Flucht, Schonhaltungphysiologisch organisch: Ausschüttung von Schmerzmediatoren (Bradykin, Serotonin, Substanz P), schreibe ich neu ab und lese es mit drei Mal laut durch, bevor ich mir jeden Satz einpräge. Mein Handy vibriert schon wieder, weswegen ich genervt aufstöhne. "Ich will lernen!", schreie ich und greife nach meinem Handy, um es auszuschalten, tue es aber nicht, als mein Blick auf die Nachrichten fällt;

'Du willst es doch auch.'

'Bist du sauer?'

'Sei nicht sauer, Shana.'

'Komm schon!'

'Ich begehre dich halt, was soll ich dagegen machen?'

'Bei deinen Kurven kann ich nicht ruhig bleiben!'

'Shana.'

'Ich liebe dich doch.'

'Okay, du bist sauer?'

'Nicht schmollen, Shana.'

'Du musst aufhören so gut auszusehen, dann klappt es vielleicht.'

'Antworte, Shana.'

'Shana, du weißt, ich besitze keine Geduld.'

'Okay, ich komme vorbei.' Das war Cans letzte Nachricht.

Es klingelt an der Tür, weswegen ich aufspringe und etwas verdutzt schaue, als nicht Can, sondern ein panische Elif vor meiner Tür steht. "Kannst du bitte kommen?", gibt sie brüchig von sich. Es ist so lange her, dass wir geredet haben und das war nicht gerade gut gewesen und jetzt steht sie ängstlich vor meiner Tür und bittet mich um etwas. "Was ist passiert?", frage ich mit einem Hauch an Argwohn in meiner Stimme. "Komm bitte." Sie rennt die Treppen hoch. Ich laufe ihr misstrauisch nach, nachdem ich einen Schuh vor die Tür gestellt habe. "Im Wohnzimmer." Sie verliert eine Träne. "Okay, was ist hier los?" Vorsichtig laufe ich rein und sehe einen total blassen Cihan auf dem Sofa liegen. "Was ist passiert?" Sie zuckt mit ihren Schultern. "Ach, Shana", gibt er total schwach von sich. "Er hat totale Brustschmerzen und kann seit Wochen schlecht atmen." Sie wischt sich ihre Träne weg und setzt sich zu Cihan aufs Sofa, der röchelnd atmet. "Wieso seid ihr nicht zum Kardiologen gegangen?" Ich sehe mir Cihan an. Er sieht gar nicht gut aus. Ausgeschlafen wirkt er nicht und seine Haut glänzt leicht von Schweißfilm. "Er will nicht." Sie nimmt seine Hand und schmiegt sie sich an ihr Gesicht. Ich weiß nicht wirklich, was ich jetzt diagnostizieren soll. Es kann eine Angina Pectoris sein oder sogar eine Rippenfellentzündung. Aber ich bin gerne die Person, die vom Schlimmsten ausgeht. "Hast du irgendwo an den Knöcheln Dellen?" Sofort bestätigt Elif das. "Ja, an den Fußknöcheln, ich habe einmal etwas Dickeres dort gesehen und habe dann Druck ausgeübt und dann ist immer eine Delle entstanden." Ich nicke. "Wenn ich mich dann noch richtig erinnere, dann kann es etwas sehr Ernstes sein. Geht sofort zum Kardiologen, geht ins Krankenhaus." Ich schlucke. Wenn meine Hypothese der Wahrheit entspricht, dann hat Cihan eine Herzerkrankung, aber er war früher doch nie so, oder? Ich kann mich nicht daran erinnern, aber als wir früher zusammen waren, dann waren wir noch ganz klein. Es ist mir also wahrscheinlich nie aufgefallen. "Was hat er?" Elif versucht ruhig zu bleiben. Ich empfinde gerade wirklich etwas Mitleid für sie. Wenn es Can so schlimm gehen würde, dann würde ich schon zusammenbrechen. "Ich ..." Ich presse meine Lippen aufeinander und sehe Cihan an, der mich mit seinen grünen Augen wissend ansieht. Er ist Herzkrank. "Geht ins Krankenhaus auf die Kardiologie Station, verlangt nach einem EKG und ein CT wäre vielleicht auch gut." Vielleicht ist es ja auch nichts Schlimmes. Vielleicht ist es nur etwas ... ich weiß es nicht. Wenn man seit Wochen Atemprobleme hat, dann kann ich nur negativ denken. Langsam helfen wir Cihan hoch und versuchen ihn die Treppen hinunterzutragen. Am Auto, bedankt sich Elif und fährt schnell los. Nachdenklich sehe ich ihnen hinterher. Sie sind viel reifer geworden. Nichts von der eingebildeten Elif war zu sehen, nur noch eine Person, die Angst um ihren Freund hat. Ihre Geschichte ist wirklich traurig. Ihre Eltern akzeptieren ihre Liebe nicht, nur weil ihr Freund nicht derselben Nationalität entspricht. Zum Glück ist es bei mir nicht der Fall. Na ja, meine Eltern wissen auch nicht Bescheid und wie lange wir zusammenbleiben, weiß ich auch nicht. Mit einem mulmigen Gefühl laufe ich hoch und schiebe seufzend den Schuh weg von der Haustür. In meinem Zimmer zucke ich erschrocken zusammen, als ich Can auf meinem Bett sitzen sehe. Sein Blick ist kühl, was mich schlucken lässt. "Wo warst du?", fragt er trocken, weswegen ich meine Augenbrauen zusammenziehe. "Bei-, bei-," "Cihan?!", unterbricht Can mich zynisch und steht auf. Ach du Scheiße. Er drückt die Tür zu und beißt den Kiefer zusammen. "Was hast du da gemacht?", will Can wütend wissen. "Nichts." Er schnaubt. "Und wieso warst du solange da? Wieso warst du überhaupt da, Shana?" Sein Ton ist vorwurfsvoll. Meine Atmung stockt etwas, bevor er sich dann leicht beschleunigt. "Warte mal, denkst du ernsthaft, ich hätte etwas Schlimmes dort getan?", fauche ich. Was denkt er, was ich mit Cihan machen würde?! "Kann ich durch Wände sehen?" Er kommt mir näher. "Kann ich dir eine reinhauen?!" Nun gehe ich einen Schritt näher. Ich kann es jetzt nicht glauben: Can denkt wirklich, ich hätte etwas Falsches mit Cihan getan. "Sag es doch einfach!", herrscht Can mich an, was mich immer wütender macht. "Ihm geht es nicht gut!" Er schnaubt und lacht verächtlich auf. "Und dann musst du zu ihm gehen?" Verständnislos schaue ich Can an. "Gibt es keine ausgebildeten Ärzte?" Ich beiße mir auf meine Zähne und balle meine Hände zu Fäusten. "Elif hat um meine Hilfe gebeten!", gifte ich ihn an und schubse ihn, auch wenn er sich kein Stück bewegt. "Sie stand mit Tränen in den Augen vor der Tür und hat mich gebeten hochzukommen, wo ich einen blassen Cihan gesehen habe, welcher seit Wochen an Atembeschwerden und Brustschmerzen leidet, Verdacht auf Ödeme an den Knöcheln hat und möglicherweise an KHK leidet!", schreie ich fast am Ende, da ich so wütend wegen seines Vorurteils bin. "Schrei nicht so!", herrscht er mich an und zeigt mit seinem langen, tätowierten Finger auf mich, den ich runterdrücke. "Ich schreie aber!", schreie ich provokativ.

Ich kann jetzt auf gar keinen Fall ruhig bleiben. Can bringt mich gerade so in Rage, dass ich einfach provozieren muss. "Müsste ich mir nicht Gedanken machen, dass du dich möglicherweise mit anderen Mädchen triffst?", zische ich. Zum Glück sind die anderen nicht da. Can packt mich am Oberarm und zieht mich näher an sich. "Sei leise!", zischt er. Es versetzt mir einen Stich. Mein Herz schlägt schneller. "Also tust du es?" Ich schnaube und will mich befreien. Ich habe nur jemandem geholfen und Can muss es direkt falsch sehen. "Sieh einfach ein, dass du zu ignorant bist!" Schnell entziehe ich mich aus seinem Griff und funkele ihn finster an. "Du willst nicht zugeben, dass der Fehler bei dir liegt!", füge ich noch hinzu und verdränge dann beklemmende Gefühl in meiner Brust. Er atmet tief ein, woraufhin er zu Boden sieht. Das hier ist unser erster Streit als Paar. Ich presse meine Lippen aufeinander und versuche mich zu beruhigen, aber dass Can wirklich etwas Falsches denkt, nur weil er so eifersüchtig ist, lässt nicht an mir und meinem Nachtragen locker. Ich setze mich einfach wieder hin und schaue mir meine Notizen an. Cans Präsenz versuche ich so gut wie es nur geht zu ignorieren, was mir leider nicht so gut gelingt, da er mir einfach nicht aus dem Kopf geht! Was zum Teufel dachte er, was ich da mache?! Mich an ihn ranschmeißen? Ich liebe diesen Trottel und er muss mit seinem eifersüchtigen Habitus den ersten Streit anzetteln. Ich wollte Cihan doch nur helfen - so gut es ging. Wäre Can nur misstrauisch gewesen und hätte nicht diese Show abgezogen, dann wäre es noch verständlich. Ich war ja ebenfalls skeptisch, als Elif vor der Tür stand. Ich höre, wie er seufzt und sich auf mein Bett setzt. Er nervt mich. Innerlich verhöhne ich ihn. Mit meiner ganzen Kraft versuche ich Can ganz auszublenden, was mir dieses Mal auch gelingt. Zwar beleidige ich ihn innerlich von A bis Z, aber ich kann mich noch nebenbei auf meine Notizen konzentrieren. Er soll gehen, denke ich mir. Wenn er meint, dass ich etwas mit Cihan gehabt hätte, dann soll er es meinen - ich weiß ja, was passiert ist! Ich habe es ihm sogar gesagt! Ich will ihn mit meinem Bleistift abstechen! Ohne Can anzusehen, stehe ich auf und hole mir eine Mineralwasserflasche, die ich mit einem Gummihandschuh öffne, da sie mal wieder nicht aufging. Apathisch setze ich mich und gehe das zweite Blatt durch. Wieso gibt es nicht die Psychologie von Can?! Ignorant, stur, scheiße!

Nach ungefähr drei Stunden hat Can wohl die Geduld verloren und steht auf. Dank der Spiegelung des Fensters erkenne ich, dass Can mich ansieht. Er ringt anscheinend mit sich. Entweder er will sich von mir verabschieden oder nicht oder er möchte etwas sagen und überlegt es sich noch. "Bis Montag", flüstert er und geht. Ich weiß, dass das nicht unsere Beziehung gefährdet - hoffentlich -, aber es schmerzt trotzdem, dass wir uns gestritten haben. Als ich höre, wie die Tür sich schließt, schließe ich meine Tür ab und atme tief durch. Es war nur ein kleiner Streit, mehr nicht. Ein Missverständnis, weil ich jemandem helfen sollte und oder wollte. Aber wieso bedrückt mich solch eine Lappalie? Es hat mich ja noch nie interessiert. Ich erinnere mich an die Psychologie Vorlesung. Wenn man verliebt ist, gibt man jemanden die Kraft über sich. Hat Can also Macht über meine Mentalität und Psyche? Habe ich ebenfalls die Kraft über seine? Es müsste doch so sein. Ich kann ihn vielleicht etwas indoktrinieren, genau sowie er mich. Ich nehme mir meine Notizen und lege mich damit in mein Bett. Vielleicht muss ich es ja aus einer anderen Perspektive sehen. Ich denke von mir aus gesehen subjektiv, aber nicht aus Cans Sicht subjektiv. Vielleicht hat er nur aus Angst so reagiert, da er Verlustängste besitzt. Aber an mir nagt immer noch das Vertrauen gepaart mit Argwohn. Als ob ich nach den Dingen, die Cihan in der Vergangenheit getan hat, etwas mit ihm anfange, wenn ich nach fünf Jahren, vor einigen Wochen zugegeben habe, dass ich Can liebe. Das ergibt doch keinen Sinn. Wie gut, dass wir es langsam angehen und hoffentlich alles wieder gut wird.

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Wieso wollen mir welche versuchen weiszumachen, dass Kurden eine Religion ist? Gott, da kriegt man Migräne! 😩

-Helo

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