Kapitel 53

Donnerstag, 9. März

Ich lebe also schon seit einer Woche und einem Tag mit der Erkenntnis, dass ich Can liebe. Seit einer Woche weiß ich es, mehrere Jahre war es da. Richtig abgefunden habe ich mich nicht, ich muss mich noch damit anfreunden. Wäre auch ziemlich komisch, wenn ich schon nach einer Woche damit klar gekommen wäre, dass da nichts zwischen Can und mir passieren könnte. Mit Habib auf meinem Schoß lese ich mir meine Unterlagen durch und bin Can sehr dankbar, dass er mir geholfen hat. Er hatte recht: ich habe nichts vergessen. Ich war einfach so negativ gestimmt, das war alles. Mein ganzes Wissen ist noch da und wird hoffentlich noch da bleiben. Ich muss recherchieren, was im Körper bei Liebe passiert. Ich weiß, dass viele Hormone ausgeschüttet werden; Serotonin, Dopamin, Adrenalin, Vasopressin und noch weitere. "Du wirst schön geliebt, nicht wahr?", nuschele ich und kraule den Bauch des Katers. "Shana, du reagierst doch allergisch", seufzt Can, als er sein Zimmer wieder betritt. Ich ziehe Habib nah an mich und zucke mit meinen Schultern. "Wenn ich eine Packung Taschentücher habe, dann überlebe ich es." Er setzt sich neben mich aufs Bett. Allein das reicht schon, um mir eine Gänsehaut zu verpassen. Wie wunderbar es doch ist, dass wir auf einem Bett sind. Nur ist es schrecklich, dass nur eine Person liebt. "Essen steht auf dem Herd." Ich nicke und kraule Habib weiter. Es kehrt diese unangenehme Stille ein, wie sooft, seitdem Can von meiner verzweifelten Liebe weiß. Er weiß nicht, wer die Person ist, was gut ist, aber es bedrückt ihn. Wenn er es wüsste, würde er mich bloßstellen und das würde ich nicht verkraften. Mein Stolz wäre dann zerbrochen. Seine Zunge ist zu scharf für mich geworden und seine Worte zu giftig. Es würde mich innerlich töten. Kaum zu glauben, dass ich so verwundbar bin. Das hätte ich niemals von mir gedacht. Die Zeit, in der ich noch nicht verliebt war, kommt mir jetzt so verdammt kurz vor. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich mich gefühlt habe, als ich von meinen Gefühlen Can gegenüber nichts wusste. Es war doch vor kurzem alles normal? Habib springt von meinem Schoß runter und lässt mich somit alleine. Alleine mit Can. Wäre Ramazan oder Malik da, wäre es halb so schlimm, aber beide sind mit ihren Musen weg. Die Glücklichen. Ich beneide sie, dass sie ihre Liebe ihrem Gegenüber mitteilen können. Sie können lieben, ohne Angst zu haben, dass der andere sie auslacht, die Liebe nicht erwidert oder einen ausnutzt. Diese Tatsache spukt mir immer wieder im Kopf herum. Sie erinnert mich immer wieder, wie beschissen meine Lage jetzt ist. Sie lässt immer wieder Tränen hochkommen, die ich schnell wegblinzele. "Wie geht es dir?", fragt Can und fährt mir sanft über meinen Rücken. Wenn er doch nur wüsste, was seine Berührungen in mir auslösen. Wenn er nur wüsste, wie gut und gleichzeitig schlecht es sich anfühlt. Wenn er nur wüsste, dass ich in ihn verliebt wäre. "Ganz okay", flüstere ich und lese mir angestrengt die Notizen durch. "Shana, ich sehe doch, wie es dich belastet. Rede mit mir." Ich schüttele meinen Kopf. Mein Herz fängt vor Angst wieder an schneller zu schlagen. Niemals werde ich es ihm sagen. Ich nehme es lieber mit ins Grab, als von ihm abgewiesen zu werden. Ich will nicht noch einmal sehen, wie er mich auslacht, wie er meine Gefühle und Gedanken verachtet. Das wäre ein einziges Chaos. "Hat er sich diese Tage gemeldet?" Ich nicke. Du bist doch neben mir und redest. "Und was meinte er?" Ich zucke mit meinen Schultern. "Nichts, was soll er schon meinen? Ich weiß doch, dass er meine Liebe nicht erwidert." Mit einem gequälten Lächeln sehe ich zu Can hoch und schaue in seine atemberaubenden, gelben Augen. Die löwengleichen Augen, die mich von Anfang an fasziniert haben und mich immer wieder in ihren Bann ziehen. Sie glänzen nicht, wie sonst. Sie sind etwas matt. Das ist schon seit Tagen so. Trotzdem sind sie wunderschön und beneidenswert. "Komm, wir haben schon 21:00 Uhr. Wir haben genug gelernt." Can zieht mich hoch und läuft mit mir in die Küche.

Gemeinsam richten wir den Tisch und legen das Essen bereit, bevor wir schweigend essen. "Shana, rede bitte", fleht Can mich an. "Was soll ich sagen?" Ich zucke mit meinen Schultern und schaue monoton auf mein Essen. "Keine Ahnung, beleidige mich, mach dich über etwas lustig, reg dich über etwas auf. Sei einfach nicht mehr so traurig", seufzt er zum Schluss. Ich soll mich über etwas lustig machen, sowie du es bei mir getan hast? Ich würde es gerne wollen, nur kann ich nicht. Ich habe nichts gegen dich in der Hand, Can. "Bald ist das Physikum." Ich zucke mit meinen Schultern. "Und dann die Psycho- und Soziologie Klausur, Anatomie Klausuren und die Wiederholung. Wir müssen in den Ferien bald wegen der Chemie Klausur dort hin, wir haben Ferien!", zische ich. Wieso können wir die Ferien nicht einfach als Ferien lassen, statt in den Ferien zur Uni fahren zu müssen um eine verdammte Klausur zu schreiben? Wieso nennt man es dann Ferien? "Na ja, im Endeffekt lernen wir ja sowieso fürs Physikum. Also, was soll's?" Ich nehme einen Löffel vom köstlich riechenden Gericht und bewundere mal wieder Can. Ein wahres Wunder ist er. Er kann kochen, hilft anderen in der Uni beim Klavierspielen und er ist schlau. Er ist einfach Can "Ich weiß nicht, ob ich es aus Versehen versalzen habe", warnt Can mich. Ich esse trotzdem und schüttele den Kopf. "Es ist perfekt." Ich lächele leicht und esse weiter. Wieso sollte es denn versalzen sein? "Wir haben keinen Präp-Kurs mehr." Ich schmolle leicht. Mit den Leichen hätte ich meine Wut, Trauer und Verzweiflung abarbeiten können. Ich hätte so tun können, als ob Can vor mir liegen würde, sowie ich es immer getan habe, als ich sauer auf ihn war. Das ganze Semester besteht wirklich nur noch aus Biochemie und Physiologie. "Aber wir haben den vorklinischen Teil dann hinter uns." Da hat er recht. Ich bin so froh, dass der vorklinische Teil vorbei ist. "Toll, dann muss ich mit der Doktorarbeit anfangen", seufze ich. "Ich weiß immer noch nicht ganz, was ich machen soll. Was soll ich zur Krebsforschung beitragen?" Can zuckt mit seinen Schultern. "Wir können ja nachschauen." Ich hoffe einfach, dass es bergauf gehen wird. Ich hatte an Silvester ein so gutes Gefühl. Ich hatte ein verdammt gutes Gefühl. Ich dachte, dass alles gut wird, dass etwas gutes passieren wird, doch von diesem Positiven ist keine Spur. Im Gegenteil: gerade geht alles irgendwie schief. Vielleicht kommt es ja noch. Ich hoffe es kommt. Ich bete, dass es kommt. Es soll kommen und mich erlösen. Ich kann die Idee mit dem gespielten Betrunken sein einfach nicht vergessen. Ich werde von mir selber genötigt, es zu tun. Warum? Weil ich wissen will, ob er mich wirklich ausnutzen würde. Er würde nichts gegen meinen Willen machen, also könnte ich es jederzeit beenden. Gott, was habe ich nur für Gedanken? Bin ich so verzweifelt, dass ich so tun muss, als ob ich nicht bei Sinnen bin, damit ich weiß, wie er tickt? Ja. Ja, das bist du. Wir essen zu Ende und räumen dann ab, wobei es zu einem kleinen Streit kommt. "Ich will spülen!" Er schüttelt seinen Kopf. "Ich will aber!" Ich will ans Waschbecken, doch Can zieht mich zurück. "Wenn du willst, dass ich glücklich bin, dann lässt du mich abwaschen." Skeptisch sieht er mich an. "Deine Ausreden, Gott!" Er drückt mich auf den Stuhl, aber da ich hartnäckig bin, lasse ich natürlich nicht nach. "Wir machen es gemeinsam", schlage ich vor und muss lächeln, als er schmunzelt. Er sieht so verdammt gut aus, wenn er schmunzelt. Er zieht das Haargummi höher und fängt an zu waschen. "Can?" Während ich den Teller einseife, schaue ich auf das Haargummi. "Wie lange trägst du es schon?" Er zuckt mit seinen Schultern. "Sehr lange. Mehrere Jahre schon." Ich beiße mir auf meine Unterlippe. "Hast du es schon einmal ausgezogen?" Ich sehe zu ihm auf. "Nicht wirklich, nein. Ich wollte es, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht", erzählt er mir. Anscheinend bedeutet es ihm sehr viel. Ich nicke und schaue auf den Teller, den ich abspülen muss. "Anscheinend ist es sehr wertvoll, gehört es deiner Schwester?" Er schnalzt mit der Zunge. Da er es von selbst nicht sagt, lasse ich es einfach sein. Wenn es nicht von Shevin oder Derya ist, dann will ich es auch persönlich nicht wissen.

Wir spülen zu Ende und schalten den Fernseher an. "Guten Abend, meine Granaten!" Ramazan kommt grinsend auf mich zu und umarmt mich, bevor er Can einen Kuss auf die Wange gibt, welcher nicht rechtzeitig davor fliehen konnte. "Essen", schnurrt Ramazan und rennt zum Topf. "Junge, was hat du gemacht?!" Wir drehen uns um und sehen in Ramazans verzerrtes Gesicht." "Was denn?", fragt Can. "Das fragst du noch? Wie viel Salz hast du hineingetan?" Es ist doch genau richtig? "Ich finde es optimal", kommt es leicht lächelnd von mir. "Ich bestelle Pizza. Wollt ihr auch?" Wir verneinen, woraufhin er in sein Zimmer geht. "Wir müssen mal Grey's Anatomy schauen. Mal gucken, ob wir mit denen mitkommen." Er nickt. "Wenn wir mal dazu kommen", lächelt er. "Geht es dir irgendwie besser?" Wieder legt er seine Hand auf meinen Rücken, was mich geborgen fühlen lässt. Can lächelt mich an, was ich automatisch erwidern muss. Sein hinreißendes Lächeln lässt mich nie kalt. "Irgendwie schon", flüstere ich und schaue zu Boden, da ich rot werde. "Schämt sich ja jemand?", neckt er mich. "Nein", nuschele ich und fahre mir verlegen über meine Wange, woraufhin er mir sanft in meine Wange kneift. "Süß." Das Wort lässt mein Herz schneller schlagen. Er findet mich süß. Erst hat er gesagt, dass er mich hübsch findet und jetzt auch noch, dass ich süß bin. Gott, ich muss mich beruhigen. Verlegen hebe ich meinen Blick und weiß, dass ich rot geworden bin. "Du siehst verdammt niedlich aus, wenn du rot bist und so schüchtern." Ich presse vor Scham meine Lippen aufeinander. "Und dann meckerst du nicht mehr so viel." Beleidigt schlage ich gegen seinen Oberarm. Sein Handy vibriert. Als Can drauf schaut, stöhnt er genervt auf. "Was ist los?" Er zeigt mir den Text. "Uni-Party." Ich lese es mir genau durch. Sie ist in den Semesterferien. Samstag, 25. März. Ab 22:00 Uhr. Also bald. Ich sollte mir dieses Datum merken. Am besten, ich notiere es mir. Ich hole also mein Handy hervor und gebe es in meinen Kalender ein. "Was machst du da?" Can nimmt mir mein Handy weg und sieht sich meinen Eintrag an, woraufhin er entgeistert zu mir schaut. "Du gehst doch nicht ernsthaft auf die Party?" Ich schlucke. "Wieso denn nicht?" Er schüttelt seinen Kopf. "Nein, Shana. Das sind alles Idioten. Du hasst das Feiern doch?" Ich zucke mit meinen Schultern. "Irgendwann muss ich ja mal die Erfahrung machen", nuschele ich, was ihn aufstöhnen lässt. "Shana, nein. Die werden dir was untermischen. Die wissen, dass du sowas nicht machst." Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. "Und woher wissen die das?", frage ich skeptisch. Hat er etwas über mich geredet? Etwas verlegen kratzt Can sich am Nacken. "Na ja, weißt du noch, das Gerücht von mir?" Ich nicke. "Da habe ich halt auch erzählt, dass du nichts trinkst, nicht feiern gehst, was ja auch stimmt." Er zuckt mit seinen Schultern. "Ach und jetzt sind alle geil darauf, mich abzufüllen?" Er spitzt kurz seine Lippen. "Ich kann auf mich aufpassen." Sein Kiefer spannt sich an. "Shana, nein", versucht er mir in einem ruhigen Ton zu sagen. "Was ist denn daran so schlimm? Ranja und Saliha werden da sowieso hingehen und locker Malik und Ramazan auch." Ich beiße mir auf die Unterlippe und habe Angst, dass wir uns wieder streiten werden. "Nur weil die da alle hingehen, heißt es weder, dass ihr alle zusammenbleibt, noch dass sie dich in irgendeinem Moment beschützen können", versucht er mir zu erklären. "Shana, es ist nur zu deinem Besten." Zu meinem Besten. Er nimmt mit einem kleinen Lächeln meine Hand und drückt sie. Natürlich muss alles, was Can bei mir tut ein aufbrausendes Gefühl auslösen. Selbst wenn er mich unbeabsichtigt anfasst: es kribbelt. Ich werde nicht auf diese Party gehen. Ich werde es nicht tun. Ich werde nur so tun, als ob ich auf diese Party gehe. Ich werde diese groteske und verzweifelte Idee umsetzen und mich jetzt schon darauf vorbereiten. Ich muss nicht einmal etwas trinken, da ich in seiner Gegenwart entweder schüchtern oder total aufgedreht sein kann und da ich verliebt bin, werde ich auf jeden Fall kichern und komische Dinge sagen. Meine Hemmungen müssen da weg sein. Meine Hemmungen ihm gegenüber sind sowieso sehr gering seit der Weisheitszahn-OP.

Mach dich auf etwas gefasst, Can.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top