Kapitel 40
Montag, 17. Oktober
Der gewöhnliche Alltag beginnt seit einer Woche wieder für mich. Das Einzige, was sich geändert hat, ist mein Stundenplan und somit habe ich leider Gottes wieder um 08:00 Uhr an der Uni sein. Zudem bin ich jetzt im dritten Semester meines Medizinstudiums und grübele, ob ich noch diese Woche eine Art Plan fürs Lernen, wegen des Physikums erstellen soll. Müde laufe ich durch die Gänge und bin froh, dass das Starren endlich nachgelassen hat. Einige starren ab und zu immer noch, doch die können mir am Arsch vorbeigehen. Can und ich haben uns distanziert und kommen anscheinend gut damit klar. Na ja, mich nimmt es mit. Ich habe zur Zeit keinen richtigen Appetit und bin nur noch in meinem Zimmer. Can sieht nicht so aus, als ob er die ganze Zeit in seinem Zimmer hocken würde. An seinem Gesicht kann ich seit letzter Woche nichts mehr ablesen. Ob er damit schnell klar gekommen ist? Als ich es ihm gesagt habe, war er nicht sonderlich begeistert. Aber am Geschehen kann ich ja auch nichts mehr ändern und muss mich damit nun anfreunden. Ich hätte Can auch einfach das, was mir auf dem Herzen lag und immer noch liegt sagen und fragen können, nur kam es mir in dieser Situation falsch vor. Ich weiß nicht wieso, aber plötzlich habe ich mich verschlossen. Ich kann es nicht einmal erklären. Er hat doch sowieso alles mitgehört. Da müsste er doch alles haben, damit seine Fragen beantwortet werden. Mein Stolz hat es nicht zugelassen, da mein Stolz einfach nicht wollte, dass Can noch mehr herausfindet, um möglicherweise alles schlimmer zu machen. Es ist passiert und ändern kann ich nichts mehr. In der Berufswahlerkundung passe ich nicht auf, da ich sowieso weiß, wo ich arbeiten will. Außerdem sitzt Can heute neben anderen Kommilitonen und scheint sehr konzentriert zu sein. Anscheinend ist er wohl damit klar gekommen, anstatt mich noch einmal zu erreichen. Vielleicht tut es uns beiden gut, einmal eine Auszeit zu nehmen. Nach so vielen Jahren, bei denen die Gedanken immer größer werden, ist sowas sehr günstig. "Was hast du?", fragt Aykan mich und sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. "Nichts." Ich schüttele den Kopf und male weiter Bögen auf mein Blatt. Ich hätte diese Stunde zu Hause verbringen können und noch etwas Schlaf bekommen. Wieso kann diese Berufswahlerkundung nicht freiwillig sein? Als ob sich noch kein Medizinstudent Gedanken gemacht hat, dass er vielleicht eine Dermatologie Praxis eröffnen möchte oder als Proktologe tätig sein will. Zum Glück endet es, woraufhin ich erst einmal fünfzehn Minuten Pause habe. Ich laufe mit Aykan aus dem Saal, wo eine komisch grinsende Aleyna steht. Was will die denn hier?! Sie lächelt mich falsch an, was mich kalt lässt. "Seit wann lässt die Uni Hunde rein?", frage ich Aykan, der anfängt zu lachen. Aleyna schnappt empört nach Luft, weswegen ich siegessicher lächele. "Was sucht das Weib vor dem Hörsaal?" Meine Frage kann ich mir auch selber beantworten: Can. Ich ziehe leise die Luft ein und schüttele den Kopf. Natürlich muss er sich direkt eine Neue besorgen, war das denn nicht immer so? Kaum ist ein Mädchen weg, kommt in nächster Sekunde der Ersatz. Wie klassisch, Can! Ich knirsche kurz mit meinen Zähnen und setze mich mit Aykan auf eine Bank.
Der Oktober hat angefangen und die Temperaturen bleiben leider Gottes nicht auf dem Sommerniveau, was sich als ungünstig für mich rausstellt, da ich schon bei acht Grad gerne anfange mich zu versteifen, woraufhin dann eine schöne Verspannung in der Rückenmuskulatur auftaucht. Ja, das habe ich ja so vermisst! Aber wenigstens sind meine Allergien nicht mehr schmerzhaft - wenigstens ein Trost. "Warst du die Ferien über weg?", frage ich Aykan, der als Antwort nickt. "Ich war bei meinen Eltern und als ich wieder zu Hause war, habe ich schön für das Testat gebüffelt. Was ist mit dir?" Ich schürzte meine Lippen. "Dasselbe, wie bei dir." Und ich war bei Can zu Hause. "Kannst du alles fürs Testat?" Nächste Woche habe ich mein letztes Präparierkurstestat und kann dann endlich damit abschließen. Irgendwie kommt es mir jetzt falsch vor, dass ich bei Can war. Und das nur, weil er jetzt wieder mit Aleyna ist! Es geht mich doch gar nichts an, trotzdem regt es mich auf. Kann er nicht wenigstens eine Bodenständige haben? Obwohl, an dieser Uni sind wenige Bodenständig, also vergesse ich das mal lieber. Wenn es meine Idee war, diesen Abstand einzugehen, dann darf ich mich nicht darüber aufregen, dass Can jetzt etwas mit anderen Frauen zu tun hat. Aber statt Aleyna könnte er auch einfach auf die Reeperbahn gehen, da sind sehr viele, die so sind wie Aleyna. Aykan und ich stehen wieder auf und laufen zur Physiologie Vorlesung. "Wir reden heute wieder über das Auge, eines der wichtigsten Sinnesorgane im menschlichen Organismus. Wir besprechen erstmals grundsätzliches über das Auge, woraufhin wir ins Detail gehen. Vierzig Prozent aller Leitungswege zum zentralen Nervensystem gehören zur Sehleitung, was enorm viel ist. Zudem schätzt man auch, dass ein drittel der Großhirnrinde zum visuellen System gehört. Daraus schlussfolgern wir, dass ein großer Anteil des zentralen Nervensystems einen Bezug zum visuellen System hat, was auch gut so ist, denn unser visuelles System ist grundsätzlich unser wichtigstes Sinnesorgan und oder Sinnessystem, mit der wir auf die Umwelt reagieren können." Ich schreibe alles mit und kann bestätigen, dass unsere Augen nur zu wichtig sind. Wären sie nicht da, würden wir naiv durch die Gegend laufen und jedem Blind vertrauen - wortwörtlich. Ich würde also nicht sehen, dass Can ein Arschloch ist, da ich nichts sehe und somit keine Signale an mein Gehirn gesendet werden. Das heißt, mein Telencephalon wäre für den Wohlstandsmüll. Aber durch das Sehen wird man ja auch verletzt, also könnte ich dann nur noch verletzt werden, wenn Can aufhören würde mich zu belügen, wenn er es mir sagen würde, da ich ja keine Augen habe - theoretisch gesehen. Aber vielleicht wäre Can kein Player, da er ja nicht sehen kann, wie seine Eroberung aussieht. Vielleicht würde er normaler sein und sich mit seinen Ohren verlieben. Er würde einfach zuhören, wie die Person denkt und dann urteilen. Na ja, aber trotzdem wären die Menschen dann skrupellos und würden wie gedruckt lügen, ohne, dass der Gegenüber es irgendwie sieht. Man könnte nicht sehen, ob eine Symmetrie zwischen Mimik und Gestik vorhanden ist, viele schauen einen beim Lügen nicht in die Augen, aus Angst, man könnte aus ihnen die Wahrheit raus lesen. Ich habe einmal gelesen, dass Lügner alles in einer chronologischen Reinfolge erzählen. Doch wenn wir die Wahrheit erzählen, kommt es sehr selten vor, dass wir die Dinge der Reihe nach erzählen. Viel eher erzählen wir sie so, wie wir sie in Erinnerung haben, was automatisch dazu führt, dass wir den emotionalsten, wichtigsten oder bewegenden Teil gleich zu Beginn erzählen und dann erst die ganze Vor- und Nachgeschichte. Natürlich ist dies nicht immer der Fall. War Can immer ehrlich zu mir? Ich weiß es nicht, da ich etwas leichtgläubig bin. Ich realisiere später etwas, was mir öfters zum Verhängnis werden kann, da ich möglicherweise hätte alles ändern können. Würde Can mich jemals belügen? Hat er es schon getan? Weswegen und was war die Lüge? Ich fühle mich gerade unwohl und will nicht im selben Raum sein, wie er. Ich stelle mir gerade vor, wie er sich mit einem herablassenden Lächeln vor mich stellt und mich auslacht, weil ich ihm vertraut habe. Mein Herz schlägt schneller und meine Haltung verkrampft sich. Würde er sowas machen? Nachtragende Menschen lassen öfters ihre Empathie weg, da diese im Weg steht und alles nur verharmlost. Die Empathie sagt uns, dass wir sanfter mit einer Person reden sollen, falls sie gekränkt oder besorgt ist. Sie sagt uns, dass wir jemanden in den Arm nehmen sollen, um der Person Trost zu spenden. Welcher Teil im Gehirn dafür verantwortlich ist, weiß ich nicht. Ist es der Frontallappen? Oder doch der Hypothalamus? "Shana." Ich zucke zusammen. "Hier, schreib an." Aykan schiebt mir seine Notizen zu. Scheiße, ich war ja komplett weg! Wenn ich wegen Can nicht mehr in den Vorlesungen aufpassen kann, dann bin ich dran. Es darf kein zweites mal vorkommen, dass wegen Can meine Konzentration verschwindet. Ein zweites Mal tue ich ihm nicht diesen Gefallen! Wir sind auf Distanz jetzt, also muss ich aufhören an ihn zu denken.
Müde bedanke ich mich bei Aykan, dass er mich gefahren hat und schleppe mich um 18:16 Uhr die Treppen hoch. Ich hasse das dritte Semester jetzt schon, da ich einfach so viele Stunden habe. Dieses Jahr wird anstrengend. Ich komme auf meiner Etage an, wo eine Person beim Laufen stehen bleibt. Ich hebe den Blick an und ziehe scharf die Luft ein. Cihan lächelt mich freundlich an und hält mir die Hand hin. Misstrauisch ziehe ich meine Augenbrauen zurück und drücke langsam seine Hand nach unten. "Kein Bedarf", keife ich. "Shana, wir sind doch Nachbarn." Cihans netter Ton nervt mich. "Interessiert mich einen Scheiß." Er schnalz empört mit seiner Zunge. "Ich weiß, dass unsere Zeit früher nicht gerade blühend war, doch Zeiten ändern sich, nicht wahr?" Ich lese nichts falsches aus seinen Augen, aber vertrauen tue ich ihm trotzdem nicht. "Cihan, was willst du von mir? Geh doch zu deiner Elif." Bei ihrem Namen leuchten seine Augen. Liebt er sie wirklich? Wären sie sonst gemeinsam in einer Wohnung? "Sie lernt gerade, da wollte ich sie nicht stören." Sein verträumter Blick gilt dem Boden. Cihan ist wirklich vernarrt in Elif. "Ich lad dich auf ein Getränk ein." Entgeistert schüttele ich den Kopf. "Nein?" Er nickt. "Shana, diesmal ohne Hintergedanken." Ich lache auf. "Denkst du wirklich, ich vertraue dir noch?" Er mahlt seinen Kiefer. "Wenn Can, Malik und Ramazan nicht an diesem Tag in die Ecke gekommen wären, was hättest du getan?" Er sieht beschämt zu Boden. "Ich will darüber nicht reden. Es ist vorbei." Ich nicke patzig. "Das sowieso." Er seufzt. "Shana, bitte. Ich erzähle dir warum ich hier bin und warum du dir keine Sorgen mehr machen musst." Er sieht mich abwartend mit seinen grünen Augen an. Ich sollte nicht mit gehen, aber meine Neugierde ist zu groß. "Wohin geht es?", seufze ich. Nur weil ich jetzt zugestimmt habe, heißt es noch lange nicht, dass ich nicht misstrauisch bleibe. "Und sag deiner Freundin Bescheid, dass ich mit dir etwas zu bereden habe." Er zückt sein Handy, tippt etwas ein und sperrt es dann wieder. Wir laufen in ein Kaffee, das so gut wie immer befüllt ist. Von Studenten, bis Schüler sind immer welche hier. "Also, erzähl." Ich schaue auf meinen Kakao und spitze meine Ohren. "Als du mich das erste Mal gesehen hast, hast du dir bestimmt gedacht, was wir hier suchen." Ich nicke, woraufhin er seufzt. "Ich bin mit Elif zusammen." Ich weiß, ich habe euch herumknutschen gesehen. "Und ihre Eltern haben es nicht akzeptiert." Ich nicke. Das muss mehr als nur hart sein. Ich weiß gar nicht, was ich machen würde, wenn meine Eltern nicht meine Liebe akzeptieren würden. "Sie waren strikt dagegen, wegen den Nationalitäten und Elif konnte mich nicht verlassen. Auch ich habe es nicht akzeptiert." Ich verdrehe fast meine Augen. Wie sehr ich diese konservativen Eltern hasse, die zu patriotisch, nein nationalistisch sind und nicht wollen, dass ihr eigenes Fleisch und Blut glücklich wird. "Das war kurz vor dem Abschlussball und da haben wir nach langem diskutieren entschieden, hierhin zu ziehen. Sie hat ihren Eltern gesagt, dass sie sich von mir getrennt hat und deswegen in einer anderen Stadt studieren will, um von mir wegzukommen, dabei war das Ziel, dass wir in Ruhe zusammenleben wollen." Ich genehmige mir einen Schluck und nicke. "Das ist hart." Er nickt und fährt sich über seine Stirn. "Wenn die Eltern es erfahren, dann wird ein Krieg herrschen, aber ich und meine Familie stehen hinter Elif." Und ich habe mich aufgeregt, dass sie hier sind. Dabei ist es ein ernster und zum Teils auch schmerzhafter Grund, warum die beiden praktisch von Zuhause geflüchtet sind. "Und wissen ihre und deine Eltern, dass sie keine..." Ich beende den Satz nicht, denn ich weiß, dass es ihn wütend macht. Cihan spannt sich an und beißt seinen Kiefer zusammen. "Nein, ich bin mir sicher, dass ihre Eltern, so streng, wie die sich benehmen, einen Ehrenmord gestartet hätten." Wieder etwas, was ich gar nicht tolerieren kann. Ehrenmord. Bei diesem Wort könnte ich einfach nur lachen. Weil die Tochter nicht blutet, muss man sie also töten? Wie zurückgeblieben müssen einige Menschen sein, um ihr eigenes Blut töten zu wollen, nur weil sie in der Hochzeitsnacht nicht bluten? Sind die Eltern so untergebildet und wissen nicht, dass die Wahrscheinlichkeit nur bei fünfzig Prozent liegt? Leider Gottes sind auch meine Eltern bei diesem Thema so strikt, auch wenn sie nicht so rüber kommen.
"Wie sehr ich Can dafür hasse", knurrt er. "Ich konnte Elif deswegen für eine Zeit lang nicht in die Augen sehen, aber damals waren wir auch nicht zusammen." Ich zucke einmal kurz mit meinem linken Mundwinkel. Viel dazu kann ich nicht sagen. Wenn Cihan wüsste, dass Can und ich eine Wette gestartet haben, dann wären wir dran. "Aber ich konnte ihr nicht lange böse sein. Sie war am Ende und hat sich die ganze Zeit entschuldigt, obwohl ich nicht darum gebeten habe." Er fährt sich seufzend über seine Stirn. "Du und Can, lebt ihr in einer WG?" Ich ziehe entgeistert meine Augenbrauen zusammen. "Nein, er hat mich nur abgeholt, weil damals die Stunden anders waren." Er nickt. "Ich habe gehört, ihr seid zusammen." Ich schließe resigniert meine Augen und fahre mir über mein Gesicht. "Ein Gerücht, verbreitet von Can." Er zieht seine Augenbrauen hoch. "Warum?" Der Grund dafür erscheint mir so lächerlich. "Eine Kleinigkeit", gebe ich Augen verdrehend von mir. "Wie kam es dazu, dass Can so bekannt geworden ist?" Cihan zieht grübelnd seine Augenbrauen zusammen. "Keine Ahnung. Er war hier und plötzlich kannte man ihn. Wahrscheinlich hatte er schon früher hier in Hamburg Kontakte. Er ist ja nach dem Abschluss früh hier hin gezogen, soweit ich weiß, vielleicht auch deswegen." Ich nicke und trinke etwas von meinem Kakao. "Du hast deinen Traum also wahr gemacht?" Ich nicke lächelnd. Manchmal glaube ich es immer noch nicht, dass ich wirklich Medizin studiere. "Und du studierst Ingenieurwissenschaften?" Cihan nickt. "Und du kommst damit klar?" Wieder nickt er. "Und bei dir? Du musst bestimmt viel lernen." Augen verdrehend nicke ich. Wenn ich die Vorklinik hinter mir habe, bin ich eine Last los. Wir reden noch über so einiges, wobei mir aufgefallen ist, dass er keine ekelhaften Blicke mehr hat, wenn er mich anschaut. Er verhält sich normal und sehr zuvorkommend. Trotzdem darf ich ihm kein Vertrauen schenken. Da ist nur noch eine Frage, die ich gerne beantwortet haben möchte. "Cihan?" Er schaut mich abwartend an. "Du-, hast du noch etwas mit Drogen zu tun?" Er schluckt und spannt seinen Kiefer an. "Nein und daran erinnert will ich nicht mehr werden." Ich nicke und trinke zu Ende, bevor wir ausstehen. "Es war gut, dass wir geredet haben." Er nickt mich lächelnd an. Meine Jacke schließe ich fester um mich, da dieses Herbstwetter nichts für mich ist. Kaum zu glauben, dass ich nach den Vorfällen mich dazu bereiterklärt habe, mit Cihan normal zu reden. Er ist reifer und verantwortungsbewusster geworden. Ich schaue mich auf den Straßen um und sehe geradewegs in zwei gelbe Augen, in denen Wut schwimmt. Can steht mit geballten Fausten da und sieht mich und Cihan schon fast giftig an. Als dann Aleyna ihn anspringt und ich schnaube, laufe ich schneller und bin froh, dass Cihan nichts bemerkt hat. Ich habe gerade keine Lust, dass die beiden sich die Köpfe einschlagen. Stattdessen kann er sich doch mit Aleyna vergnügen!
Ich brauche ihn nicht!
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