Kapitel 39
Can
Seit gefühlten zwanzig Minuten habe ich Shanas Worten gelauscht, die mich sprachlos gemacht haben. Wie lange denkt sie schon so? Zum Teils machen mich ihre Worte wütend, aber irgendwie nehmen sie mich auch mit. Ramazan wollte sie ja zum schweigen bringen, doch da Shana zu stur ist, war es zu meinen Gunsten. Schweigend und verkrampft steht sie da und weiß nicht was sie machen soll. Schwer schluckend schaut sie zu Boden und seufzt. "Es ist wohl besser, wenn ich gehe", flüstert sie. Ramazan will sie aufhalten, doch Shana blockt ab. Sie wird hier sowieso nicht rausgehen. Im Flur halte ist sie fest, weswegen sie mich ängstlich anschaut. Ramazan schaue ich an, der schnell versteht und sich seine Autoschlüssel nimmt. "Bis später", murmelt er und schließt die Tür hinter sich. "Lass mich gehen", flüstert Shana und will sie losreißen. "Can, lass mich gehen." Ich schaue sie einfach nur starr an, während sie verzweifelt versucht sich zu befreien. Dabei müsste sie doch wissen, dass sie sich ohne meinen Willen nicht befreien kann. "Can, ich will gehen!", ruft sie nun und schaut mich wütend an. "Und ich will, dass du bleibst", erkläre ich ihr und sehe ihr in die Augen, was sie verstummen lässt. Nach wenigen Sekunden senkt sie ihren Blick und schaut schweigend zu Boden. Sie hat viele Fragen an mich, sehr viele. Wollte sie mich heute fragen und hat doch gekniffen? Wieso hat sie nichts zur Verfügung? Was meint Shana bloß? "Wie lange standest du da?", flüstert sie und fährt sich durch ihr braunes Haar. "Ich habe alles mitbekommen." Scharf zieht sie die Luft ein und räuspert sich. "Was willst du wissen?" Sie schüttelt ihren Kopf. "Ich will einfach nur gehen." Shanas Sturheit ist mal wieder mehr als unpassend. "Du willst doch in meinen Kopf sehen, wieso dann nicht jetzt?" Ich könnte ihr jetzt ruhig alles sagen, sie soll mich nur fragen! "Was hältst du von mir jetzt?" Ich komme ihr näher, während sie weiter nach hinten geht. "Du bist aufdringlich." Ich nicke. "Und sonst bin ich nett und zuvorkommend?" Sie funkelt mich finster an. "Du bist auch ein arrogante Arschloch, vergiss das bloß nicht!", zischt sie, was mich negativ stimmt. "Ich rede mit dir vernünftig, also tue dasselbe." Ich bemühe mich um einen ruhigen Ton, doch trotzdem entkommt meiner Stimme ein Hauch an Zorn. "Ich will einfach nur gehen, was verstehst du daran nicht?" Ruhig bleiben, Can. "Wieso musst du bei dem Gedanken einen Schritt weiter zugehen an Elif denken?" Sie lacht verächtlich auf. "Ist das dein Ernst?" Mein Kiefer spannt sich an, wegen Shanas verhalten. "Ich sage jetzt einfach gar nichts mehr. Du hast alles mitbekommen, dann brauchst du nur deinen Kopf etwas anstrengen und schon kriegst du all deine Antworten." Was ist auf einmal ihr Problem? Gerade hat sie noch darüber geredet, dass sie meine Gedanken lesen will und jetzt will sie mich nicht einmal sehen. Wie soll ich sie nur verstehen, wenn sie so widersprüchlich ist? "Shana, jetzt rede!" Sie schüttelt ihren Kopf. "Du weißt, dass du das hier zu einem Streit ausarten lässt?" Sie zuckt desinteressiert mit ihren Schultern. "Na und? Habe ich jetzt die Wette verloren? Okay, dann habe ich die Wette verloren, aber weißt du, wie es demnächst gar nicht zu einem Streit kommen kann?" Ich will es nicht hören. "Wenn wir uns für einige Wochen oder Monate aus dem Weg gehen." Sie lächelt, doch ich sehe ihr an, dass es sie selber verletzt. Wieso zum Teufel denkt sie so? Was ist in sie gefahren? "Shana, du weißt nicht, was du da sagst. Setz dich hin." Sie schüttelt ihren Kopf. "Lass mich einfach nur gehen, Can. Ich muss noch lernen." Wieso macht sie das? "Shana." Sie schüttelt wehleidig ihren Kopf, was mich resigniert seufzen lässt. Sie wird nicht reden. "Willst du wirklich gehen?", frage ich sie ruhig, woraufhin sie nickt. "Du willst mich also nicht mehr sehen?" Shana nickt diesmal zögernd. Meine Laune sinkt immer mehr und wird durch ein ekelerregendes Gefühl ersetzt. "Sag mir nur eins, Shana." Ich hebe ihr Kinn an, damit ich ihr tief in die Augen sehen kann. "Wieso willst du gehen?", hauche ich. Sie schaut an mir vorbei, anscheinend will sie es nicht sagen. "Sag mir die Wahrheit, Shana." Ich rede ganz ruhig, um sie nicht zu verschrecken oder sie wütend zu machen. Warum will sie gehen? Was habe ich ihr denn bitte getan, dass sie Abstand braucht? Sie blickt mich wieder an und atmet tief ein. "Um mich zu schützen, Can." Ihre Wasserlinie füllt sich mit Tränen. Danach lässt sie mich los und läuft aus der Wohnung. Sie will sich schützen. Ich lache auf und schüttele den Kopf. Wieso will sie sich schützen? Ich tue ihr doch nichts! Wieso denkt dieses Mädchen, dass ich sie verletzen will? Ich schneide mich lieber selbst, als sie bluten zu sehen! Sie hat zu viel Angst. Hat sie deswegen auf dem Abschlussball meine Gefühle nicht erwidert? Weil sie Angst hatte? Sie hat immer noch Angst davor, dass ich sie benutze? Dieser Fakt lässt mich wütend werden. Sie soll aufhören so zu denken! Wie oft soll ich ihr noch zeigen, dass sie etwas besonderes ist? Dass ich mir mehr vorstellen kann und dass ich mehr will? Ich will sie, doch ich kriege sie nicht, da Shanas Schutzmauern sich immer verdoppeln. Sie muss sich doch nur einmal darauf einlassen. Ich weiß doch, dass da mehr zwischen uns ist, sonst hätte ich ja nicht diese komischen Gefühle im Brust- und Bauchbereich. Es würde sich doch nicht umsonst so ekelig anfühlen, wenn sie mich verletzt. Es wäre doch nicht normal, wenn sie es überhaupt schafft, mich mit einfachen Worten zu verletzen. Wieso muss Shana immer so misstrauisch sein? Ich versuche immer etwas, damit wir uns näher kommen, doch anscheinend will es nicht nur Shana nicht, nein, das gute Schicksal will es also auch nicht. Wer will es dann? Will es Gott? Ich will es! Reicht das nicht? Was muss ich machen, nur um ihr Herz zubekommen? Will sie mich überhaupt? Mir wird langsam schlecht. Sie will nicht mehr, ist es das? Das kann doch nicht sein. Wieso wollte sie mich dann küssen? Einfach nur so? Das kann doch nicht sein, Shana würde ihren ersten Kuss doch nicht sinnlos verschwenden.
Ich setze mich stumpf aufs Sofa und schließe meine Augen. Es ist unglaublich, dass ein einfaches Mädchen es schafft, mich so aus der Fassung zu bringen. Nein, Shana ist kein einfaches Mädchen. Sie ist alles andere als einfach. Sie ist ein Unikat. Widerspenstig, wild, mutig und liebevoll. Sie hat gutes in ihrem bösen und böses in ihrem guten. Hat das Böse aus ihr gesprochen? "Fuck!", fauche ich. Es reicht doch langsam! Wieso muss ich immer alles machen? Wieso kann sie mir nicht zeigen, dass sie möglicherweise dasselbe fühlt? Weil sie möglicherweise nicht dasselbe fühlt. Ich kicke den Wohnzimmertisch zur Seite und seufze frustriert. War alles umsonst? Habe ich alles wirklich umsonst getan? Hat Shana wirklich all meine Hoffnungen zerstört? "Okay." Trocken lache ich. "Dann ist es halt so!" Ich werde langsam hysterisch. "Dann ist es vorbei!", brülle ich. "Es ist mir egal!" Ich haue auf den Tisch und spüre, wie meine linke Hand zittert. "Es ist nicht egal", flüstere ich und schlucke. Ramazan kommt wieder rein und lächelt mich vorsichtig an. "Sie wollte nicht bleiben?" Ich schnalze mit meiner Zunge. "Sie will Abstand", gebe ich abwertend von mir und seufze. "Ramazan, ich habe langsam keine Lust mehr." Er sieht mich schluckend an. "Ich kann doch nicht immer alles alleine machen! Wenn sie nichts macht, dann heißt es doch, dass sie kein Interesse hat." Er schüttelt den Kopf. "Sie hat nur Angst." Ich erhebe mich. "Denkst du, ich habe keine Angst? Habe ich keine Angst, sie ein zweites Mal zu verlieren? Ich habe vor zwei gottverdammten Jahren geträumt, dass ich sie verliere, was dann auch passiert ist. Ich habe Verlustängste, Ramazan!", gebe ich verzweifelt von mir und raufe mir meine Haare. "Dieses Mädchen raubt mir den letzten Nerv, ich kann bald nicht mehr!" Ich schließe meine Augen und versuche meine Atmung zu regulieren. "Vielleicht tut dieser Abstand euch gut." Entgeistert schaue ich ihn an. "Du musst nichts machen, außer nachzudenken." Er zuckt mit seinen Schultern und fährt sich durch seine Haare. "Ich weiß, dass du seit Shanas Verlassen an nichts anderes denken kannst, aber egal wie komisch sich das jetzt anhört, du musst sie irgendwie verstehen." Ich ziehe fragend und verzweifelnd die Augenbrauen zusammen. "Sie hat ebenfalls Angst. Sie würde bei dem Verlust am Boden zerstört sein." Ich schüttele den Kopf. "Ich will ihr aber nichts tun! Wieso will das keiner verstehen?! Wieso sieht Shana das Schlechte und nicht das Gute in mir?!", rufe ich. Ich will sie doch nur bei mir haben, mehr verlange ich seit Jahren nicht! "Ich weiß, dass du ihr nichts tun willst, aber Shanas Angst ist nun mal stärker. Da hilft zur Zeit nichts, außer zu warten." Er legt einen Arm um mich und drückt aufmunternd zu. "Das wird schon, glaub mir. Ihr seid sooft auseinander gegangen und seid wieder zusammengekommen. Eure Sehnsucht ist stärker, als eure Sturheit." Ich fahre mir über mein Gesicht und schüttele den Kopf. "Was, wenn ich keine Kraft mehr habe?" Ramazan schüttelt den Kopf. "Denk nicht so. Dein Wille ist zu stark. Er ist vielleicht etwas geschwächt, aber dafür ich ja diese Pause da." Leicht schmunzelt er. "Mein lieber Scholli, dich hat es ja richtig erwischt." Er steht auf und läuft zum Küchentisch. "Willst du was von KFC?" Ich schüttele den Kopf. "Ich habe gerade null Appetit." Ich fahre mir ein weiteres Mal über mein Gesicht. "Ich geh eine Runde schlafen."
Ich sehe Ramazan an, dessen Mund voller Fleisch ist und schmunzele leicht. "Ja, mach das." Er spuckt fast das Essen aus, hält es aber noch zurück, während er nickt. Langsam stehe ich auf und schließe die Tür meines Zimmers, bevor ich mein T-Shirt ausziehe und meine Hose gegen eine Jogginghose tausche. Beim herausziehen der Hose, fällt Shanas T-Shirt hin. Langsam hebe ich es auf und starre es an. Es hat sie verwirrt, dass ich nicht wollte, dass sie dieses T-Shirt anzieht. Dabei wollte ich einfach nur, dass sie - wenn sie schon Sachen aus der Männerabteilung trägt - meine Sachen anziehen soll. Es lässt mich gut fühlen, wenn ich weiß, dass ich theoretisch bei ihr bin, auch wenn ich körperlich woanders bin. Es soll ihr Schutz vermitteln und Geborgenheit. Ich tue es zurück in den Schrank und lege mich seufzend auf mein Bett. Ramazan hat recht. Mein Wille ist nur etwas geschwächt. Er braucht Pause vom ganzen, also kommt diese Distanzierung doch recht. Trotzdem will ich mich nicht von ihr fernhalten. Wenn sie es nicht will, wieso sollst du es dann wollen? Ich weiß es nicht. Seit wann rennst du jemanden hinterher und das schon seit Jahren? Ich schnalze genervt mit meiner Zunge. Wenn man auch das erste Abiturjahr mitzählt, dann sind es schon fünf Jahre. Aber hatte ich von Anfang an Gefühle für sie? Ich musste immer an sie denken, aber weil sie so stur und frech war. Dennoch war sie schon damals anziehend. Sie hat dieses Magische an sich, dieses Etwas, das ich nicht beschreiben kann. Gott, wie sehr ich mir wünsche zu wissen, was sie denkt, was sie früher gedacht hat, was sie jeden Tag, an dem sie an mich denken musste, gedacht hat. Ist da, wo viel Gefühl ist, auch viel Leid? Zerbreche ich mir gerade den Kopf? Ja. Kann ich damit aufhören? Nein. Und wieso? Weil mir Shana einfach nicht aus dem Kopf geht. Vor fünf Jahren hat sie sich eingenistet und hat von Zeit zu Zeit immer mehr Platz eingenommen. Würde sie jetzt hier sein und meine Gedanken lesen können, würde sie mir Raten zum Neurologen zugehen, da ich einen invasiven Tumor möglicherweise hätte. Sie will die Liebe einfach nicht sehen, weil sie Angst vor dem Verlust hat. Das ist ja das, was uns behindert. Wie lange soll ich es denn noch versuchen? Irgendwann werde auch ich keine Kraft mehr haben. Ich will nicht aufgeben, aber ich will auch nicht immer derjenige sein, der alles machen muss, wenn ich nicht einmal die Bestätigung habe, dass sie ebenfalls so fühlt, wie ich es tue. Seufzend hole ich meine Kette unter dem Kissen hervor und schraube den oberen Teil der Patrone ab, um den Inhalt rauszuholen. Es sollte mich eigentlich immer Glücklich stimmen, aber gerade würde auch das hier mir nicht weiterhelfen. Ich könnte es wegschmeißen, auch wenn ich es bereuen würde, da es wertvoll ist. Ich könnte mir ja jederzeit etwas neues und besseres besorgen, aber irgendwie ist mir das hier auch am wertvollsten. Es wäre zu Schade, wenn ich es entsorgen würde. Nachdenklich fahre ich mir damit über meine Lippen und tue es dann wieder zurück in die Patrone, bevor ich es dann wieder unter mein Kissen schiebe. Manchmal lenkt es mich von Tatsachen ab, jedoch konnte es mir gerade nicht helfen. Was Shana wohl davon halten würde, wenn sie wüsste, was sich in der Patrone befindet? Würde sie mich schief ansehen? Sich von mir distanzieren? Meine Fragen werden mir sowieso nicht beantwortet. Jedenfalls nicht von der Person, von der ich die Antworten erhalten will. Vielleicht ist es auch besser so. Vielleicht würde mich die Wahrheit nur kränken.
Vielleicht sollte ich mich mit der Distanzierung anfreunden.
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Süß, dass viele dachten, dass jetzt alles geklärt wird und sie zusammenkommen. Anscheinend habt ihr vergessen, dass ich gerne Menschen verarsche und leiden sehe, MUHAHAHAHAAHA
-Helo
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