Kapitel 6
Dienstag, 3. November
Ja, das Medizinstudium zeigt langsam seine brutale Seite. Anatomie ist wahrscheinlich das interessanteste Fach, aber auch das Fach, in dem man am meisten lernen muss. Ich schiebe das Prometheus-Buch zur Seite und fahre mir über mein Gesicht. Wir haben 01:41 Uhr und ich habe gerade mal die Hälfte geschafft. Wenigstens etwas und das auch nur, weil diese Bücher von Prometheus sehr gut sind, aber auch sau teuer. Das dreierpacket hat mich 199,00 Euro gekostet. Ja, fast zweihundert Euro. Als sie angekommen sind, hatte ich das Gefühl einen Bandscheibenvorfall zu erleiden. Mit Ranjas Hilfe habe ich es in mein Zimmer geschleppt und dann auf dem Karton gelesen, dass das Gesamtgewicht 9,62 Kilogramm beträgt, wie herrlich! Heute fangen wir an, an Leichen zu arbeiten. Den Schlaf hätte ich jetzt nötig, aber es fehlen mir noch einige Informationen. "Skelett und Gelenke sind der passive Bewegungsapparat und die Muskeln der Aktive." Ich schließe meine Augen und seufze. "Nein, die Gelenke sind sowohl aktiv, als auch passiv", korrigiere ich mich selber. "Os frontale ist Stirnbein, Os parietale ist Scheitelbein, Os occipitale, das Hinterhauptsbein. An den Seiten sind die Os temporale, also Schläfenbeine", sage ich und schaue dann auf die Abbildung des Schädels im Buch. Ein müdes Lächeln schenke ich mir selber, da alles richtig war. Ich bräuchte einen eigenen Schädel, das wäre dann viel einfacher. Das Gute ist, dass ich mich schon früher viel damit befasst habe. Gott, hätte ich nicht schon vor Jahren damit angefangen, dann wäre ich schon praktisch tot. Wenigstens kriege ich Geld fürs Studium - ein kleiner Trost. Ich latsche in die Küche und hole aus dem Seitenschrank meine Butterkekse raus, da ich zu müde sein werde, um mit Saliha und Ranja zu frühstücken. "Du bist ja noch wach", sagt Ranja. "Ja, muss noch lernen." Ich hole mir eine Mineralwasserflasche aus dem Schrank und seufze. "Ist es sehr viel?" Ich zucke mit meinen Schultern. "Relativ, aber wenn man zusammenhänge findet und es versteht, dann geht es einfach. Und wenn man vier Jahre vor dem Studium schon gelernt hat, dann sowieso." Ich schmunzele. "Wieso bist du noch wach?", frage ich Ranja und esse einen Keks. "Ich kann nicht schlafen. Weißt du noch früher, wo ich einfach so aufgestanden bin mitten in der Nacht?" Ich nicke, während sie seufzt. "Ja, es ist wieder da." Ich biete ihr die Kekse an, doch sie lehnt ab. "Ich wollte nur sagen, dass ihr mich nicht zum Frühstück wecken sollt." Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Wieso? Schafskäse ist doch dabei." Ich schmunzele. "Ich bin zu müde, um aufzustehen", seufze ich. Ranja nickt mit geschürzten Lippen. "Geh du lieber lernen." Ich nicke und husche wieder in mein Zimmer. "Processus coracoideus, den Rest kann ich schon." Ich lese mir alles wieder durch, frage mich selber ab und schmeiße mich dann in mein Bett. Darauf habe ich den ganzen Tag gewartet. Ich strecke mich und lasse meine Gelenke knacken, bevor ich aufstehe, das Licht ausschalte und mich endgültig fallen lasse.
Mein Wecker klingelt um 07:30 Uhr, weswegen ich mich quengelnd aufrappele. "Okay, hab's verstanden!", zische ich mein Handy an und schalte diesen nervigen Ton ab. Sofort ziehe ich mir meine Kleidung an und gehe ins Bad, wo ich mir mein Gesicht wasche und mir die Zähne putze. Meine Haare binde ich mir übermüdet zu einem Dutt und schaue mich an. Augenringe sind zu sehen. Na ja, was soll's. Ich laufe wieder in mein Zimmer und esse meine Butterkekse. Es klopft an der Tür, woraufhin Ranja mit einem kleinen Tablett reinkommt. "Los, du Ärztin. Frühstücken." Ich lächele müde. "Du bist so süß." Sie lässt mich alleine, woraufhin ich den Schafskäsesalat esse. Ich nehme mir mein Handy vom Akku und scrolle auf meinen sozialen Medien herum, bis ich den Salat fertiggegessen habe. "Wir können los", sage ich, woraufhin wir zur Uni fahren. Gleich ist der Präparationskurs! Ich muss unwillkürlich anfangen zu grinsen. Ich habe gehört, dass einige in Ohnmacht gefallen sind, aber das kann mir nicht passieren - hoffe ich zumindest. "An was denkst du?", fragt Saliha mich. "Ich schneide gleich eine Leiche auf!", kreische ich. Meine Müdigkeit ist verflogen. "Die freut sich eiskalt! Ich würde ohnmächtig werden", sagt Saliha fassungslos und parkt das Auto. Schon fast hibbelig verlasse ich das Auto und sprinte schon fast zur Uni. Okay, nach links und dann gerade aus. Ich befolge den Rat und höre dann eine Stimme von hinten. "Falscher Weg." Ich drehe mich langsam zu Aykans Stimme um. "Ich brauche eine Karte für die Wege." Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass auch die Karte mir nicht helfen wird. Wir laufen in den sterilen Saal, wo es nach Formalin riecht. Die Taschen legen wir im Nebenraum ab und kriegen Handschuhe, Mundschutz, eine Kopfbedeckung und einen Kittel. "Bindest du mir den Kittel zu?", frage ich Aykan, was er dann direkt tut und dann auch bei sich selbst. "Warte, lass mich das machen." Ich nehme die Schnürungen aus Aykans Händen und binde sie an seinem Rücken zu einer Schleife. "Sieht gut aus", kommentiere ich und schaue zum Eingang, wo Can mit zusammengezogenen Augenbrauen steht. Ich schüttele fragend den Kopf, woraufhin er einfach nur seine Tasche abstellt und sich anzieht. Beim Zubinden des Kittels sind die Schleifen nicht feste genug, weswegen ich sie feste ziehe. "Ging schon", kommt es leicht zynisch von Can, der sich einen Mundschutz überzieht und die Haube auf seine nach hinten gestylten, schwarzen Haare zieht. "Dann nicht!", fauche ich. Ich habe doch gesagt, dass nach einer Woche Can wieder angepisst sein wird. Diesen Jungen kann man nicht immer normal gelaunt sehen - das ist unmöglich! Es wäre utopisch, wenn Can so wäre. Mit zehn weiteren Kommilitonen - Aykan und Can mit eingeschlossen - laufen wir zu einer der Leichen und betrachten sie. Wow, das ist krass! Alle Leichen sind mit einem weißen Laken bedeckt und liegen auf einem silbernen Wagen. Viele reden über das, was vor ihnen steht. Verständlich: nicht jeder kann einfach einen Toten aufschneiden. Es wird um Ruhe gebeten, woraufhin der Professor anfängt zu reden. "Wir werden uns von außen nach innen arbeiten. Es werden fünf mündliche Testate sein, wo der ganze Abbau abgehandelt wird. Leider kann vielleicht nicht jeder von euch jeden Bereich sezieren. Wir werden euch gleichmäßig einteilen, sodass versucht werden soll, dass jeder jeden Bereich sezieren kann, allerdings müssen alle Regionen erst einmal gelernt werden. Falls jemand den thorakalen Bereich sezieren muss, wird diese Gruppe es den Kommilitonen am Tisch zeigen und anders rum", erzählt er und beendet nach ungefähr zehn Minuten seine Erzählung. Ein Dozent kommt zu uns und teilt uns ein. Aykan, Can und ich werden im Brustbereich arbeiten. Langsam nehmen wir das Laken runter und staunen. Vor uns liegt einfach ein Mensch, ein toter Mensch, der sich der Anatomie hingegeben hat. Seine Haut ist gelblich, blass und das Gesicht sieht aus wie aus Stein. Keine einzige Regung und das fasziniert mich. "Wow", flüstere ich und schlucke. "Darf ich den ersten Schnitt machen?", frage ich und kriege ein Skalpell in die Hand gedrückt. Langsam lege ich auf die Brust, schneide aber nicht. Ich habe gerade einen so heftigen Respekt, dass ich einfach nichts tun kann. Ich schneide gleich einfach so, als wäre es etwas Normales, einen Menschen auf. Ich sehe ihn von innen, ich werde ihn fühlen. "Alles in Ordnung?", fragt mich der Dozent, woraufhin ich nicke. "Ja, alles bestens." Vom Brustbein bis hin zum Solar Plexus schneide ich vorsichtig und mit wenig Druck die Haut auf, danach schneide ich an den Seiten unter und über dem Brustkorb waagerecht und klappe die Hautlappen auf. Der Mann war sehr mager, weswegen sehr wenig, bis gar kein Fett im Brustbereich ist. Vor mir liegt jetzt der freie Brustkorb eines Mannes; Rippen, darunter eine Art Haut. "Ist das die Pleura?", frage ich den Dozenten, der nickt. "Auch die soll aufgeschnitten werden, aber davor müssen die Rippen und das Sternum entfernt werden", sagt er. "Möchte einer?", frage ich und bemerke erst jetzt, dass meine Hand zittert. Ich habe einen Menschen aufgeschnitten. Can wird eine Knochenzange in die Hand gelegt, woraufhin er vorsichtig die Rippen wegschneidet und sie in die silberne Schüssel legt, die der Dozent vor ihm hält. Als Can das macht, erklingt das Geräusch von knackenden, zersplitternden Knochen. Ich gebe Can das Skalpell und schaue gespannt zu, wie er das Brustfell aufschneidet, ohne irgendeine Reaktion von sich zu geben. Das blass lilane, dünne Häutchen, welches den Brustraum eigentlich schützt, ist jetzt nicht mehr eins. "Es gibt zwei verschiedene Pleuraarten, die wären?", fragt der Dozent. " Pleura visceralis und-,", setzt Aykan an, den ich unterbreche, da ich gerade so hibbelig bin. "Pleura parietalis." Entschuldigend schaue ich zu Aykan, der mich nur anlächelt. Das Skalpell wird in Aykans Hand gelegt, der die zweite Pleura wegschneidet und jetzt habe ich eine perfekte Sicht auf Lungen und Herz. Das Herz habe ich mir viel kleiner vorgestellt.
"Oh mein Gott! Das war der Hammer!", quietsche ich, als wir die Chemie Vorlesung verlassen. Seit dem Präp-Kurs bin ich total motiviert, auch wenn ich etwas gezittert habe. Ich habe mir fast alles gemerkt! Natürlich habe ich auch abgeschrieben, aber dafür, dass ich total aufgeregt war und es immer noch bin, habe ich mich sehr gut gehalten. "Du warst total fasziniert", sagt Aykan, woraufhin ich kräftig nicke. "Natürlich! Ich habe einen Menschen aufgeschnitten!" Gott, ich habe mich wie in Grey's Anatomie gefühlt. Hätte ich heute einfach das Skalpell gefordert, dann hätte ich mich total gefühlt. "Shana, kommst du?", fragt Can mich. Ich nicke und lächele Aykan zu. "Bis morgen", verabschiede ich mich und laufe hinter Can her. "Scheinst ja sehr gut drauf zu sein", stellt er fest. "Ja! Dieses Knochenbrechen war Musik in meinen Ohren!" Er schmunzelt und schüttelt den Kopf. "Andere übergeben sich und du freust dich, als wäre es das beste Geschenk, was du jemals bekommen hast." Ich schaue zu ihm hoch und schultere meine Tasche. "Da hast du einmal Recht." Er schaut mich mit ausdrucksloser Miene an und schaut wieder auf den Gang. "Was hast du?", frage ich vorsichtig. Er war in den ganzen Kursen schon so trocken. "Nichts." Natürlich. "Also, wenn man ein Problem hat, ist die beste Lösung mit jemanden darüber zu red-," "Ich rede aber nicht darüber", herrscht er mich an, weswegen ich zusammenzucke. "Und vor allem rede ich nicht mit dir darüber." Er tippt grob gegen mein Kinn und läuft weiter. Verfluchtes Arschloch! Wütend mache ich auf dem Absatz kehrt und laufe in die entgegengesetzte Richtung. Lieber warte ich eine Stunde auf Saliha oder zwei auf Ranja, als mit diesem ignoranten und aggressiven Jungen in einem Auto zu sitzen. "Shana, komm!", ruft er, doch ich höre nicht. Stattdessen hole ich mein Handy raus. Saliha müsste jetzt zur nächsten Vorlesung gehen. Ich schreibe ihr, dass ich in der Bibliothek sein werde und wir dann gemeinsam nach Hause fahren werden. "Shana!" Ich drehe mich um und ignoriere die neugierigen Blicke der Anderen. "Rede nicht mit mir!", zische ich und will mich wieder umdrehen. "Jetzt sei nicht so stur!" Ich ticke gleich aus! "Ich bin stur? Bist du nicht einfach zu inkompetent, was Freundlichkeit, nein normale Konversationen anbelangt?", fauche ich. "Jetzt komm mit, verdammt!", keift er. "Lass mich los!" Ich will ihn wegschubsen, doch er ist viel zu stark. "Lass mich gehen!", rufe ich schon. "Hey! Lass sie los!" Aykan kommt und schubst Can weg von mir, bevor er mir dann sanft über die Oberarme fährt. "Alles okay?", fragt er mich, woraufhin ich nicke. "Warte mal, was willst du jetzt?" Cans Kiefer spannt sich an, während er mit festen Schritten auf Aykan zukommt. "Can, geh!", gebe ich ernst von mir und stelle mich vor Aykan. Cans Pupillen verkleinern sich: er ist wütend, doch er ist selbst schuld. "Geh!", zische ich, woraufhin er schnaubend zum Ausgang läuft. Seufzend drehe ich mich zu Aykan und gehe mir durch meine Haare. "Ist er immer so zu dir?", möchte Aykan wissen. "Er hat manchmal solche Phasen, halb so wild." Sein Kopf legt sich leicht schräg. "Halb so wild? Das sah ja schon bedrohlich aus." Ich schüttele beschwichtigend meinen Kopf. "Er würde mir nie etwas antun", versichere ich ihm. "Okay", seufzt er. "Soll ich dich fahren?" Ich schüttele lächelnd meinen Kopf. "Nein, ich gehe in die Bibliothek und werde dann von meiner Freundin gefahren, aber danke." "Okay, bis morgen dann." Er läuft lächelnd an mir vorbei, woraufhin ich seufzend die Bücherei aufsuche.
Was für ein Tag.
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