Kapitel 41
Donnerstag, 20. Oktober
Ich stochere in meinem Essen herum. Seine Blicke sind total abwertend, dabei habe ich nichts schlimmes gemacht, außer mit Cihan geredet zu haben. Ich schaue Can ja auch nicht abwertend an weil er wieder mit Aleyna rumhängt. Er weiß zwar, dass ich sie hasse, aber er weiß auch, dass ich weiß, dass er Cihan hasst. Ich ignoriere ihn voll und ganz, er jedoch nicht. Er lässt mich spüren, was er von dem Montag hält. "Was ist los?", fragt Saliha, die mich mit ihren braunen Kulleraugen ansieht. "Nichts, nur etwas stressig momentan." Ich schiebe den Teller weg und trinke aus. "Ich geh mich hinlegen." Müde bin ich nicht, doch schlapp fühle ich mich seit Tagen. Ich weiß nicht einmal, was ich dazu sagen soll. Was passiert ist, kann ich nicht rückgängig machen. Das sage ich sehr oft, aber es entspricht nun mal der Wahrheit. Vielleicht lenkt mich etwas lernen ab. Ich schreibe schon am ersten Dezember mein Histologietestat. Lernen schadet ja schließlich nie. Ich nehme mir mein Buch und meine Notizen zur Hand, lege sie aber gleich wieder weg. Die Heizung drehe ich etwas auf und schlüpfe in einen Pullover. Es wird immer und immer kälter. Vielleicht bekomme ich eine Grippe und fühle mich deswegen so kränklich. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Distanz so viel Negativität mit sich rumtragen kann. Mein Handy fängt an zu klingeln. Mit den Augen noch auf den Tisch, greife ich nach meinem Handy und halte es mir an mein Ohr.
"Und?" Seine raue Stimme dringt in mein Ohr und verursacht eine Gänsehaut.
"Und", gebe ich monoton von mir und fahre mir über meine Stirn.
"Habt ihr euch amüsiert?", presst Can hervor.
"Es gab nichts Amüsantes." Ich zucke mit meinen Schultern.
"Erklär mir jetzt, wieso du mit ihm unterwegs warst!"
"Ich muss dir rein gar nichts erklären, Can." Mein Ton ist gleichgültig und mein Blick gilt der Fensterscheibe, an der Regentropfen herunterfließen.
"Ich finde schon, dass du mir was erklären musst." Wieder zucke ich mit meinen Schultern.
"Das, was du willst, ist mir egal." Er schnaubt.
"Natürlich. Du musst ja auch immer nur an dich selbst denken, Shana!", faucht er, was mir ein mulmiges Gefühl verpasst.
"Nein." Ich räuspere mich kaum vernehmbar.
"Doch, dir sind andere egal. Hauptsache du leidest nicht!"
"Ich glaube nicht, dass du leidest."
"Darum geht es doch nicht!", kommt es lauter von ihm.
"Wieso erwähnst du es dann?" Ich lege leicht den Kopf schief und atme tief ein.
"Shana, es-,"
"Du hast mit dieser Leidens Sache angefangen." Er seufzt genervt auf.
"Mag sein, dass ich etwas opportunistisch bin, aber ist das nicht manchmal jeder? Bist du nicht auch so? Wieso sollte ich mich leiden lassen, wenn ich auch das Gegenteil bewirken lassen kann? Nenn' mich ruhig egoistisch, aber das interessiert mich herzlichst wenig." Ich beiße mir auf meine Lippe und schütze meinen Kopf ab.
"Ich muss dir nichts erklären, schließlich fordere ich auch keine Erklärung, wieso du mit Aleyna herumhängst." Es wird still in der Leitung.
"Falls das alles war, dann würde ich auflegen. Schließlich will ich noch lernen."
"Anscheinend muss das Gespräch ja ziemlich intim gewesen sein", kommentiert Can in einem spöttischen Ton.
"Du suchst Streit, habe ich das Gefühl."
"Nein, ich will schlichtweg eine Erklärung."
"Can, du wirst keine kriegen. Ich bin dir keine Rechtfertigung schuldig." Ein verächtliches Auflachen ist von Can zu hören.
"Hat er dich wieder um den Finger gewickelt?"
"Hat er mich jemals um den Finger gewickelt?"
"Was hat er dir erzählt? Dass es ihm unendlich leid tut, dass er so getan hat, als ob du ihm Bilder im Bikini geschickt hast?" Ich schlucke.
"Oder vielleicht, dass es nie wieder vorkommen wird?" Ein Schnauben entkommt nun mir.
"Vielleicht lockt er dich das nächste Mal in seine Wohnung, sind ja nur eine Minute Entfernung. Und dann? Dann wird er-,"
"Can, halt den Mund!", rufe ich und presse meine Augenlider aufeinander.
"Sei einmal in deinem Leben leise, wenn du einfach nur in Ignoranz und Primitivität schwimmst!" Ich atme schneller und versuche leiser zu reden.
"Erzähl du doch, was du mit Aleyna gemacht hast?", gebe ich patzig von mir.
"Willst du es wirklich wissen?" Ich nicke.
"Sag schon", flüstere ich.
"Ich habe sie gefickt." Feste muss ich schlucken und verdränge die kalte, aufsteigende Gänsehaut.
"Aber nicht nur einmal, Shana." Ein leises, gehässiges und raues Lachen entflieht ihm.
"Mehrmals", flüstert er, was mir einen Stich versetzt.
"Es musste schließlich auch einmal wieder sein, weißt du?" In seiner Stimme schwimmt Spott und Arroganz.
"Hat es Spaß gemacht?" Ich bemühe mich um einen festen Ton.
"Das fragst du noch? Es hat mehr als nur Spaß gemacht, Shana." Das Telefon halte ich weiter weg von meinem Ohr und halte meine bebende Unterlippe fest.
"Du hast was verpasst." Er lacht dreckig auf, was mir Tränen in die Augen schießen lässt. Ich blinzele sie weg, da ich wegen ihm und seiner dreckigen Beichte keine Tränen verlieren will. Kurz räuspere ich mich und lege das Handy wieder an mein Ohr.
"Schön." Er summt ein Ja.
"Zu schade, dass ich dir trotzdem nichts vom Gespräch erzählen werde. Fick Aleyna einfach wieder, dann hast du es schon vergessen." Ich lege auf und schmeiße mein Handy mit Wucht auf mein Bett.
Ich verschränke meine Arme vor meiner Brust und schüttele mit zusammengepressten Lippen den Kopf. Es klopft an der Tür, doch ich sage Nein. Es ist mir egal! Es ist mir sowas von egal! Soll er sich doch durch ganz Hamburg vögeln, falls er es nicht schon getan hat! Ich glaube mein Gehirn spielt einfach nur etwas verrückt. Vielleicht ist mein Hypothalamus zu sensibel zur Zeit oder mein Frontallappen nimmt seine Wörter zu ernst, weswegen ich so überreagiere. Es klopft wieder, weswegen ich genervt mit meiner Zunge schnalze. "Was?!", keife ich. Vorsichtig betritt Saliha das Zimmer und setzt sich auf mein Bett. "Ich habe dich schreien hören." Es war nur ein Rufen. Ich zucke mit meinen Schultern. "Du bist seit Tagen so abweisend, Shana." Ich schließe seufzend meine Augen. Ich habe gar keine Lust zu reden. "Du isst auch nicht mehr so viel", sagt Saliha besorgt. "Ich habe einfach keinen Hunger." Skeptisch zieht sie ihre Augenbrauen zusammen. "Du und keinen Hunger? Das glaubst du wohl selbst nicht." Ein kleines Lächeln legt sich auf meine Lippen, verschwindet aber wieder. "Ich will schlafen, mehr nicht." Ich lächele sie kurz an, mache mich dann fertig und lege mich dann ins Bett, auch wenn es zu früh ist, schlafen zu gehen.
Antriebslos, angeschlagen bin ich, und obwohl ich seit mehr als zehn Stunden im Bett lag, bin ich müde. Ich mache mich langsam fertig und will mich am liebsten wieder hinlegen. Ich habe gar keine Lust. Gestern habe ich eine Nachricht bekommen, sie aber nicht gelesen. Ich wollte mich darauf konzentrieren um kurz vor sieben schlafen zu gehen. Ich setze mich seufzend auf mein Bett und öffne Cans Nachricht.
'Schmerzt die Wahrheit so sehr, dass du weg läufst?'
Ich ziehe wütend meine Augenbrauen zusammen. Wovon redet dieser Junge da? Nur weil ich ihm nicht das gegeben habe, was er wollte, heißt es also, dass ich weg renne?
'Anscheinend bist du desperat, weil du nicht das bekommen hast, wonach du gefordert hast.'
Ich nehme mir meine Butterkekse zur Hand und trinke dabei noch Mineralwasser. Saliha bringt mir ein Brot rein, weswegen ich ihr dankend zulächele und mir mein Handy wieder nehme, als Can geschrieben hat.
'Spiel hier bitte nicht die Psychologin.'
'Einen psychischen Grund muss deine Nachricht doch wohl beinhalten. Ein Verhaltensmuster muss vorhanden sein. Du bist jemand, der sich nicht herum schikanieren lässt und da ich dies mit einer Leidenschaft tue, regst du dich auf und schreibst solch einen Müll.'
'Ach ist das so?', schreibt Can nun.
'Ja.'
'Dann sag mir, was das ist, du Therapeutin.' Mit leicht zittrigen Händen esse ich und schaue abwartend auf mein Display.
'Es ist lächerlich, wie du versuchst, dich stark zu machen, obwohl ich dich doch mitnehme.' Ich schlucke hart und selbst mein Wasser hilft mir da nicht weiter. Meine Daumen kreisen in der Luft und warten, dass ich ihnen befehle, etwas zu schreiben.
'Da wird ja jemand selbst zu einem Therapeut.'
'Es ist eher lächerlich, dass du versuchst mich runterzumachen, nur weil ich dir nicht herfalle, Can.' Schnell tippe ich weiter, da ich immer rasender werde.
'Zudem ist es mehr als nur grotesk, dass du mich wegen solch einer Lappalie anschreibst. Du suchst nach Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die du nicht kriegst und das kratzt an deinem Ego. Du warst nicht wirklich einverstanden mit der Distanzierung und da du an der Entscheidung von mir nichts ändern konntest, lässt du deinen Frust jetzt raus. Dopamin, Can. Das fehlt dir gerade sehr. Du versuchst mich mit herunterzuziehen, da du nicht alleine frustriert sein möchtest, aber das wird nichts. Ich halte zur Zeit wirklich nichts von dir und wenn, dann nur negatives.
'Gruß, deine Therapeutin und Kommilitonin.' Wütend lege ich mein Handy zur Seite und esse müde weiter.
Es hat gut getan, es zu schreiben. Es hat sich wirklich sehr gut angefühlt, nur fühle ich mich trotzdem so schlapp: ein Symptom für ein geschwächtes Immunsystem. Ich esse solange die Butterkekse, bis wir los müssen. Zum Glück ist es Freitag - ein kleiner Trost. Ich schleppe mich an dem Geländer stützend die Treppenstufen hinunter und lasse mich seufzend auf dem Beifahrersitz nieder, nachdem ich die paar Sekunden durch die Kälte laufen musste. "Willst du nicht lieber zu Hause bleiben?", fragt Ranja, was ich jedoch verneine. Ich kann nicht zu Hause bleiben. Ich war schon einmal wegen meinen Weisheitszähnen nicht da. Wenn ich wieder fehle und dann irgendwann richtig krank werde, dann kriege ich mit höchster Wahrscheinlichkeit meinen Schein nicht und dafür verfluche ich die Universität. Lieber mit Viren in die Uni schleppen und jeden anstecken, anstatt sich auszukurieren? Seufzend steige ich aus dem Auto und laufe frierend in die Uni. Als ich Aykan sehe, lächele ich leicht an und laufe mit ihm direkt in die Biochemievorlesung. "Du siehst krank aus." Ich nicke müde. "Aus dir wird ja ein richtig guter Arzt", gebe ich leicht sarkastisch von mir und hole demotiviert meine Unterlagen raus. Irgendetwas mit Adenosintriphosphat schreibe ich auf und noch irgendetwas mit Nukleotiden. Ich bekomme noch mit das Adenosintriphosphat bei der Atmungskette hergestellt wird, aber auch in andere Funktion, wie in der Glykolyse. Ich versuche mich wirklich hart zu konzentrieren, nur geht es nicht. Hin und wieder spicke ich bei Aykan ab, da er mehr als ich hat, aber sonst komme ich ganz gut mit - irgendwie.
Da ich jetzt eine Stunde Pause habe, schleppe ich mich durch die Flure in die Bibliothek und versuche den Stoff von heute noch einmal durchzugehen und ihn besser zu verstehen. Vielleicht sollte ich mir mal Tee machen oder ähnliches. Ironie des Schicksals, dass eine Medizinstudentin erkrankt. Ich finde so etwas komisch. Ich finde es unpassend und bin der Meinung, dass es die Ironie des Schicksals ist, dass ein Arzt krank wird, dass ein Polizist verhaftet wird oder dass ein Anwalt verklagt wird. Es passt einfach nicht. Es passt auch nicht, dass ich nach Jahren wieder krank werde und nicht die geringste Ahnung habe, wer oder was mich angesteckt hat. Psychische Belastung führen ebenfalls zu Erkrankungen. Bin ich belastet? Ich fühle mich matt, antriebslos, vielleicht sogar etwas deprimiert. Liegt es an Can? Ich will nicht, dass es an Can liegt. Er soll mich nicht krank machen! Can regt mich einfach nur auf. Er soll nicht immer erwarten, dass er immer das bekommt, was er will. Nicht alles verläuft nach seinem Plan. Dafür bin ich zuständig, sonst wäre er zu sehr vom Boden abgehoben. Aber was genau belastet mich denn wegen Can? Ich fühle mich schon seit letzter Woche geschwächt. Liegt es an der Distanzierung? Ist das nicht paradox? Ich wollte es ja schließlich. Haben Can und ich etwa eine Art psychische Verbindung, dass wir uns geschwächt fühlen, wenn wir uns nicht bei einander haben? Fühlt er sich auch so? Ich habe ihm nicht angesehen und tun will ich es auch nicht, aber er hat sich gestern nicht wirklich geschwächt angehört. Aber früher war es nicht so. Früher habe ich einfach nur Wut nach einem Streit - wenn überhaupt - gefühlt. Und jetzt? Jetzt im Moment fühle ich mich einfach nur ausgelaugt und habe nicht einmal Lust, etwas zu Essen. Ich mache mir schon langsam Sorgen wegen meiner Figur. Es kann doch nicht wahr sein, dass ich wegen Can so reagiere. Niemals würde ich wegen eines Jungen so handeln und meine Laune so sehr sinken lassen. Das widerspricht ja all meine Moralen, die ich mir vor Jahren selber gesetzt habe. Es war mir doch immer egal, was Jungs - vor allem Can - von mir dachten. Es ist mir immer noch egal! Also, wieso fühle ich mich so schlecht? Was ist in meinem Immunsystem schief, dass ich so träge bin? Was lässt mein Gehirn gerade so fühlen? Es kann nicht sein, dass es Can ist. Er ist ein ganz einfacher Mensch, dem ich seit Jahren widerspreche. Er ist ein Mensch, den ich gerade verabscheue. Und was hast du davor von ihm gehalten? Was habe ich davor von ihm gehalten? Er war nett. Nett, belustigend und reizvoll zu gleich. Ich will gar nicht viel über ihn nachdenken, tue es aber umso mehr, je mehr ich es mir verbiete. Sollte ich die umgekehrte Psychologie anwenden? Soll ich mein Gehirn zwingen an Can zu denken, damit ich nicht mehr an ihn denken muss? Ich würde glaube ich trotzdem an ihn denken, aber ich will es nicht! Er denkt jetzt auch nicht an mich! Bestimmt vergnügt er sich gerade mit Aleyna auf der Unitiolette. Gott, wie ich dieses Weib hasse! Ich würde ihr so gerne ihre kaputten Haare rausreißen! Ich will sie leiden sehen, nur um mich etwas besser zu fühlen. Ich verstehe nicht, was Can an ihr findet, dass er freiwillig bei dieser Vogelscheuche bleibt. Ihre Promiskuität? Pah! Und Can meinte, er hätte mit diesem Scheiß aufgehört. Da sieht man ja, wie sehr er es doch sein gelassen hat! Jedes verdammte Gör kennt seinen Namen und gafft ihn an. Wieso? Bestimmt nicht, weil Can so freundlich ist und ihnen allen kostenlose Nachhilfe gibt und wenn er dies tut, dann nur im Fach: praktische Sexuallkunde. Wieso hat man soviel Spaß daran, immer ein neues Mädchen am Start zu haben? Irgendwann wird es doch bestimmt langweilig oder nicht? Anscheinend wird Can nie langweilig. Ich schüttele seufzend den Kopf und nehme mir meine Notizen zur Hand.
Vielleicht bilde ich mir das Ganze auch nur ein und es ist doch nur eine Erkältung.
-------------------
Wenn der Kuss kommt, erwarte ich, dass ihr das Kapitel mit Kommentaren zuspammt. Das wars übrigens mit der Lesenacht 🙋🏿
-Helo
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top