Kapitel 51

Freitag, 3. März

Es ist jetzt genau eine Woche her. Eine Woche, seit dem Streit, der für mich der schlimmste Streit zwischen uns war. Der schlimmste und mächtigste Streit, meiner Meinung nach. Der Streit, der mich geschwächt und zum weinen gebracht hat. Ich habe mich einfach nur an das Lernen gemacht. Ich bin zum Glück nicht schon wieder dünner geworden, sondern habe dank meinen Freundinnen das zu Essen bekommen, was ich sehr liebe. Sie wissen, dass ich mich mit Can gestritten habe und das sehr stark. Sie wissen Bescheid und gehen deswegen vorsichtiger mit mir um. Ramazan. Ich könnte diesen Jungen abknutschen. Jeden Tag ruft er mich an oder kommt zu mir, nur um zu sehen, wie es mir geht. Er lenkt mich ab und versucht das Geschehene in die Ecke zu schieben, damit ich nicht weine. Ja, ich habe auch Tage danach geweint, auch wenn ich es nicht wollte. Seine Worte waren einfach zu hart für mich. Er hat gelacht, er hat über meine Gefühle gelacht. Die Tatsache, dass er auf meinen Gefühlen und meinen Gedanken herumhakt, auf ihnen herumtritt, ruft wieder die Tränen hoch, die ich jedoch wegdrücke. Ich will es vergessen. Mein Handy klingelt. Ramazan ruft an.

"Ja?", gebe ich heiser von mir.

"Wie geht es dir?" Seine Fürsorge rührt mich.

"Ich weiß es nicht." Meine Tränen kommen wieder hoch.

"Shana", seufzt er.

"Sollen wir etwas unternehmen? Mit mir macht es doch Spaß oder?" Ich nicke und verdränge den Druck in meinem Nacken.

"Ja, bitte", flüstere ich.

"Gut, ich hole dich ab." Ich verabschiede mich und lerne solange weiter.

Ich bin leider Gottes wieder so schwach, wie damals, als ich auf Abstand gehen wollte. Ich fühle mich sogar noch miserabler. Manchmal fange ich wieder an zu zittern. Nur auf meine Ernährung achte ich, damit ich keine Anämie wieder erleide. Ich fühle mich so ausgelaugt, so belogen. Wieso hat er das gemacht? Eine Träne kullert mir über meine Wange und landet auf meinem Buch. Immer, wenn ich an Can denke, schmerzt es in meiner Brust. Wieso? Warum schmerzt es? Ist es eine Reaktion unseres Gehirns, weil wir uns angegriffen fühlen? Mein Hypothalamus spinnt. Mein Scheitellappen anscheinend auch, da er wegen Worten Schmerzempfindungen verbreitet und das urplötzlich. Mein Körper und mein Geist sind ein emotionales Wirrwarr. Mein Verstand hämmert mir die ganze Zeit ein, dass es vorbei geht, dass es mir egal ist, dass es nur ein Junge ist. Aber meine Gefühle, sie sagen mir, dass er derjenige ist, der es nur schafft, mich zu verletzen. Er ist etwas besonderes, hat eine bestimmte Kraft. Ich habe ihm unbewusst meine Kraft gegeben, die er bändigen und führen kann. Das habe ich auch in den Psychologie Vorlesungen erfahren. Wenn wir jemanden sehr mögen und er etwas bestimmtes sagt, dann wirkt sich das Gesagte auf unsere Psyche aus. Wir können dann also sehr freudig auf den Kommentar reagieren oder eher gekränkt sein. Als Ramazan vorsichtig mein Zimmer betritt, umarmt er mich innig und setzt sich auf mein Bett. "Du machst auch Pausen?" Ich nicke. Das erinnert mich an Can. Er wollte auch immer, dass ich Pausen mache. Vergiss Can! Mein Verstand versucht mir immer wieder einzureden, dass ich aufhören soll, an Can zu denken, doch es nicht so einfach, wie man denkt. "Hör zu", seufzt Ramazan. "Ich weiß nicht, ob du es wissen willst, aber auch Can geht es beschissen." Ich schnaube. "Er fühlt sich schuldig." Ich schüttele meinen Kopf. Ich will nichts mehr glauben. Sonst mache ich mir wieder unnötig Hoffnungen, die am Ende sowieso niedergeschmettert werden. "Er hat mir wehgetan", flüstere ich und bin wieder den Tränen nahe. Ich schlucke den Klos hinunter und sehe an die Decke. Seine Worte, die mein Gedächtnis wieder hervorruft, verdränge ich sofort. "Können wir das vergessen?" Er nickt seufzend. "Ich gehe kurz was trinken, dann können wir raus." Ich nicke. "Fanta ist auf dem Balkon." Ramazan liebt Orangen über alles. Dementsprechend ist Fanta auch sein Lieblingsgetränk. Solange gehe ich in Gedanken das Gelernte durch, nur kommt mir nichts in den Sinn, weswegen ich panisch meine Augen öffne. Ich schließe sie wieder und strenge mich an, nur kommt mir nichts in den Sinn. Hektisch fange ich an zu atmen und hole mir die Anatomie wieder in den Kopf, doch Fehlanzeige. "Wieso erinnere ich mich nicht?!", schreie ich schon fast und werde hysterisch. "Wo ist mein Wissen?!" Ich raufe mir meine Haare und fange wieder an zu weinen. Seit dem Steit bin ich sensibler geworden, da seine Worte mich immer noch verwunden. Ramazan rennt ins Zimmer, genau wie Ranja und Saliha. "Was ist los?" Ich atme hektisch und kann auf Ramazans Frage nicht antworten. Ich habe das Gefühl keine Luft zu kriegen. "Das ist mir alles zu viel!", schreie ich und atme weiter hysterisch. "Shana, hey. Ruhig, ganz ruhig." Ich schüttele meinen Kopf, als Ranja es versucht. "Ich will nicht mehr!", schreie ich. Can hat mich diesmal zu sehr fertig gemacht. Es geht nicht anders, es muss raus. Meine ganzen Gefühle müssen raus. Ich kann sie nicht länger in mir drin behalten. "Wieso weiß ich nichts mehr?" Ich fange an zu weinen, da ich so viel Druck, Stress und Trauer ausgesetzt bin. "Shana, beruhige dich bitte." Saliha umarmt mich mit Tränen in den Augen, da sie mich nicht weinen sehen kann. "Ich kann nicht! Ich habe keine Kraft, Saliha!" Ich kann nicht einmal normal atmen. Ich habe das Gefühl, dass mir jemand die Luft abschnürt. Mein ganzer Körper ist geschwächt, mein Bauch und mein Herz tun weh. Der Druck in meinem Nacken taucht wieder auf und das stärker, als sonst. "Ich habe bald mein Physikum! Ich kann nichts mehr! Wie soll ich es bestehen? Alles ist weg!", schreie ich schon fast, da ich total hysterisch bin. Ich schubse Ranja und Saliha weg und versuche aufzustehen, was sich als Fehler erweist, da ich zusammenbreche und auf meine Knie falle. "Geht weg!", schreie ich und halte mir meine Ohren zu. Ich schließe meine Augen und zwinge mich dazu das Gelernte wieder hervorzurufen. "Wo ist es hin?", schluchze ich. Ich wollte diesmal wegen Can meine Bildung nicht vernachlässigen. "Wieso musst du es jetzt tun, Can?!", schreie ich weinend. Ich kann nicht mehr. Diesmal ist es stärker, als letztes Mal. Es hat meinen ganzen Körper, meine Seele und vor allem mein Herz befallen. Dass er meine Gefühle missachtet, schmerzt so sehr, dass ich das Gefühl habe, gleich einen Herzinfarkt zu erleiden. Es ist furchtbar. Ich habe Angst davor. "Shana, bitte beruhige dich", versucht Ranja es wieder und schaut ich verzweifelt an. "ICH KANN NICHT! VERSTEHT DAS!" Ich bin so verzweifelt, dass ich sogar versuche meine Trauer herauszuschreien. "Geht bitte raus", sagt Ramazan ernst. Ich sehe seinen Gesichtsausdruck nicht, doch er muss so ernst sein, dass beide ohne Widerrede rausgehen. "Shana-," "Nein", weine ich und wiege mich leicht hin und her. "Ramazan, wieso macht er das?", gebe ich brüchig von mir. "Wieso ist er so mächtig?" Verzweifelt sieht er mich an und wischt mir meine Tränen weg. "Shana, hör bitte auf zu weinen." Meine Augen füllen sich wieder mit Tränen. "Ich kann nicht", gebe ich weinerlich von mir und halte mir meine Hände vor meine Augen. Ich habe mich noch nie so fertig gesehen. Noch nie habe ich mich so beschissen gefühlt. Das letzte Mal ist ein Witz hierzu. Meine Nerven sind am Ende. Das letzte Mal war wohl übertrieben beschrieben, denn das, was ich jetzt fühle, ist mit Messerstichen zu vergleichen. Messerstiche, die meine Psyche angreifen.

Es ist zwar sehr widersprüchlich, doch ich will, dass Can jetzt hier ist. Ich will, dass alles wieder gut wird, sonst werde ich nicht aufhören so zu bleiben. "Wo ist Can?", gebe ich brüchig von mir. "Er ist auf dem Weg." Überrascht sehe ich zu ihm hoch. "Ich habe ihn angerufen." Wieder entkommen mir Tränen. Ich habe Angst ihn zu sehen und doch freue ich mich, dass er kommt. Es sollte jedoch nicht so sein. Ich hasse ihn doch! Er hat mir das Ganze doch angetan und trotzdem freue ich mich. Es klopft an der Tür, weswegen ich ängstlich zu Ramazan sehe. "Alles wird gut." Er gibt mir einen Kuss auf meinen Scheitel und geht die Tür öffnen. "Wo ist sie?", höre ich Can hektisch sagen. Seine Stimme lässt meine Brust beben und gleichzeitig zusammenziehen. Ich bin froh ihn zu sehen, jedoch ist der Hass immer noch in mir. Als ich ihn sehe, stehe ich auf und komme ins Schwanken, weswegen er und Ramazan mich halten. "Ich geh solange zu den anderen." Ramazan lächelt mich leicht an, bevor er die Tür schließt. Ich fange wieder an zu weinen und umklammere seinen Nacken. "Wieso hast du mir das angetan?", weine ich. "Shana, verzeih mir." Ich fange stärker an zu weinen und spüre, wie meine Beine nachgeben und ich einknicke. Wir gehen zusammen zu Boden, woraufhin Can uns gegen mein Bett lehnt. "Es tut mir so leid", flüstert er und fährt mir über mein Haar. Ich nicke und drücke fester zu. Er hat sich entschuldigt. "Wieso hast du das gesagt?", flüstere ich und schluchze. "Ich war wütend." Ich auch. Und wie wütend ich war. Ich habe Angst. Ich habe Angst, ihm zu glauben. Trotzdem nehme ich die Wörter in mir auf, wie eine Droge, da sie die negativen Gedanken zerstört. "Shana, was ist passiert?" Er nimmt meinen Kopf in mein Gesicht und wischt mir mit einem gequälten Gesichtsausdruck die Tränen weg. "Can, ich habe alles vergessen!", kommt es mir wieder in den Sinn, weswegen ich wieder panisch werde. "Shana, beruhige dich." Ich schüttele den Kopf. "Wie soll ich das Physikum bestehen?" Ich habe totale Angst, dass ich es nicht schaffe. Ich will die Prüfung nicht wiederholen. "Shana, du schaffst das. Du hast nichts vergessen." Ich schüttele den Kopf. "Ich kann gar nichts mehr! Alles ist weg! Wie soll ich das nur alles wieder hinkriegen? Direkt nach den Ferien-," "Shana." Er hält mein Kinn in seiner Hand und sieht mich eindringlich an. "Du kannst alles. Du bist nur wegen dem Ereignis angeschlagen. Das ist nur ein Schein", beruhig Can mich, was auch wirklich klappt. Seine Stimme beruhigt mich. Seine Anwesenheit beruhigt mich, obwohl ich ihn noch vor wenigen Stunden gehasst habe. Seine Nähe ist berauschend, obwohl er mich verletzt hat. Wie widersprüchlich ich doch bin. "Wir kriegen das wieder hin. Ohne Streit, Shana. Das schwöre ich dir", flüstert er und küsst meine Schläfe. Mein Bauch kribbelt. Von den Schmerzen ist keine Spur mehr vorhanden. "Verlass mich nicht", gebe ich brüchig von mir. Wenn er es wieder tut, kann ich für nichts mehr garantieren. Ich würde wahrscheinlich das Semester wiederholen müssen, da ich mental am Ende, wirklich am Tiefpunkt wäre. "Werde ich nicht. Das habe ich dir schon damals versprochen, weißt du noch?" Ich schüttele meinen Kopf und sehe ihn fragend an. "Auf der Klassenfahrt in Berlin. Als ich dich aufgefangen habe." 'Ich schwöre es dir, dich niemals loszulassen.' Eine Gänsehaut durchzuckt meinen Körper, als ich mich doch daran erinnere. "Das war für immer gemeint." Er lächelt sanft. Wieso ist er nur so? Wieso lässt er mich so wunderbar fühlen, wenn er mich im nächsten Moment fallen lässt? Ich lege meinen Kopf wieder in seine Halsbeuge. Dass ich auf ihm sitze, interessiert mich gerade nicht. Im Gegenteil, ich genieße es. Es fühlt sich wunderbar an, ihm so nahe zu sein, seinen Duft wieder riechen zu können, seine Wärme wieder fühlen zu können. Egal, wie widersprüchlich es auch ist. Er ist derjenige, der mich stärkt.

"Können wir ein Fenster öffnen?", frage ich Can, der mich sanft anlächelt und nickt. Vorsichtig steht er auf und zieht mich hoch, bevor er mir aufs Bett hilft und ein Fenster öffnet. Ich sehe mir Can an und bemerke erst jetzt seine Augenringe. Sein Gesicht ist mit einem leichten Bart geschmückt. "Ich habe nicht gut geschlafen", erzählt er mir. "Diesmal war der Streit... sehr stark." Er nimmt meine linke Hand und fährt über die fast verheilten Knöchel. "Es tut mir so leid, Shana." Er streicht mit seinen Daumen über meine Handgelenke und seufzt leise. "Es-, Gott, es war furchtbar!", seufzt er, was ich bestätige. "Vielleicht war es auch das letzte Mal", nuschele ich und bete innerlich, dass es nie wieder passiert. Es ist einfach die Ironie des Schicksals, dass Can - die Person, die dafür verantwortlich ist, dass es mir so miserabel geht - mein Retter ist. Er ist die Person, die mich wieder heilt. Das war schon immer so, nur habe ich es nicht eingesehen, doch jetzt tue ich es. Es hat keinen Sinn mehr, dagegen anzukämpfen. Es macht keinen Sinn mehr zu sagen, dass ich keine starken Gefühle für ihn habe. Es ergibt keinen Sinn, dass mein Körper so stark und intensiv auf ihn reagiert, wenn ich behaupte, dass er mich völlig kalt lässt. Das Kribbeln kam nicht von irgendwo. Der Auslöser für das Kribbeln ist immer wieder Can. Der Auslöser für meine Trauer ist ebenfalls Can. Wieso? Weil er sich festgesetzt hat. Ich bin von Zeit zu Zeit abhängig von ihm geworden. Es ist wie bei Drogenabhängigen. Wenn wir nicht das kriegen, was wir wollen, wonach wir innerlich schreien, da wir davon abhängig sind, rebelliert unser Körper. Wir drehen durch, wir wollen das, was uns stillt und befriedigt. Egal, wie oft wir uns auch Streiten, egal, wie oft ich ihm sage, dass ich ihn hasse, wir kommen immer wieder zusammen. Ich kann nicht ohne ihn. Die Bindung zwischen uns ist zu stark. Ohne Can fühle ich mich halb tot und das liegt daran, dass er mein Herz gestohlen hat. Jeder Mensch begegnet einmal dem Menschen seines Lebens, aber nur wenige erkennen ihn rechtzeitig. Wir standen uns so nah, dass es zwischen uns keinen Platz mehr gab für Gefühle. Man kann vieles unbewusst wissen, indem man es nur fühlt aber nicht weiß. Man kann seine Augen schließen, wenn man etwas nicht sehen will, aber man kann nicht sein Herz verschließen, wenn man etwas nicht fühlen will. Ich fühle mich gerade so stark von der Wahrheit getroffen, da ich sie so lange vor mir selber verheimlicht habe. Fünf Jahre. Mag sein, dass er mich zum Weinen gebracht hat, dass er mich wütend gemacht hat, doch niemand konnte mir mein Leben so verschönen, wie er.

Ich habe mich in dich verliebt, Can.

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